Zusammenfassung
Der Lebensstilansatz wird in einer Vielzahl soziologischer Arbeitsfelder mit unterschiedlichen Ansprüchen eingesetzt: Lebensstile sollen Personengruppen beschreiben sowie Einstellungen, Handlungen, Interaktionsverläufe und Erkrankung erklären. Zudem soll der Ansatz die klassische Sozialstrukturanalyse ergänzen oder gar ersetzen. In der deskriptiven empirischen Lebensstilforschung belegen mehrere Untersuchungen, dass Gruppen durch ihre Lebensstile unterscheidbar sind, und in vielen mikrosoziologischen Studien wird eine enge Beziehung zwischen sozialer Ungleichheit und Lebensstilen nachgewiesen. Des Weiteren bestätigen empirische Untersuchungen einen Einfluss von Lebensstilen auf Erkrankungen und Interaktionen. In diesen Bereichen wird der Anspruch des Ansatzes durch empirische Studien abgedeckt, in anderen Bereichen hingegen sind Defizite erkennbar. Zum Teil wird der Anspruch vertreten, der Lebensstilansatz könne das vertikale Paradigma ablösen, weil in individualisierten Gesellschaften Handlungen besser durch Lebensstile als durch Merkmale der sozialen Ungleichheit erklärt würden. Allerdings zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung in zwei bundesdeutschen Städten beispielhaft, dass die Beziehung zwischen Lebensstilen und Handlungen eine Scheinkorrelation ist, die durch Wertorientierungen als gemeinsame Ursache von Lebensstilen und Handlungen entsteht. Dies legt die Vermutung nahe, dass nicht Lebensstile handlungsrelevant sind, sondern Wertorientierungen, und der Lebensstilansatz nicht in der Lage ist, das vertikale Paradigma zu ersetzen. Insgesamt gesehen kann für die empirische Lebensstilforschung zumindest partiell eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit konstatiert werden.
Abstract
The lifestyle approach raises various claims: lifestyles are capable of describing groups of persons, as well as explaining attitudes, actions, interactions and diseases. In addition, the approach claims to complete or even replace the classical analysis of class structure. In the descriptive empirical lifestyle research several investigations show evidence that groups can be distinguished by their lifestyles. In many microsociological studies, too, a close relation between social inequality and lifestyles is shown. In addition, empirical studies confirm the influence of lifestyles on diseases and interactions. In these areas, the claim of the approach is covered by empirical studies. In other areas, however, deficits of the lifestyle approach can be seen. A central claim of the lifestyle approach is to supersede the vertical paradigm since in individualized societies actions may be better explained by lifestyles than by characteristics of social inequality. However, results of investigations in two German cities show that the relation between lifestyles and social action is a spurious correlation resulting from value orientations being common cause of lifestyles and actions. It can thus be supposed that not the lifestyles are action-relevant but only the value orientations, and that the lifestyle approach is not in a position to replace the vertical paradigm. In sum, for the empirical lifestyle research a discrepancy can be noticed between claim and reality.
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Der Beitrag ist eine erweiterte Fassung des Habilitationsvortrages vom Sommersemester 2002 an der Fakultät für Sozial-und Verhaltenswissenschaften der Universität Heidelberg.
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Hermann, D. Bilanz der empirischen Lebensstilforschung. Koelner Z.Soziol.u.Soz.Psychol 56, 153–179 (2004). https://doi.org/10.1007/s11577-004-0007-2
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