Entwicklung und Neurologie

Im Säuglings- und Kleinkindalter sind beides, Entwicklung und Neurologie, äußerst dynamische Prozesse. Da sowohl biologisch-genetische Reifungsprozesse im Gehirn als auch die unter den sensomotorischen Wechselwirkungen sich verändernden neuronalen Netzwerke den individuellen Entwicklungsverlauf bestimmen, müssen neurologische Befunde und Entwicklungsphänomene sehr variabel sein. Eine topische zentrale Zuordnung von neurologischen „Symptomen“ ist in diesem Alter häufig (noch) nicht möglich. Auffälligkeiten lassen sich nur an relativ allgemeinen Phänomenen wie Muskeltonus, Asymmetrien, Aktivitätsniveau und Entwicklungsparameter ablesen, sodass insbesondere die Beobachtung der Qualität einer Aktivität von entscheidender diagnostischer Wichtigkeit ist [7].

Besonders problematisch für die entwicklungsneurologische Beurteilung sind sog. transitorische Phänomene, die sich in Asymmetrien, Veränderungen im Muskeltonus, Hyper- oder Hypoexzitabilität eines Säuglings oder auch in der Ausprägung von angeborenen frühkindlichen Reflexen und Reaktionen äußern können [13]. So gibt es Phänomene, die sich – scheinbar pathologisch – im Entwicklungsverlauf „von allein“ normalisieren, aber auch Phänomene, die zu einem bestimmten Alter des Säuglings als normal, zu einem späteren Alter aber als pathologisch bewertet werden müssen (z. B. Babinski-Reflex, Moro-Reaktion).

Hirnentwicklung und frühe Funktionen

Dank der modernen Ultraschalltechnik lassen sich bereits intrauterin äußerst detaillierte Filmaufnahmen von Feten machen, die uns sehr genau darüber Aufschluss geben, zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft bestimmte Aktivitäten und Fähigkeiten sichtbar werden [1]. Wir können bereits in der 7. bis 8. Schwangerschaftswoche (SSW) erste Bewegungen erkennen, ab der 14. SSW dann schon ein breit gefächertes Bewegungsrepertoire, z. B. in Rumpf und Nacken sowie in Armen und Beinen. Das kindliche Strampeln erspürt die Mutter meist in der 16. bis 18. SSW. Offene Hände und Fußbewegungen sind wichtige Parameter bei den Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft. Sensorische Wahrnehmungskanäle reifen und entwickeln sich unter dem Eindruck der eigenen Bewegungen weiter, auch aus der intrauterinen Umgebung erfahren Feten Reize zum Spüren, Schmecken und Hören. Emotionen werden ebenso über die mütterlichen Hormone vermittelt.

Wie wird wohl das Entstehen der eigenen Gefühlswelt vom Kind erlebt? Klar ist heute, dass ein Neugeborenes bereits eine Vielzahl individueller intrauteriner Erfahrungen mitbringt und ein individuelles Lernen in den zu dieser Zeit bereits existierenden und funktionierenden neuronalen Netzwerken möglich ist.

Die früher vorherrschende Vorstellung, das Neugeborene sei ein reines Reflexwesen, ist inzwischen überholt. Ihr kann heute basierend auf wissenschaftlichen Belegen die Auffassung eines bereits intrauterin selbst aktiven Kindes gegenübergestellt werden. Danach kreiert und installiert dieses mit seiner individuellen Genetik, seinen Eigenaktivitäten und den sich daraus ergebenden Wechselwirkungen zwischen innerer affektiver und äußerer sensomotorischer Welt seine individuellen neuronalen Netzwerke [3].

Neuronale Netzwerke

Neuronen und bestimmte Neuronengruppen sind eigenaktive Zellen. Sie „feuern“ von sich aus und setzen damit weitere Aktivitäten und Reaktionen in Gang. Neuronale Netzwerke sind Funktionsnetze von Neuronengruppen, die teilweise genetisch vorprogrammiert, quasi als eine menschliche Erstausstattung, entstehen, um z. B. primäre, äquilibrierende zentrale Systeme zu schaffen, die für das Überleben in der neuen, extrauterinen Welt notwendige Voraussetzung sind. Dazu gehören

  • Kontrolle der Verhaltenszustände,

  • Kontrolle der Reizschwelle des zentralen Nervensystems (ZNS),

  • Stabilisierung der Symmetrie von Haltung und Bewegung,

  • Kontrolle eines mittleren/angepassten Muskeltonus,

  • Ökonomisierung/Perfektionierung motorischer Aktivitäten sowie

  • Sicherstellung einer kontinuierlichen Entwicklung (Motorik, Sprache, Kognition, sozioemotionale Kompetenz).

„Cortical networks are the engine of the brain“ [10], d. h. die neuronalen Netzwerke sind Motoren des Gehirns, um zunächst die überlebenswichtigen Funktionen bereitzustellen. Sie verändern sich adaptiv durch reziproke Verschaltungen („reentry“) unter den Einflüssen der Reifung, der individuellen kindlichen Erfahrungen in der Entwicklung und der individuellen Wechselwirkungen in utero, bei der Geburt, in der Neonatalzeit und danach [3]. Um ihre Ziele optimal und ökonomisch zu gewährleisten, sind ihre adaptiven Fähigkeiten lebenslang aktiv und ermöglichen beispielsweise motorische oder kognitive Hochleistungen, wie Ballett, Sport, Klavierspiel, Schachspiel u.v.m.

Störungen im Aufbau und in der Weitentwicklung dieser Systeme führen zu – in diesem frühen Alter meist noch unspezifischen – neurologischen Befunden. Inwieweit diese Symptome transitorisch sind, lässt sich meist nur retrospektiv beurteilen.

Neurologische Befunde sind keine Diagnosen

Hinter neurologischen Befunden im Säuglings- und Kleinkindalter können sich sehr unterschiedliche Dinge verbergen:

  • Variationen der Entwicklung;

  • Lernprozesse/neuronale Umstrukturierungen in der Entwicklung;

  • Dysfunktionen ohne spezifischen Krankheitswert, die in einem förderlichen Umfeld toleriert und ohne negativen Einfluss auf die Gesamtentwicklung und Gesamtpersönlichkeit eines Kindes bleiben oder die in eine Sackgasse der individuellen Entwicklung oder innerfamiliären Interaktionen führen können;

  • Frühsymptome von Krankheiten und Entwicklungsstörungen.

Sie sind in diesem Alter abzulesen, z. B. in der

  • Verhaltensorganisation (Schreien, Schlaf-Wach-Rhythmus),

  • Balance des Muskeltonus (Hypo-, Hypertonien),

  • Regelung zentraler Reizschwellen (Hyper-, Hypoexzitabilität),

  • Balance der Symmetrie (Asymmetrien in Haltung und Bewegung) sowie

  • Integration früher motorischer Automatismen (Moro-Reaktion, asymmetrischer tonischer Nackenreflex) oder angeborener sensomotorischer Programme in die pyramidale Motorik (Greifrektion, Stehbereitschaft).

Für die entwicklungsneurologische Diagnostik und Beurteilung eines neurologischen Befunds ist aber von entscheidender Bedeutung, ob es sich um Variationen, Lernprozesse, Dysfunktionen oder Frühsymptome von z. B. Stoffwechselkrankheiten, genetischen Syndromen, zerebralen Fehlbildungen, Läsionen oder akuten Prozessen handelt. Denn die diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen daraus sind höchst unterschiedlich!

Plastizität, Reorganisation, Kompensation

Die adaptive Plastizität des Gehirns ist wie geschildert ein Wunderwerk, um das kindliche Überleben und die Existenz des individuellen Menschen bestmöglich zu sichern. Allerdings haben sich die euphorischen Erwartungen, die an die Wirksamkeit bestimmter Entwicklungstherapien geknüpft wurden, nicht erfüllt. Denn auch eine ganz frühe, perfekt abgestimmte und maximal häufig wiederholte Forcierung von primären Abläufen, z. B. der Lokomotion, kann die Folgen von frühen Fehlbildungen des Gehirns, Läsionen oder geschädigten Bahnen nicht verhindern. So kann man heute – ohne daraus einen therapeutischen Nihilismus abzuleiten – eher von der Vorstellung ausgehen, dass in der Zeit der frühen Gehirnentwicklung Fehlbildungen, Läsionen und Belastungen, die sich in den neuronalen Netzwerken abbilden, zu ganz unterschiedlichen Reorganisationen und Kompensationen führen können. Das Gehirn löscht keine Läsionen und keine Erfahrungen. Eigenaktivitäten und Anregungen von außen, die wiederum die Eigenaktivitäten verändern, können nur (und das tun sie, wie wir heute wissen, tatsächlich) auf der bestehenden Läsion und den bestehenden neuronalen Netzwerken aufbauen und kompensatorische Wege entwickeln [17].

Beispielsweise sind zu beobachten:

  • begrenzte Kompensationsmöglichkeiten bei frühen komplexen Gehirnfehlbildungen, wie Hemimegalenzephalie, Lissenzephalie, Heterotopien, Corpus-callosum-Agenesie;

  • je nach Lokalisation und Größe sehr unterschiedliche Reorganisationsmechanismen bei angeborenen Hemiparesen in Abhängigkeit von ipsi- oder kontralateraler Repräsentation bzw. Shifts [16];

  • je nach Belastung und individuellem Belastungserleben veränderte neuronale Netzwerke im Stress-Schmerz-Regelkreis bei Frühgeborenen mit möglichen späteren Folgen der Stressregulation [4] und verändertem Autonomiestreben bis zum frühen Erwachsenenalter („no risky lifes“; [5]);

  • begrenzte Kompensations- und Veränderungsmöglichkeiten der Bindungsrepräsentation, die Säuglinge als inneres Arbeitsmodell im 1. Lebensjahr zu ihren Hauptbezugspersonen entwickeln und die kontextunabhängig ein Leben lang anhält [6].

In Anbetracht der hohen Komplexität der verschiedenen Einflussvariablen leuchtet ein, dass es nach wie vor schwierig ist, sichere Korrelationen zwischen morphologisch sichtbaren ZNS-Befunden und deren funktionellen Auswirkungen bzw. deren konkreten Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung herzustellen.

Genau diesen Anspruch an spezifische Therapie- und Förderansätze zu stellen, ist der Weg, um aus den individuell möglichen kompensatorischen neuronalen Prozessen Ansatzpunkte für erfolgreiche Interventionen herauszuarbeiten.

Entwicklungskonzepte

Die Theorie einer linearen, hierarchisch determinierten Entwicklung (Abb. 1), nach der definierte Entwicklungsstufen schrittweise zeitlich und hierarchisch geordnet ablaufen, geht zurück auf amerikanische Forschungsarbeiten der 1930er bis 1950er Jahre. Die damals erhobenen Befunde und ihre Umsetzung in Entwicklungsleitern und -tests basierten auf gebildeten Mittelwerten zu bestimmten Items der Entwicklung. Sie beschrieben damit ausschließlich die häufigen Entwicklungsphänomene und entwickelten die Grundlage für zahlreiche etablierte Entwicklungstests, wie Gesell-Test, Bayley-Test, Griffith-Test, Denver-Test, Münchener funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED).

Abb. 1
figure 1

Beispiel für eine ziemlich linear verlaufende motorische Entwicklung vom Liegen bis zum freien Gehen. (Aus [11], mit freundl. Genehmigung R. Michaelis)

Für die Entwicklungsbeurteilung und Planung der nächsten Förder- und Therapieschwerpunkte stellt ein lineares, hierarchisches Entwicklungsmodell eine geradezu ideale Basis dar. Da jeder Entwicklungsschritt zu einem festgelegten Zeitpunkt und in einer bestimmten Reihenfolge absolviert werden muss, ergibt sich automatisch, dass jede Entwicklung, die diesem strengen Ablauf nicht folgt, als auffällig oder pathologisch zu bewerten ist. Alle individuellen Variationen oder adaptiven Varianten werden als Auffälligkeit oder Störung definiert (d. h. viele falsch-positive Treffer). Die Erfolge von Förderung und Therapien sind bei dieser Indikationsstellung hoch, da ja viele Kinder erfasst wurden, deren Befunde ursprünglich Normvarianten darstellten.

Aus der Praxis wussten Eltern und Kinderärzte schon immer, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln. Doch erst als sich in wissenschaftlichen Forschungsarbeiten das Augenmerk auf individuelle Entwicklungsverläufe gesunder Kinder richtete, war die Verwunderung groß: Es zeigten sich scheinbar chaotische und völlig unberechenbare Verläufe der motorischen Entwicklung eines individuellen Kindes vom Liegen bis zum freien Gehen (Abb. 2). Die individuellen Bevorzugungen eines Kindes, z. B. beim Drehen von der Rücken- in die Bauchlage oder umgekehrt, die Freude am Sitzen oder Krabbeln oder der Drang zur Vertikalisierung auf sehr unterschiedlichen Wegen drücken sich darin aus. Sie sind letztlich die Wechselwirkungen der Eigenheiten des Kindes im Kontext seiner jeweiligen Umgebung. Die „normale“ Entwicklung ist ein maximal ökonomisches Ergebnis des Zusammenspiels dieser Faktoren.

Abb. 2
figure 2

Beispiel für einen „untypischen“ individuellen Entwicklungsverlauf eines gesunden Kindes bis zum freien Gehen. (Aus [11], mit freundl. Genehmigung R. Michaelis)

Definition einer „normalen Entwicklung“

Das Wissen um die große Variabilität der kindlichen Entwicklung macht es schwer, wenn nicht unmöglich, die Normalentwicklung exakt so zu definieren, wie es für eine einfache, mit wenigen Parametern durchführbare entwicklungsneurologische Diagnostik praktisch wäre. Statt linearer Entwicklungsstufen gibt es Bandbreiten in allen Entwicklungsparametern und ebenso unterschiedliche Bandbreiten derselben Entwicklungsparameter in unterschiedlichen Kulturen.

Interindividuelle Variabilität.

Interindividuelle Variabilität bedeutet unterschiedlich schnelle Entwicklung, z. B. Größenwachstum, freies Gehen zwischen 8 und 18 Monaten, erste 3 Wörter zwischen 10 und 21 Monaten, vertikales Bauen zwischen 16 und 30 Monaten [9]. Unterschiedliche Wege führen zum selben Ziel, z. B. 70 % der Kinder wechseln als Erstes von der Rücken- in die Bauchlage, 30 % der Kinder von der Bauch- in die Rückenlage, ca. 80 % der Kinder krabbeln, ca. 20 % finden differente Wege zum freien Gehen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Viele Wege führen zum Ziel. Verläufe der motorischen Entwicklung vom Liegen bis zum freien Gehen. Die roten Pfeile verweisen auf häufige, die gelben auf weniger häufige normale Entwicklungsverläufe. (Aus [14], mit freundl. Genehmigung R. Michaelis)

Intraindividuelle Variabilität.

Intraindividuelle Variabilität bedeutet diskontinuierliche Entwicklungsverläufe mit transitorischen Regressionen [18] sowie unterschiedlich schnelle Entwicklung von Entwicklungsbereichen bei einem Kind, z. B. Motorik versus Sprache.

Interkulturelle Variabilität.

Interkulturelle Variabilität bedeutet in der Konsequenz, dass für bestimmte Regionen normierte Tests nicht aussagekräftig auf Kinder anderer Kulturen angewendet werden können.

Intrakulturelle Variabilität.

Intrakulturelle Variabilität hat sich kürzlich bei der Neunormierung des Entwicklungstests für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren (ET 6-6) gezeigt. Dabei wurde festgestellt, dass die durchschnittliche motorische Leistung von Kindern in Deutschland in den letzten 30 Jahren um eine Standardabweichung nach unten abgesunken ist (T. Macha, persönl. Mitteilung).

Variabilität in der Entwicklung evolutionär „gewollt“

Überall auf der Welt gelingt trotz der individuell unterschiedlichen Verhaltensweisen, die sich kultur- und zivilisationsabhängig entwickelt haben, meist eine rasche und zuverlässige Passung zwischen Mutter, Eltern, Bezugspersonen und einem Neugeborenen oder Säugling. Ziel dabei ist, das Überleben des Kindes zu sichern und dieses wiederum passend für die soziale Gemeinschaft, in die es hineingeboren wurde, handeln zu lassen.

Neugeborene und Säuglinge sind mit einem reichen Schatz an Signalen und Verhaltensweisen zur Beziehungsaufnahme ausgestattet, die bei Bindungspersonen Fürsorgeverhalten auslösen. Doch ein starres biologisches Programm allein würde nicht genügen, damit sich ein individuelles Kind und eine individuelle Mutter/Bindungsperson optimal aufeinander einstellen. Denn Bindung muss auch unter variablen „Alltagsbedingungen“ gelingen. Bindungspersonen dürfen mitunter müde, beschäftigt, krank sein oder vorübergehend ausfallen, und Babys dürfen manchmal mehr oder weniger aktiv, irritabel, krank oder lethargisch sein. Entscheidend ist, dass trotz herausfordernder Situationen die Passung immer wieder gelingt, damit sich ein neuronales „Skript“ für gelingende Interaktionen und positive Beziehungen entwickeln kann. Interaktionen zwischen Kindern und Bezugspersonen sind nicht überall gleich. Sie folgen den gesellschaftlichen Gegebenheiten und kulturellen Vorstellungen [8]. Das genetische kindliche Repertoire ist im Verhalten wie in der Sprache zunächst universal. So ist beispielsweise in den ersten Lebensmonaten das muttersprachliche Erlernen jeder menschlichen Sprache möglich. Schon in dieser Phase verändert die vorherrschende Umgebungssprache die Wahrnehmung des Kindes gegenüber bestimmten Lauten und Lautkombinationen. Damit geht eine Anpassung und Spezialisierung einher, die das Kind für die soziale Umgebung, in die es hineingeboren wurde, optimiert und universale Optionen dafür absterben lässt.

Antrieb für den Säugling ist der biologisch gesicherte Drang zur Beziehungsaufnahme, zur Bindung und Teilhabe; Handwerkszeug dafür ist Imitation. Darin drückt sich der elementare Wunsch des Kindes aus, dazuzugehören, d. h. zu den Bezugspersonen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft, in die es hineingeboren wird. Die Motoren oder, wie wir sie auch nennen, Generatoren der kindlichen Entwicklung ermöglichen extrem dynamische Prozesse, um eine optimale, individuelle Anpassung eines Kindes an seine Umwelt sicherzustellen.

Entwicklungsneurologische Diagnostik

Normal ist die Vielfalt! Wo sind die Grenzen der Variabilität? Wie finden wir Entwicklungsauffälligkeiten, wie die Entwicklungsstörung?

Grenzsteinkonzept

Bisher orientierte sich die Entwicklungsbeurteilung von Kindern an der 50 %-Perzentile einer Gaußschen-Verteilung (Abb. 4). Die sog. Meilensteine der Entwicklung beschreiben, zu welchem Zeitpunkt bzw. in welchem Zeitfenster die Mehrzahl von Kindern eine bestimmte Entwicklungsaufgabe meistert. Um Kinder mit grenzwertigen Entwicklungsauffälligkeiten zu erfassen, ist die 50 %-Perzentile jedoch gänzlich ungeeignet.

Abb. 4
figure 4

Unterschied zwischen Meilenstein (blauer Bereich um die 50 %-Perzentile) und Grenzstein (roter Pfeil an der 90–95 %-Perzentile) in der Bewertung der kindlichen Entwicklung. (Mit freundl. Genehmigung R. Michaelis)

Das Grenzsteinkonzept reduziert die Entwicklungsbeobachtung zunächst auf essenzielle Items in der Entwicklung und bewertet dann – im Unterschied zu den Meilensteinen – erst als auffällig, wenn Kinder definierte Entwicklungsitems an der 90–95 %-Perzentile nicht erfüllen. An dieser Stelle (Abb. 4) ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sich Kinder mit Entwicklungsstörungen finden lassen, das Risiko von zu vielen falsch-positiven Ergebnissen (s. vorne) ist hingegen minimal.

Die kindliche Entwicklung hat viele Dimensionen. Daher wurden im Grenzsteinkonzept Entwicklungspfade gewählt und essenzielle Entwicklungsitems als Grenzsteine definiert, die relevant für eine Entwicklungsbeurteilung in einem bestimmten kulturellen Kontext sind. Die ausgewählten Items greifen zudem Entwicklungsphänomene auf, die für ein einfaches und systematisches Beobachten und Beschreiben geeignet sind.

Folgende Entwicklungspfade werden in den Grenzsteinbögen (Abb. 5) erfasst:

  • Entwicklung der Körpermotorik,

  • Entwicklung der Hand-Finger-Motorik,

  • Sprach- und Sprechentwicklung,

  • Kognitive Entwicklung,

  • Entwicklung der sozialen Kompetenz,

  • Entwicklung der emotionalen Kompetenz,

  • Ich-Entwicklung,

  • Entwicklung der Selbstständigkeit,

  • Entwicklung der Körperbewusstheit (nur für 72. Monat).

In 9 Bögen für das Alter von 6, 9, 12, 18, 24, 36, 48, 60 bzw. 72 Monaten (darin enthalten die Untersuchungen U5, U6, U7, U7a, U8 und U9) werden 8 Entwicklungsbereiche (9 im Alter von 72 Monaten) in relevanten und normativ abgesicherten Entwicklungsitems abgefragt [15].

Abb. 5
figure 5

Beispiel eines Grenzsteinbogens. (Alle Grenzsteinbögen können bei der Autorin angefordert werden). (Mit freundl. Genehmigung R. Berger u. R. Michaelis)

Auffälligkeiten, d. h. das Nichterfüllen eines Grenzsteins, sind zu dokumentieren, in einem zweiten Schritt nochmals zu hinterfragen, zu bestätigen, zu verwerfen oder gezielt diagnostisch einzuordnen. Wie schon erwähnt, ist ein Befund noch keine Diagnose.

Das Grenzsteinkonzept verfolgt einen phänomenologischen Ansatz in der Entwicklungsbetrachtung. Hierbei geht es darum, praxis- und alltagsnah in einem einfachen Setting die in unserem kulturellen Kontext relevanten Entwicklungsdimensionen beobachtend oder durch Elternbefragung erfassen zu können. Das Grenzsteinkonzept ist also ein Such- und Screeningtest und hat zunächst nur die Aufgabe, ohne größeren testpsychologischen Aufwand auf Kinder aufmerksam zu machen, die – aus unterschiedlichen Gründen – in ihrer Entwicklung nicht der Altersnorm entsprechen. Das Screening sollte durchgeführt werden,

  • ohne wesentliche Entwicklungsdimensionen zu übersehen,

  • ohne zu früh eine Bewertung der Ergebnisse vorzunehmen und

  • ohne zu früh die Ergebnisse einer Diagnose gleichzusetzen.

Grenzsteine erlauben eine kompetente und nach Entwicklungspfaden gefächerte Beratung der Eltern. Sie bieten auch eine Basis für interdisziplinäre Diskussionen, ob und welche therapeutischen und/oder pädagogischen Maßnahmen eingeleitet werden müssen. Grenzsteine sind Wachposten oder „red flags“, die Alarm schlagen müssen.

Neurologische Basisuntersuchung

Manche neurologische Phänomene, Befunde oder Auffälligkeiten in der Entwicklung sind wie bereits dargestellt in den ersten beiden Lebensjahren sehr schwer in ihrer Bedeutung zu bewerten. Es stellen sich Fragen wie: Ist das nur eine vorübergehende Kopfschiefhaltung, eine passagere Seitenbevorzugung einer Hand? Ist diese niedrige Muskelspannung oder diese hohe Anspannung der Muskulatur ein individuelles Ausstattungsmerkmal des Kindes? Ist diese hohe Irritabilität, sind diese Schwierigkeiten, den Tag-Nacht-Rhythmus, den Wechsel von Aktivität und Ruhe zu regulieren, dem Temperament des Kindes geschuldet oder einer problematischen Interaktion oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Nicht selten verbergen sich in den ersten beiden Lebensjahren hinter ganz ähnlichen neurologischen Phänomenen schwere neurologische Erkrankungen, z. B.

  • Stoffwechselstörungen (Schilddrüse, Phenylketonurie),

  • Sinnesbehinderungen (Sehen, Hören),

  • neuromuskuläre oder neurodegenerative Erkrankungen (spinale Muskelatrophien, früh einsetzende hereditäre Neuropathien oder Myopathien),

  • zerebrale Fehlbildungen,

  • chromosomale Erkrankungen und Syndrome (Prader-Willi-, Rett-, Angelman-Syndrom),

  • zerebrale oder spinale Raumforderungen,

  • infantile spastische/dyskinetische Zerebralparesen.

Dann ist eine sofortige entwicklungsneurologische Diagnostik wichtig, um eine kausale Therapie einleiten zu können. Manchmal dient die Diagnostik der Einschätzung der Entwicklungsprognose. Es gilt, eine sekundärpräventive entwicklungsbegleitende Therapie und Förderung einzuleiten und im Wissen um Komorbiditäten Sekundärschäden zu verhindern. Sehr häufig ist die genetische Beratung Teil der Diagnostik, um einer Familie mögliche Perspektiven für die weitere Familienplanung zu eröffnen.

Die neurologische Basisuntersuchung U2 bis U7 (Abb. 6) erfasst folgende Parameter [2, 12]:

  • Verhaltenszustand,

  • visuelles System,

  • auditives System,

  • Mimik, Mund, Schlucken,

  • Artikulation,

  • spontane Haltung,

  • spontane Motorik,

  • passiver Muskeltonus,

  • Patellarsehnenreflex, Babinski-Reflex, frühe motorische Reaktionen,

  • aktiver Muskeltonus,

  • sensomotorische Entwicklung.

Abb. 6
figure 6

Beispiel eines Untersuchungsbogens der neurologischen Basisuntersuchung. (Alle Bögen der neurologischen Basisuntersuchung U2 bis U7 können bei der Autorin angefordert werden). (Mit freundl. Genehmigung R. Berger u. R. Michaelis)

Bei Säuglingen und Kleinkindern ist ein weitgehend phänomenologischer (beobachtender) Ansatz mit nur geringen und wenigen Irritationen des Kindes zu verfolgen, da die optimalen Verhaltenszustände während der neurologischen Untersuchung unbedingt stabil zu halten sind, denn

  • schreiende Kinder → falsch-positive neurologische Befunde;

  • dösige und schlafende Kinder → falsch-negative Befunde.

Im Alter von bis zu 2 Jahren ist eine valide neurologische Untersuchung ohne Beachtung der Verhaltenszustände nicht möglich. Auch Änderungen des Gesundheitszustandes führen in diesem Alter zu neurologischen Befunden.

Neurologische Warnsymptome im 1. und 2. Lebensjahr sind

  • mangelhafte bzw. fehlende Kopf- und/oder Rumpfkontrolle;

  • konstant nachweisbare Asymmetrien in Haltung und Bewegung;

  • Muskelhypotonie der Rumpfmuskulatur;

  • vom Kind nicht selbst auflösbare pathologische Motorik und Haltung: Streck-, Beuge-, Opisthotonus;

  • Bewegungsarmut nach dem 3. Lebensmonat;

  • Weiterbestehen neonataler motorischer Automatismen nach dem 6. Lebensmonat bei stabilem Verhaltenszustand, wie Moro-Reaktion oder asymmetrischer bzw. symmetrischer tonischer Nackenreflex.

Auffällige Befunde verlangen zwingend eine diagnostische Abklärung beispielsweise durch eine neuropädiatrische Untersuchung.

Fazit für die Praxis

  • Bei der Beurteilung der kindlichen Neurologie und Entwicklung müssen wir uns von der Idee der direkten linearen Korrelationen verabschieden, ebenso von der Vorstellung, dass einige wenige, einfache Parameter ein so komplexes System wie die Entwicklung des Kindes erfassen können.

  • Als Screening-Instrument für die Praxis bietet das Grenzsteinkonzept eine valide, ohne großen Aufwand umsetzbare Möglichkeit, Kinder, die sich in den ersten 6 Lebensjahren verzögert oder auffällig entwickeln, nicht zu übersehen.

  • Mit den Grenzsteinen lassen sich klare Aussagen zur individuellen Entwicklung eines Kindes in den verschiedenen Entwicklungspfaden gewinnen. Diese dienen als Basis für eine kompetente Beratung der Eltern und die Entscheidung/Empfehlung, ob und welche therapeutischen und/oder pädagogischen Maßnahmen eingeleitet werden müssen.

  • Die neurologische Basisuntersuchung ergänzt in der kinderärztlichen Praxis das Grenzstein-Screening.