Zusammenfassung
Johannes Stehr denkt informiert „Über einige Bedingungen von biographischer Forschung als widerständiger Praktik“ nach. Dabei macht er gut begründet auf herrschaftsstabilisierende Fallstricke aufmerksam, die einer problemaffirmativen Biografieforschung inhärent sind und die dazu geeignet sind, gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche mit denen Menschen konfrontiert sind und die sie eigenwillig zu bewältigen versuchen, tendenziell zu entpolitisieren und zu individualisieren. Konsequent verweist der Autor auf hegemoniale (Problem)Diskurse als zentralen Kontext für die Produktion von Biografien in Forschungssituationen und arbeitet methodologische Herausforderungen heraus, denen sich eine Kritische Sozialarbeitsforschung zu stellen hat, wenn sie unter Verwendung biographischer Forschung ihrem Anspruch einer politisierten, gesellschaftskritischen Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit gerecht werden will.
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Notes
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Mein Interesse gilt in diesem Beitrag ausschließlich der Forschung. Die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit, in deren Kontext Biographien generiert werden, wäre gesondert zu untersuchen, da hier Erzähl- und Verwendungssituationen verbunden werden, die auf die grundlegenden Widersprüche Sozialer Arbeit zu beziehen sind (vgl. Schefold 2006). Zur Frage, welche Arbeitsbündnisse die rekonstruktive Sozialarbeitsforschung im Verhältnis zur professionellen Praxis eingeht und welche Konsequenzen das hat vgl. Schimpf und Stehr 2012b.
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Schützes Annahme einer Homologie von gelebtem und erzähltem Leben und das damit einhergehende Konzept einer fixen Identität, deren Entwicklung in der autobiographischen Steggreifentwicklung rekapituliert wird, ist vielfach kritisiert worden (vgl. Nassehi und Saake 2002; Reh 2003; Scholz 2004). Obwohl sich die neuere Biographieforschung von dieser Homologiethese weitgehend distanziert hat, zeigen sich doch Kontinuitäten bei der Methode der biographischen Fallrekonstruktion (vgl. Rosenthal 1995; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997), bei der es darum geht, die „erzählte“ Lebensgeschichte mit der „erlebten“ Lebensgeschichte zu kontrastieren, um auf diese Weise rekonstruieren zu können, was Menschen in der Vergangenheit erlebt haben und wie sich dies auf die Gestalt der aktuellen Biographie auswirkt. Es wird folglich weiterhin davon ausgegangen, dass vergangene Ereignisse und Abläufe über die Generierung von Erzählungen grundsätzlich rekonstruierbar sind (zur Kritik vgl. Nassehi und Saake 2002).
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Das publizierte Interview- und Interpretationsmaterial gibt interessanterweise einige Hinweise darauf, wie sich verdinglichende Kategorisierungen vermeiden lassen, z. B. dadurch, dass das Fragen nicht institutionell gerahmte und kategorisierte Sichtweisen auf Handlungen reproduziert (Fragen nach Delikten im Kontext des Kriminalitätskonzepts), sondern offen ist für konkrete, konflikthaft verlaufende Interaktionssituationen im Alltag (Rosenthal et al. 2006, S. 196 ff.).
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Thielen (2009) arbeitet unterschiedliche Typen von Interviewsituationen heraus: das Interview als Anhörung, als potenziell retraumatisierende Situation, als sozialarbeiterisches Anamnesegespräch und als therapeutisches Setting.
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Stehr, J. (2015). Über einige Bedingungen von biographischer Forschung als widerständiger Praktik. In: Dörr, M., Füssenhäuser, C., Schulze, H. (eds) Biografie und Lebenswelt. Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit, vol 20. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03835-9_8
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