Zusammenfassung
Hintergrund
Die intraossäre Punktion (IOP) hat sich in der akuten Notfallsituation als schnelle und sichere Alternative zum konventionellen Gefäßzugang etabliert. Die ursprünglich strengen Anwendungsbeschränkungen wurden zwischenzeitlich deutlich liberalisiert. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Leitlinienrevisionen in der notärztlichen Einsatzrealität abgebildet werden.
Material und Methoden
Eine retrospektive Analyse der Rettungseinsätze sämtlicher Luftrettungsstützpunkte der ADAC Luftrettung und der Deutschen Rettungsflugwacht wurde über einen 7-jährigen Zeitraum durchgeführt.
Ergebnisse
Im Beobachtungszeitraum wurden 466.813 Patienten behandelt. Bei 1498 Patienten (0,32 %) wurde eine IOP als alternativer Gefäßzugang durchgeführt. Dabei war die kontinuierliche Zunahme der IOP-Anlage (von 0,1 auf 0,5 %; p < 0,05) festzustellen. Zudem war eine Zunahme der IOP-Anlagen bei Patienten in den höheren Altersgruppen und mit niedrigeren Schweregraden entsprechend der National Advisory Committee for Aeronautics (NACA) Scale zu verzeichnen (2005–2011): Abnahme der IOP-Anlage bei den bis zu 6-Jährigen von 92,4 auf 19,7 % (p < 0,05) und bei Patienten mit NACA VII/VI von 74,4 auf 46,6 %; dabei temporäre begrenzte Zunahme der nichtindizierten IOP-Anlage bei NACA-III-Patienten (2008–2010). Im Beobachtungszeitraum war eine Zunahme des Spektrums der intraossär applizierten Medikamentengruppen zu verzeichnen.
Schlussfolgerung
Die aktuellen Leitlinienempfehlungen zur IOP werden in der Einsatzrealität des Luftrettungsdienstes weitestgehend abgebildet.
Abstract
Background
In emergency medicine intraosseous access (IOA) has been established as an alternative to conventional intravenous access. Originally the use of IOA was strictly limited to children up to 6 years of age and to adults for cardiopulmonary resuscitation. These limitations have been relaxed and the indications for IOA have been expanded.
Material and methods
A retrospective nationwide analysis of rescue missions by all helicopter emergency medical services of the German Automobile Club (ADAC) Air Rescue Service as well as the German Air Rescue (DRF) over a 7-year period was carried out.
Results
A total of 466,813 patients were treated during the study period and an IOA was established in 1,498 (0.32 %) patients. There was a significant increase in using an IOA from 0.1–0.5 % (p < 0.05) from 2005 to 2011. Furthermore, there was an increase in using an IOA in elderly patients and in patients with lower degrees of severity according to the National Advisory Committee for Aeronautics (NACA) scales (2005–2011): decreased use of IOA in patients up to 6 years of age from 92.4 % to 19.7 % (p < 0.05) and in patients with NACA grades VII/VI from 74.4 % to 46.6 % (p < 0.05) and temporarily limited increase of non-indicated IOA use in patients with NACA grade III between 2008 and 2010. Furthermore, there was an increase in the number of the different drug groups used for intraosseous infusion over the study period.
Conclusion
The current guidelines and recommendations for the use of IOA in the prehospital setting are reflected more and more in mission reality for helicopter emergency medical services.
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Bei der intraossären Punktion (IOP) handelt es sich um ein relativ einfaches und sicheres Verfahren. Definitiv stellt die IOP dennoch eine „invasive“ Notfallmaßnahme dar, die mit schwerwiegenden Komplikationen einhergehen kann. Die ursprünglich strengen Anwendungsbeschränkungen der IOP wurden zwischenzeitlich deutlich liberalisiert. Umso wichtiger wird hierdurch die Einhaltung einer streng leitliniengerechten Indikationsstellung in der Einsatzrealität.
Hintergrund
Der zeitgerechten Etablierung eines Gefäßzugangs als Grundlage einer spezifischen Pharmako- bzw. Infusionstherapie wird im Rahmen der notfallmedizinischen Versorgung kritisch Kranker bzw. Verletzter zentrale Bedeutung beigemessen [11, 21, 25, 28]. Allerdings werden sowohl die Zeitdauer als auch die Erfolgsquote für die Durchführung einer peripheren Venenpunktion unter Notfallbedingungen in der Literatur durchaus kritisch bewertet [7, 8, 22, 26]. Als Alternative zur konventionellen Gefäßpunktion wurde Anfang der 1980er Jahre die IOP wiederentdeckt und rasch in die notfallmedizinische Routine eingeführt [3]. Das Verfahren gilt als einfach, schnell und sicher mit einer hohen Erfolgsquote durchführbar; darüber hinaus wird der Aufwand für Ausbildung und Inübunghaltung als vergleichsweise gering bewertet [3].
In Abb. 1 ist die präklinische IOP-Anwendung bei einem Säugling mit großflächigen Verbrühungen zur medikamentösen Analgesie und Infusionstherapie dargestellt. Kurze Zeit nach Eintreffen des Rettungsteams an der Notfallstelle und zu Beginn der notärztlichen Primärversorgung wurde die IOP-Kanüle am rechten Unterschenkel im Bereich der proximalen Tibia in die Markhöhle des Säuglings eingebracht. Die Kanüle wurde mithilfe von Verbandmaterial zusätzlich lagefixiert.
Im Rahmen der Revision der Reanimationsleitlinien des European Resuscitation Council (ERC) 2005 wurde die ursprünglich strenge IOP-Indikationsstellung von der Altersgruppe der bis zu 6-Jährigen auf Notfallpatienten sämtlicher Altersgruppen erweitert [3]. Zudem wurde die Indikationsbeschränkung als Methode der Wahl bei verzögerter bzw. misslungener Anlage eines i.v.-Zugangs im Rahmen der kardiopulmonalen Reanimation auch auf Situationen ausgedehnt, bei denen eine vitale Gefährdung des Notfallpatienten vorliegt und in denen die Etablierung eines i.v.-Zugangs nicht bzw. nicht zeitgerecht möglich ist. Eine erste bundesweite Analyse zum Einsatz der IOP im Luftrettungsdienst für den Zeitraum 2005–2008 offenbarte mitunter deutliche Diskrepanzen zwischen den Leitlinienempfehlungen und der Einsatzrealität [17]. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Zunahme des nichtindizierten Einsatzes der IOP bei nichtakut-vital bedrohten Patienten zu nennen. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse einerseits, der Aktualisierung der Leitlinien 2010 [9] und der Publikation der gemeinsamen Empfehlungen der Wissenschaftlichen Arbeitskreise Notfallmedizin sowie Kinderanästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) zur IOP 2010 [3] andererseits, stellt sich die Frage, wie sich die Einsatzrealität bezüglich der Anwendung der IOP in Deutschland weiterentwickelt hat. Ziel der durchgeführten Studie war deshalb eine bundesweite Analyse der IOP-Anwendung im Luftrettungsdienst über den Zeitraum von 2005–2011.
Retrospektive Analyse
Für die Analyse liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Universität Ulm vor (Antrag-Nr. 272/12). Grundlage bilden die Daten der Notfalleinsätze sämtlicher Luftrettungsstützpunkte der ADAC Luftrettung GmbH und der Deutschen Rettungsflugwacht (DRF) aus 2005–2011. Diese waren mithilfe des in beiden Luftrettungsorganisationen etablierten einheitlichen medizinischen Dokumentationsstandards nach den Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI, [23]) erhoben worden. Das primäre Interesse gilt dabei der IOP als Alternative zur periphervenösen Punktion in Notfallsituationen. Diese Analyse fokussiert nicht auf das eingesetzte Punktionssystem, die Anlagedauer, die Erfolgsquote, den Punktionsort und mögliche Komplikationen im Rahmen der IOP, sondern vielmehr auf die Frage nach dem leitlinien- bzw. indikationsgerechten Einsatz der IOP. Um mögliche Diskrepanzen zwischen den Leitlinienempfehlungen und der Einsatzrealität zu detektieren, wurden folgende Parameter erfasst:
-
Entwicklung der Häufigkeit der IOP-Anwendungen im Beobachtungszeitraum,
-
Indikationsstellung zur IOP und mögliche Veränderungen im Hinblick auf die Indikationsstellung im Beobachtungszeitraum (zugrunde liegende Notfallursache und Schweregrad des Notfalls),
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betroffene Altersgruppen und
-
mögliche Veränderungen in der Auswahl der über den intraossären Zugang applizierten Medikamente bzw. Infusionslösungen.
Neben den demografischen Patientendaten werden hierzu die präklinische Schweregradeinschätzung gemäß National Advisory Committee for Aeronautics (NACA) Scale [30] analysiert. Des Weiteren erfolgt eine Auswertung der intraossär applizierten Medikamente bzw. Infusionslösungen.
Die erhobenen Daten wurden mithilfe der deskriptiven Statistik ausgewertet. Die Häufigkeiten wurden mit dem χ2-Test auf Signifikanz überprüft. Ein p-Wert von < 0,05 wurde als statistisch signifikant erachtet.
Ergebnisse
Häufigkeit der Anwendungen
Während des 7-jährigen Beobachtungszeitraums wurden insgesamt 507.309 Einsätze durchgeführt und dabei 466.813 Patienten (100 %) behandelt. Es war ein Anstieg der jährlich zu behandelnden Patienten von 53.575 im Jahr 2005 auf 75.463 im Jahr 2011 zu verzeichnen (Tab. 1). Der Anteil an sog. Fehleinsätzen hat über den Beobachtungszeitraum kontinuierlich von 9,1 auf 6,8 % abgenommen. Die Aufgliederung des Patientenkollektivs hinsichtlich der Altersgruppen und des Erkrankungs- bzw. Verletzungsschweregrads nach NACA Scale ist in Tab. 1 aufgeführt.
Bei insgesamt 1498 Notfallpatienten (0,32 %) wurde präklinisch eine IOP als alternativer Gefäßzugang durchgeführt. Dabei war ein signifikanter Anstieg der IOP-Rate von 0,1 % im Jahr 2005 auf 0,5 % im Jahr 2011 zu verzeichnen (p < 0,05; Tab. 1). Die Häufigkeit einer IOP-Anlage in Bezug auf verschiedene Altersgruppen wies im Beobachtungszeitraum deutliche Veränderungen auf: Wurden 2005 noch 92,4 % aller IOP-Anlagen in der klassischen Altersgruppe der bis zu 6-Jährigen durchgeführt, waren es 2011 nur noch 19,7 % (p < 0,05; Abb. 2). Die größte Zunahme der IOP-Anlage war in der Gruppe der über 6- bis 60-jährigen Patienten zu verzeichnen, nämlich von 2,5 % im Jahr 2005 auf 48,0 % im Jahr 2011 (p < 0,05; Abb. 2). In der Gruppe der ≥ 60-Jährigen stieg die Häufigkeit einer IOP-Anlage während des Beobachtungszeitraums von 5,1 % im Jahr 2005 auf 32,3 % im Jahr 2011 (p < 0,05; Abb. 2).
Ebenso deutliche Veränderungen waren im Beobachtungszeitraum bezüglich der Häufigkeit einer IOP-Anlage und der zugrunde liegenden notärztlichen Schweregradeinschätzung entsprechend der NACA Scale zu registrieren: Erfolgten im Jahr 2005 noch 74,4 % aller IOP-Anlagen im Rahmen einer kardiopulmonalen Reanimation (NACA VI und VII), waren es am Ende des Beobachtungszeitraum im Jahr 2011 nur noch 46,6 % (p < 0,05; Abb. 3). Dahingegen nahm die Häufigkeit der IOP-Anlage bei Notfallpatienten mit NACA IV und V von 25,6 % im Jahr 2005 auf 48,8 % im Jahr 2011 (p < 0,05; Abb. 3) zu.
Bei der Gegenüberstellung der Gruppe der Patienten mit IOP-Anlage und der Patienten ohne IOP-Anlage zeigt sich, dass in der „IOP-Gruppe“ der Anteil der bis zu 6-Jährigen signifikant höher ist (36,7 vs. 4,2 %; p < 0,05). Zudem wird deutlich, dass die Patienten der „IOP-Gruppe“ signifikant höhergradiger erkrankt bzw. verletzt waren (NACA V–VII: 76,5 vs. 27,2 %; p < 0,05; Tab. 2).
Medikamentengruppen und Infusionen
Die Häufigkeiten an ausgewählten Medikamentengruppen und Infusionen, die im Beobachtungszeitraum über den intraossären Zugang appliziert wurden, sind in Tab. 3 zusammengefasst. Aus den Daten wird ersichtlich, dass über den Beobachtungszeitraum hinweg der intraossäre Zugang vermehrt zur Applikation von Sedativa (Anstieg von 10,7 auf 38,2 %; p < 0,05; Tab. 3) sowie Analgetika (Anstieg von 17,9 auf 41,5 %, p < 0,05; Tab. 3), aber auch häufiger zur Narkoseinduktion genutzt wurde (Anstieg der Gabe von Narkotika von 12,2 auf 23,6 %/Anstieg der Gabe von Muskelrelaxanzien von 7,1 auf 23,3 %, p < 0,05; Tab. 3). Die Häufigkeit Thrombolytikaverabreichung über den intraossären Zugang stieg von 0 auf 5 % (p < 0,05, Tab. 3) und die Infusion von Kolloiden von 5,4 auf 17,1 % (p < 0,05; Tab. 3).
Diskussion
In dieser Studie wurde die Anwendung der IOP im bundesdeutschen Luftrettungsdienst über den Zeitraum von 2005–2011 untersucht. Dieser Zeitraum ist von mehreren Leitlinienrevisionen verschiedener nationaler und internationaler Fachgesellschaften zur kardiopulmonalen Reanimation bzw. zur Akutversorgung von Notfallpatienten mit direkter Auswirkung auf die Indikationsstellung zur Durchführung einer IOP gekennzeichnet [1, 3, 25]. Zwar handelt es sich bei der IOP um ein ebenso einfaches wie sicheres Verfahren, doch bleibt es nach wie vor ein „invasives“ Verfahren mit potenziell schwerwiegenden Komplikationen [3]. Vor dem Hintergrund der „Liberalisierung“ der Indikationsstellung zur IOP in der Akutversorgung ist deshalb die Frage nach einer „leitliniengerechten“ Anwendung von eminenter Bedeutung. Zwischenzeitlich liegt eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Anwendung der IOP im boden- und luftgestützten Notarztdienst [6, 14, 15, 25] vor. Allerdings handelt es sich dabei in der Mehrzahl um monozentrische Studien bzw. „Small-area“-Analysen mit relativ kleinen Fallzahlen bzw. kurzen Beobachtungszeiträumen oder um Untersuchungen mit dem Fokus auf das pädiatrische Patientenkollektiv. Daher ist bislang unklar, inwieweit die Empfehlungen zur Anwendung der IOP im deutschen Notarztdienst tatsächlich umgesetzt werden. Nach Kenntnisstand der Autoren wird mit der vorliegenden Analyse erstmalig über einen derart langen Zeitraum die Entwicklung der IOP-Anwendung im deutschen Luftrettungsdienst untersucht, und damit werden Leitlinienempfehlungen (einschließlich deren Revisionen bzw. Aktualisierungen) und Einsatzrealität einander gegenübergestellt.
Einsatzentwicklung im Beobachtungszeitraum
Bei einer jährlichen Steigerungsrate von 5,4 % wurden über den Beobachtungszeitraum hinweg nahezu 510.000 Notfalleinsätze durchgeführt. Von Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang, dass diese Zunahme nicht durch eine Erhöhung der Fehleinsatzquote „erkauft“ wurde. Vielmehr sank deren Anteil über den Beobachtungszeitraum hinweg kontinuierlich von 9,1 auf 6,8 %. Auch eine Zunahme der Einsätze an Notfallpatienten ohne akute Vitalgefährdung (NACA-Scale < IV) war nicht zu verzeichnen. Diese Ergebnisse können demnach als wichtiger Hinweis auf eine grundsätzlich adäquate Disposition der Luftrettungsmittel im Beobachtungszeitraum gewertet werden [13]. Zudem findet auch der demografische Wandel in der Gesellschaft mit einer Zunahme älterer Menschen [2] in dem hier untersuchten Kollektiv seinen Niederschlag. So macht allein die Altersgruppe der über 60-Jährigen in dem untersuchten Kollektiv (mit steigender Tendenz) die Hälfte sämtlicher Notfallpatienten aus.
Häufigkeit der Anlage
Als ein wesentliches Ergebnis dieser Studie bleibt festzuhalten, dass der Einsatz der IOP über den Beobachtungszeitraum hinweg kontinuierlich von 0,1 auf 0,5 % zugenommen und sich damit verfünffacht hat. Die ermittelte durchschnittliche IOP-Rate von 0,32 % steht im Einklang mit den Ergebnissen verschiedener aktueller Untersuchungen aus dem bodengebundenen Rettungsdienst: So berichten Reinhardt et al. [27] in ihrer Analyse zweier bodengebundener Notarztstandorte über einen 4-jährigen Zeitraum mit über 20.000 Teilnehmern eine IOP-Rate von 0,34 % und eine französische Arbeitsgruppe eine IOP-Rate von 0,39 % aus einem Kollektiv von nahezu 10.000 Notfallpatienten [12]. Obwohl die Vergleichbarkeit dieser Studienergebnisse begrenzt ist, zeigen sie doch, welch hohe Bedeutung die IOP zwischenzeitlich in der Notfallmedizin hat.
Leitliniengerechte Indikationsstellung
Als Indikatoren für eine leitliniengerechte Anwendung der IOP kann neben dem Alter der Notfallpatienten insbesondere die notärztliche Schweregradeinstufung nach der NACA-Scale [30] herangezogen werden. Bei querschnittlicher Betrachtung des Gesamtkollektivs dieser Studie über den gesamten Beobachtungszeitraum lässt sich im Rahmen der Gegenüberstellung der Gruppen der Patienten mit und ohne IOP-Anlage zunächst festhalten, dass der Anteil der bis zu 6-Jährigen, also der „klassischen Zielgruppe“ für eine IOP-Anlage, signifikant höher ist (36,7 vs. 4,2 %; p < 0,05) und die Patienten der „IOP-Gruppe“ signifikant höhergradig erkrankt bzw. verletzt sind (NACA V–VII: 76,5 vs. 27,2 %; p < 0,05). In Übereinstimmung mit der Literatur beträgt in dieser Studie die IOP-Rate bei den bis zu 6-Jährigen 2,7 % (Literatur: 2,4–2,6 %, [4, 10, 16, 27, 29]). Doch wie hat sich die „Liberalisierung“ der Indikationsstellung zur IOP-Anlage hinsichtlich der Altersgruppenbeschränkung und des Vitalgefährdungsgrads über den Beobachtungszeitraum hinweg in dem untersuchten Kollektiv im Detail niedergeschlagen?
„Liberalisierung“ der Leitlinienempfehlungen
Altersbeschränkung
Die Entwicklung ist ebenso eindeutig wie klar: Während zu Beginn des Beobachtungszeitraums noch 92,4 % sämtlicher IOP-Anlagen bei der „klassischen“ Zielgruppe der bis zu 6-jährigen Patienten durchgeführt wurden, waren es 2011 lediglich noch 19,7 %. Der stärkste Zuwachs an IOP-Anlagen war in der Gruppe der 6- bis 60-Jährigen zu verzeichnen. Die Daten der vorliegenden Studie (Jahr 2011) stehen dabei im Einklang mit der Ergebnissen anderer Untersucher. So berichten beispielsweise Reinhardt et al. [27] in einer aktuellen Studie aus dem bodengebundenen Rettungsdienst über einen Anteil der Kinder bis zu 6 Lebensjahren in der IOP-Gruppe von lediglich 22 %. Aus diesen Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass die in den Leitlinienrevisionen formulierte „Liberalisierung“ der ursprünglich strengen Altersbegrenzung zur IOP-Anlage von den Notärzten umgesetzt wurde. Allerdings bleibt damit die wichtige Frage, ob die IOP-Anlage auch tatsächlich im Rahmen einer „akuten Vitalgefährdung“ erfolgte, wie es die Leitlinien vorsehen, noch unbeantwortet.
Vitalgefährdungsgrad
Erwartungsgemäß wurden zu Beginn des Beobachtungszeitraums im Jahr 2005 sämtliche IOP-Anlagen bei Patienten mit einer vermuteten bzw. vorliegenden Vitalgefährdung gemäß NACA≥ IV durchgeführt. Hierbei entfiel der weit überwiegende Anteil ausschließlich auf Reanimationssituationen (74,4 %, NACA VI/VII). Im weiteren Verlauf stieg insbesondere der Einsatz der IOP bei Patienten mit NACA V, also Patienten mit „akuter“ Vitalgefährdung (von 12,8 auf 35,5 %). Während diese Veränderungen mit den revidierten Leitlinienempfehlungen gut in Einklang zu bringen sind, muss die Entwicklung der IOP-Anwendungen bei Patienten „ohne akute Vitalgefährdung“ (NACA III) – zumindest im Zeitraum 2008–2010 – sehr kritisch bewertet werden: In den ersten 3 Jahren des Beobachtungszeitraums war die Häufigkeit einer IOP-Anlage bei diesen NACA-III-Patienten vernachlässigbar gering (0–2,1 %). Danach kam es 2008 zu einem sprunghaften Anstieg auf 9,5 %, der für weitere 2 Jahre andauerte und sich erst im letzten Beobachtungsjahr wieder deutlichst reduzierte (4,6 %). Als mögliche Erklärungen für den nichtindizierten Einsatz der IOP bei diesen Patienten können eine notärztliche Fehleinschätzung hinsichtlich der NACA-Scale im Sinne einer „falsch-positiven“ Einschätzung [20] und/oder aber schlichtweg ein notärztlicher Dokumentationsfehler [18] diskutiert werden. Wesentlich wahrscheinlicher erscheint aber, dass die IOP tatsächlich nicht indiziert war, sondern vielmehr bei „zu großzügiger“ Auslegung der Leitlinienempfehlungen zur Anwendung kamen. Obwohl es sich bei der IOP um ein relativ einfaches und sicheres Verfahren handelt, ist es aber definitiv ein „invasives“ Notfallverfahren mit auch schwerwiegenden Komplikationsmöglichkeiten, wie beispielsweise Extravasation mit nachfolgendem Kompartmentsyndrom [24] oder einer Knochenfraktur an der Punktionsstelle [5]. Vermehrte Publikationen von Fallberichten über Komplikationen im Zusammenhang mit der notfallmäßigen IOP-Anlage unterstreichen die Notwendigkeit der Einhaltung einer streng leitliniengerechten Indikationsstellung. Die aktuellen Ergebnisse aus 2011 stimmen positiv, wurde doch bei nahezu 96 % der Patienten die Indikation zur Durchführung einer IOP in Bezug auf den Vitalgefährdungsgrad (NACA IV–VII) korrekt gestellt.
Intraossäre Medikamentenapplikation
Die erweiterte Indikationsstellung zu IOP findet ihren Niederschlag auch in Art und Häufigkeit der applizierten Medikamente(gruppen)/Infusionen. Erwartungsgemäß stellten die Katecholamine über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg mit etwa 50 % die häufigste intraossär applizierte Medikamentengruppe dar. Darüber hinaus waren jedoch deutliche Veränderungen festzustellen: So nahm insbesondere der Einsatz von Analgetika signifikant von 17,9 auf 41,5 % zu; ebenso wurde der intraossäre Zugang signifikant häufiger zur medikamentösen Narkoseinduktion und -führung genutzt (Anstieg des Einsatzes von Sedativa von 10,7 auf 38,2 %, Narkotika von 12,2 auf 23,6 % und Muskelrelaxanzien von 7,1 auf 23,3 %). Die Zunahme der Applikation kolloidaler Infusionslösungen (von 5,4 auf 17,1 %) lässt auf eine vermehrte IOP-Anwendung bei Notfallpatienten mit traumatisch-hämorrhagischem Schock schließen. In Einklang mit anderen Untersuchern [19] kamen sämtliche in der Notfallmedizin verfügbaren Medikamente über den intraossären Zugang zum Einsatz. Hervorhebenswert ist in diesem Zusammenhang die Zunahme der intraossären Applikation von Thrombolytika (von 0 auf 5 %). Aus dem vorliegenden Datenmaterial ist allerdings nicht ersichtlich, ob dabei Komplikationen auftraten. Kellner et al. [19] berichten in ihrer Studie zumindest über eine völlig komplikationslose Durchführung von 8 “Rescue“-Thrombolyse-Therapien.
Fazit für die Praxis
Die Häufigkeit der IOP hat im bundesdeutschen Luftrettungsdienst kontinuierlich und signifikant zugenommen. Dabei wurden die erweiterten Leitlinienempfehlungen hinsichtlich Altersbegrenzung und Vitalgefährdungsgrad in zunehmenden Maß präklinisch umgesetzt. Die beobachtete nichtleitlinienkonforme IOP-Anwendung bei Patienten ohne akute Vitalgefährdung ist kritisch zu werten. Aus den Daten des letzten Beobachtungsjahres lässt sich zusammenfassend schlussfolgern, dass die aktuellen Leitlinienempfehlungen zur IOP in der Einsatzrealität des Luftrettungsdienstes weitestgehend abgebildet werden.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. M. Helm, T. Schlechtriemen, B. Haunstein, M. Gäßler, L. Lampl, J. Braun geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Alle im vorliegenden Manuskript beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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M. Helm und T. Schlechtriemen haben in gleichen Teilen zu dieser Arbeit beigetragen.
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Helm, M., Schlechtriemen, T., Haunstein, B. et al. Intraossäre Punktion im deutschen Luftrettungsdienst. Anaesthesist 62, 981–987 (2013). https://doi.org/10.1007/s00101-013-2262-y
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