1 Einleitung

Kindertageseinrichtungen werden zunehmend als Bildungsorte wahrgenommen, in denen die körperliche, soziale und intellektuelle Entwicklung von Kindern umfassend begleitet und gefördert wird. Neben Erziehung und Betreuung ist Bildung zur vordringlichen Aufgabe von Kindertageseinrichtungen geworden (Fölling-Albers 2013). Teil dieser Entwicklung ist die wachsende Bedeutung, die der bewussten und gezielten Wahrnehmung von Bildungsprozessen sowie ihrer Dokumentation und Reflexion beigemessen wird (Schulz 2016). So wurden in den vergangenen Jahren verschiedene Verfahren entwickelt, um Bildungsprozesse systematisch zu beobachten und zu dokumentieren (Knauf 2015). Ein in Deutschland seit gut zehn Jahren verbreitetes Dokumentationsverfahren sind Lerngeschichten, das von etwa einem Viertel der Einrichtungen regelmäßig genutzt wird (Viernickel et al. 2013).

Zur Verbreitung des Konzepts in Deutschland hat insbesondere das Deutsche Jugendinstitut (DJI) beigetragen, das zwischen 2004 und 2007 Lerngeschichten im Rahmen eines Projektes mit 25 Kindertageseinrichtungen erprobt hat und durch die Schulung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie zahlreiche Veröffentlichungen das Verfahren bekannt gemacht hat (DJI 2007). In internationaler Perspektive zeigt sich, dass 11 von 20 an der OECD-Studie „Starting Strong IV“ teilnehmenden Länder LerngeschichtenFootnote 1 einsetzen (OECD 2015). Vor dem Hintergrund seiner Bedeutung in internationaler Perspektive wie auch in Deutschland geht die hier vorgestellte Untersuchung der Frage nach, wie das Konzept der Lerngeschichten in Deutschland heute umgesetzt wird und welche Implikationen sich daraus für das Verständnis von Bildungsdokumentation und von frühkindlicher Bildung durch die pädagogischen Fachkräfte ergeben.

2 Lerngeschichten: Theoretischer Rahmen und Stand der Diskussion

2.1 Lerndispositionen als Grundlage eines dialogischen und narrativen Verfahrens

Das Konzept der Lerngeschichten wurde in den 1990er-Jahren von der neuseeländischen Erziehungswissenschaftlerin Margaret Carr entwickelt und ist eng verknüpft mit dem 1996 veröffentlichten nationalen neuseeländischen Curriculum für den Elementarbereich „Te Whariki“ (Carr 2004). Dieses Curriculum hatte Pioniercharakter, denn bis dahin war es nicht üblich, für Kinder vor der Einschulung ein verbindliches Lehr- und Bildungsprogramm aufzustellen (May und Carr 2016). Das neuseeländische Curriculum orientiert sich an „learning dispositions“ (i. e. taking an interest, being involved, persisting with difficulty or uncertainty, communicating with others, taking responsibility) sowie grundlegenden „principles“ (i. e. empowerment, relationships, family and community, holistic development) (Lee et al. 2013, S. 21). Damit unterscheidet es sich von den in den letzten Jahren in Deutschland in allen Bundesländern entwickelten Bildungsplänen, die in der Regel anhand einzelner Kompetenzfelder oder Bildungsbereiche strukturiert sind, z. B. im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan: Bewegung, Sprache, Mathematik, Umwelt (HMSI und HKM 2015).

Lerngeschichten sind als zentrales Assessmentverfahren für das neuseeländische Curriculum entwickelt worden: Mit ihnen soll erfasst werden, inwieweit einzelne Lerndispositionen bei jedem Kind vorhanden sind und wo und wie genau sie sich zeigen. Katz hat die Bedeutung von Dispositionen gerade für junge Kinder herausgearbeitet und definiert sie als intellektuelle Gewohnheiten oder Muster mit motivationalem und affektivem Charakter, die bestimmte Verhaltensweisen fördern (Katz 2015). Durch die Fokussierung von Lerndispositionen sollen Lerngeschichten helfen, die individuellen Bildungsprozesse des einzelnen Kindes wahrzunehmen und zu unterstützen; zugleich betont Carr (2001), dass Lerndispositionen stets mit sozialer Interaktion verknüpft sind. Entsprechend dieser Sichtweise umfasst das Assessment der Lerngeschichten die drei Elemente „Noticing, Recognizing, Responding“ (Ministry of Education 2004, S. 6). Ebenso wie das Curriculum „Te Whariki“ im Gesamten werden auch die Lerngeschichten von ihren Entwicklerinnen als in hohem Maße eingebunden in den sozialen und kulturellen Kontext beschrieben (Ministry of Education 2004). Mit diesem Konzept grenzt Carr Lerngeschichten von anderen Formen des Assessments ab. An die Stelle eines defizitorientierten Blicks auf das Kind („Was kann es noch nicht?“) soll ein ressourcenorientierter Blick treten („Was hat es bereits gelernt?“) (Carr 2001, S. 3). Damit stehen Lerngeschichten in derselben elementarpädagogischen Tradition wie jene Formen der Bildungsdokumentation, deren Ziel es ist, „Bildungsprozesse sichtbar“ zu machen (z. B. Huhn und Schneider 2008; Project Zero und Reggio Children 2011).

Für Lerngeschichten werden Situationen, in denen die Kinder agieren, exemplarisch ausgewählt, beschrieben und interpretiert. Lerngeschichten sind als narratives Assessment explizit nicht als objektive Messung konzipiert, wie standardisierte und objektivierte Verfahren (z. B. Kompetenz-Checklisten oder Entwicklungstabellen) sie ermöglichen sollen, sondern als subjektive Interpretation, die als Grundlage für Diskussionen und gemeinsame Vereinbarungen aller beteiligten Akteure dienen kann (Carr 2001). Der narrative Charakter soll es ermöglichen, Lernprozesse ganzheitlich und in einen größeren (soziokulturellen) Kontext eingebunden zu diskutieren (Carr und Lee 2012). Die Entstehung einer Lerngeschichte wird von Carr als ein dialogischer Prozess beschrieben, bei dem Beobachtung und Deutung einer Situation von der dokumentierenden pädagogischen Fachkraft sowohl mit Kolleginnen und Kollegen als auch mit dem Kind selbst besprochen werden; insofern werden als Zielgruppen von Lerngeschichten Kinder, Familien, das Team der Fachkräfte einer Einrichtung und die Fachkraft selbst beschrieben (Carr 2001). Lerngeschichten sind in diesem Verständnis weit mehr als eine reine Beobachtungsmethode, sondern können vielmehr als handlungsleitendes Konzept verstanden werden, das die gesamte pädagogische Arbeit maßgeblich prägt (Weltzien und Viernickel 2012; Frei et al. 2014).

2.2 Lerngeschichten als Ausdruck eines frühpädagogischen Bildungsverständnisses

Durch ihre Zielsetzung und Konstruktion nehmen Lerngeschichten zentrale Grundsätze eines weit verbreiteten frühpädagogischen Bildungsverständnisses auf. Wesentliches Kennzeichen dieses spezifischen Bildungsverständnisses ist die hohe Bedeutung, die der Selbsttätigkeit der Kinder beigemessen wird. Bildung wird dabei erst durch die Aktivität des sich bildenden Subjekts möglich (Stieve 2013) und als Ergebnis der Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner Umwelt (Menschen und Dingen) verstanden (Schäfer und Beek 2013). In diesem Sinne ist das frühpädagogische Bildungsverständnis heute geprägt durch eine sozialkonstruktivistische Sichtweise, wie sie König (2007) als wichtige Strömung in der Frühpädagogik beschreibt. Das Kind wird in dieser Perspektive gesehen als sich aktiv und selbsttätig bildendes Subjekt, das mit natürlicher Neugier und intuitiver Lernkompetenz ausgestattet ist (Bischoff et al. 2013).

Komplementär zu diesem Bild vom Kind hat sich eine Auffassung von der optimalen pädagogischen und bildungsorientierten Begleitung durch Fachkräfte entwickelt: Aufgrund der Bedeutung von Beziehungen und Bindungen für Bildungsprozesse (Tippelt 2012) sollen pädagogische Fachkräfte responsiv und feinfühlig handeln (Gutknecht 2015). Ziel ist es, Interaktionsgelegenheiten zu ermöglichen, um die Qualität der Beziehung zwischen Kind und Fachkraft und damit auch die Bildungsbereitschaft des Kindes zu steigern (Weltzien 2014). Darüber hinaus kommt ihnen die Aufgabe zu, die Stärken der Kinder zu fokussieren und wertschätzend mit ihrer Verschiedenartigkeit umzugehen (Nentwig-Gesemann et al. 2011). Die zentrale Aufgabe der Fachkräfte wird in der Ko-Konstruktion kindlicher Bildungsprozesse gesehen (Fthenakis 2009).

Lerngeschichten erscheinen als eine geeignete Möglichkeit, um die anspruchsvolle Herausforderung einer spezifisch frühpädagogischen Dokumentation von Bildungsprozessen zu bewältigen: Sie legen kein vorgegebenes Raster an die Aktivitäten der Kinder an, sondern nehmen ihren Ausgangspunkt im Verhalten der Kinder und rücken sie als aktiv Lernende in den Mittelpunkt (Grindheim et al. 2010). Durch die Orientierung an Lerndispositionen stehen domänenspezifische Leistungen im Hintergrund, denn Lerndispositionen sind nicht fest an eine bestimmte Tätigkeit oder einen Inhalt gebunden; vielmehr lassen sie sich in verschiedenen Situationen beobachten (z. B. beim Bauen oder Basteln, Rollen- oder Ballspiel). Auf diese Weise sollen die unterschiedlichen Interessen und Persönlichkeiten der Kinder individuell berücksichtigt werden (Leu et al. 2007). Diese Zielsetzung sollte durch die Hinzunahme des Bildungsbegriffs in die Bezeichnung des Konzepts („Bildungs- und Lerngeschichten“) in der Adaption durch das DJI deutlich zum Ausdruck gebracht werden (DJI 2007). Der narrative Charakter von Lerngeschichten und die damit in Verbindung stehende Adressierung der Kinder sollen zudem deren Teilhabe an der Dokumentation steigern sowie ihre Selbstreflexivität und Selbstwirksamkeitserfahrung fördern (DJI 2007). Durch diese Eigenschaften können Lerngeschichten wesentlich dazu beitragen, Kinder als sich bildende und lernende Subjekte zu konstruieren (Koch und Nebe 2013; Schulz 2013).

Die hohe Kongruenz des Konzepts der Lerngeschichten mit den theoretisch-programmatischen Grundlagen der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen kann eine Erklärung bieten, warum Lerngeschichten in Deutschland auf ein breites Echo in der Frühpädagogik gestoßen sind.

2.3 Lerngeschichten in der Kritik: Zeitaufwändig, anspruchsvoll, begrenzte Aussagekraft

Kritik am Konzept der Lerngeschichten macht sich insbesondere an dem mit ihrer Herstellung verbundenen hohen Zeitaufwand fest (DJI 2007). Ein Mehraufwand wird insbesondere in der gemeinsamen Reflexion der Beobachtungen bzw. der Lerngeschichten im Team gesehen, die bei anderen Dokumentations- und Assessmentverfahren keine oder eine nur geringe Rolle spielt (DJI 2007). In einer wissenschaftlichen Evaluation der Einführung von Bildungs- und Lerngeschichten in Stuttgarter Einrichtungen bestätigen die befragten Fachkräfte ebenfalls, dass sie das Verfahren als zeitaufwändig wahrnehmen (Moritz et al. 2012). Haucke (2010) und Haas (2012) sehen die Ursache für den als hoch empfundenen Aufwand wesentlich in der Adaption des Konzepts durch das DJI, der durch zusätzliche Schritte der Standardisierung (in Form von Instrumenten zu Beobachtung, Analyse, Austausch im Team und zur abschließenden Reflexion mit dem Kind) gekennzeichnet ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der neuseeländischen und der deutschen Umsetzung besteht darin, dass die Lerngeschichten in Neuseeland durch die Anbindung an das Curriculum als Dreh- und Angelpunkt der pädagogischen Arbeit fungieren, während sie in Deutschland in Konkurrenz zu anderen Themen und anderen Vorgaben (Bildungspläne, Leitlinien des Trägers, Konzeption der Einrichtung) stehen (Müller und Zipperle 2011). Eine aktuelle Studie aus Neuseeland zeigt jedoch, dass auch dort der hohe Zeitaufwand durch die Fachkräfte kritisiert wird (Zhang 2016).

Eine weitere Barriere bei der Einführung von Lerngeschichten wird in der für das Erstellen von Lerngeschichten verbundenen Qualifikation gesehen (DJI 2007). Kupfer (2010) beschreibt die Schwierigkeit für Fachkräfte in Deutschland, sich von außengeleiteten Beurteilungs- und Kategorisierungsschemata ab- und einem „dialogischen Bildungsgeschehen“ zuzuwenden.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die mangelnde Validität des Verfahrens: Rückschlüsse von beobachtbarem Verhalten auf Lerndispositionen sind nach Einschätzung Sadlers (2010) nur unter Vorbehalt zu treffen. Aufgrund des offenen und auch zufälligen Charakters der Entstehung von Lerngeschichten könne nicht sichergestellt werden, dass die gesamte Komplexität des Lernens eines Kindes erfasst werde. Blaiklock (2013) gibt ebenfalls zu bedenken, dass Entwicklungen wichtiger Wissens- und Fertigkeitsgebiete aufgrund des unsystematischen Vorgehens übersehen werden können. Darüber hinaus blieben viele Lerngeschichten oberflächlich und würden das in einer Situation enthaltene Potenzial für die Interpretation des Geschehens nur unzureichend ausschöpfen (Zhang 2016).

Die Kritik von Blaiklock und Zhang lässt sich darauf zuspitzen, dass Lerngeschichten als alleiniges Assessmentverfahren als ungeeignet erachtet werden, weil sie aufgrund ihrer Fokussierung von Dispositionen (im Gegensatz zu Wissen und Fertigkeiten) keine Auskunft darüber gäben, was Kinder (insgesamt und als Individuen) lernen (Blaiklock 2013). Für die weitere Verwendung von Lerngeschichten konnten Urban et al. (2015) zeigen, dass gerade im Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule Lerngeschichten in erster Linie als „beziehungs- und institutionengebundenes Dokument“ gesehen werden, welches eher der Archivierung wichtiger oder schöner Situationen dient als der Analyse der Entwicklung von Kindern. Auch deutsche Fachkräfte, so zeigt dieser Befund, schätzen die Aussagekraft von Lerngeschichten teilweise als limitiert ein. Während in Neuseeland Lerngeschichten als alleiniges Instrument für Beobachtung und Dokumentation verwendet werden, werden diese in Deutschland mit standardisierten, merkmalsgestützten Instrumenten kombiniert und als einander ergänzend angesehen (Flämig et al. 2009).

2.4 Forschungsperspektive: Lerngeschichten als wirkmächtige Dokumente

Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie das Konzept der Lerngeschichten in der pädagogischen Praxis in Deutschland derzeit umgesetzt wird. Dabei werden die Dokumente der Lerngeschichten als Produkt und Ergebnis der Arbeit mit Lerngeschichten analysiert. Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass Dokumente eine hohe Wirkmächtigkeit besitzen. Das schriftliche Festhalten einer bestimmten Beobachtung und deren Interpretation verleiht den Aussagen Tatsachencharakter. Die Dokumente werden in dieser Perspektive nicht nur als Behälter oder Archiv für tatsächlich Geschehenes betrachtet, sondern selbst als Tatsachen konstituierende Akteure verstanden. Der Ansatz schließt an soziologische (z. B. Latour 1996) wie auch philosophische Diskurse (z. B. Ferraris 2012) an, die die konstitutive Funktion von Dokumenten für soziale Prozesse und für Institutionen thematisieren. Diese Sichtweise findet sich verstärkt in der aktuellen pädagogischen Auseinandersetzung mit Dokumentation in und über Kindheit, wie etwa in den Untersuchungen von Bollig (2008), Koch und Nebe (2013) und Schulz (2013), die sich auf die Akteur-Netzwerk-Theorie Latours beziehen. Einem ähnlichen Ansatz folgen Alasuutari et al. (2014) und Alasuutari und Kelle (2015), die an Ferraris (2012) anknüpfen, der die Inskription als konstitutiv für Institutionen ansieht. In diesen Untersuchungen wird die durch die Verschriftlichung stattfindende Herstellung bzw. Inszenierung von Wirklichkeit fokussiert.

2.5 Forschungsfrage

Entsprechend den Überlegungen zur Wirkmächtigkeit von Dokumenten werden Lerngeschichten in der hier vorgestellten Studie anhand der entstandenen Dokumente analysiert. Das heißt, dass der Prozess der Entstehung der Lerngeschichten und auch der weitere Umgang mit den Lerngeschichten (z. B. in Gesprächen mit dem Kind, anderen Fachkräften und Eltern) hier nicht berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt stehen dabei diejenigen Dokumente, die von den pädagogischen Fachkräften als Lerngeschichten betrachtet werden, was nicht zwangsläufig identisch sein muss mit anhand theoretischer Überlegungen als Lerngeschichten zu definierenden Texten. Es soll vorrangig keine Bewertung im Abgleich intendierter und realisierter Praxis der Lerngeschichten stattfinden. Vielmehr handelt es sich um ein empirisch-exploratives Vorgehen, das die Ausführungspraxis von Lerngeschichten in Deutschland kartieren soll. Vor diesem Hintergrund liegen der hier vorgestellten Studie die folgenden Fragen zugrunde:

  • Wie werden Lerngeschichten in Deutschland heute umgesetzt? Welche inhaltlichen und formalen Gestaltungsformen werden dabei von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen genutzt?

  • Welche Hinweise auf das aktuelle Verständnis von frühkindlicher Bildung können sie geben? Inwiefern lassen sich aus der Analyse der Lerngeschichten Ableitungen zu Sichtweisen der Fachkräfte auf die Kinder, aber auch auf ihre eigene Rolle treffen?

3 Methodisches Vorgehen

3.1 Forschungsstrategie Grounded Theory

Die vorliegende Untersuchung orientiert sich an den Prinzipien der Grounded Theory Methode (GTM). Die GTM soll eine „regelgeleitete, kontrollierte und prüfbare ‚Entdeckung‘ von Theorie aus Daten/Empirie“ ermöglichen (Mey und Mruck 2011, S. 11). Ziel ist es, Theorien zu entdecken, durch die den Daten zugrundeliegende Phänomene erklärt werden können. Darin unterscheidet sich die GTM von der Dokumentarischen Methode, durch die ein Zugang zur Perspektive der Akteure und ihrem „handlungspraktischen Erfahrungswissen“ gewonnen werden soll (Bohnsack et al. 2013, S. 16). So sollen in dieser Untersuchung die in den Lerngeschichten enthaltenen Theorien über Kinder und ihr Lernen entdeckt werden sowie über Kindertageseinrichtungen und die Rolle der Fachkräfte. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum der GTM liegt in ihrem iterativen Vorgehen (Mey und Mruck 2011): Sampling, Erhebung und Auswertung sind keine jeweils in sich abgeschlossenen Phasen, sondern finden in wiederkehrenden Schleifen statt. Auf diese Weise kann die Datenbasis aufgrund der Ergebnisse der fortschreitenden Analyse systematisch erweitert und somit die Aussagekraft des Samples gesteigert werden (siehe Abschn. 3.2). Für die Beantwortung der Forschungsfrage ist die GTM auch deshalb besonders geeignet, weil sie das Material nicht bereits vorhandenen Kategorien zuordnet, sondern diese Kategorien erst am Material entwickelt werden (Mey und Mruck 2011). Auf diese Weise wird es möglich, die Lerngeschichten zunächst unabhängig von ihrer theoretischen Konzeptionierung durch Carr (2001) und Leu et al. (2007) zu analysieren.

3.2 Stichprobe

Entsprechend den Prinzipien der GTM erfolgte die Zusammensetzung der Stichprobe nach den Prinzipien des theoretical sampling: Die einbezogenen Lerngeschichten bzw. Untersuchungsobjekte wurden nach der Vielfalt der in ihnen enthaltenen Theorien ausgewählt; d. h., im Laufe der Untersuchung wurde kontinuierlich nach Varianten und Kontrasten zu den bereits identifizierten Theorien gesucht (Breuer 2010). Durch dieses Verfahren „des ständigen Vergleichens“ (Strübing 2004, S. 18) und damit verbundenen Erweiterns des Datenkorpus soll die inhaltliche Aussagekraft maximiert werden. Dieses Verfahren wurde so lange fortgesetzt, bis keine neuen Theorien (=Varianten von Lerngeschichten) identifiziert werden konnten, bis also eine theoretische Sättigung („saturation“, Corbin und Strauss 2015, S. 141) eintrat. Anders als es eine statistisch hergestellte Repräsentativität anhand soziodemographischer oder struktureller Daten ermöglicht, soll auf diese Weise die Relevanz der erfassten Theorien für die Forschungsfrage sichergestellt werden (Kelle und Kluge 2010).

Ausgangspunkt für die Zusammenstellung des Datenkorpus waren die vom DJI ausgewiesenen Referenzeinrichtungen, die in der Projektphase 2005 zu den ersten gehörten, die Erfahrungen mit dem Verfahren der Lerngeschichten machten und von denen sich vier Einrichtungen beteiligten. Aus dieser Kontaktaufnahme und durch Empfehlungen aus bestehenden Kontakten ergaben sich weitere Hinweise auf Einrichtungen, die Lerngeschichten verwenden. Insgesamt konnten auf diese Weise 338 Lerngeschichten aus 32 Einrichtungen aus dem gesamten Bundesgebiet in die Studie einbezogen werden. Die Lerngeschichten stammen zu 67 % aus Gruppen mit Kindern, die älter als drei Jahre alt sind, und zu 33 % aus Gruppen mit Unter-3-Jährigen.

Eine breite Streuung zeigt sich bei der Erfahrung mit Lerngeschichten: Eine Einrichtung arbeitet seit 15 Jahren mit dem Verfahren (seit 2001), zwei Einrichtungen haben erst vor kurzem (2016) damit begonnen; im Durchschnitt blicken die beteiligten Einrichtung auf eine Erfahrung von 8 Jahren zurück (Median: 7 Jahre).

Die Einrichtungen wurden gebeten, solche Lerngeschichten auszuwählen, die sie selbst als typisch wahrnehmen. Bei der Analyse der Daten ist also zu berücksichtigen, dass die Einrichtungen selbst die Auswahl der für die Untersuchung zur Verfügung gestellten Lerngeschichten vornehmen konnten; damit besteht die Möglichkeit, dass eher die für besonders gelungen erachteten Lerngeschichten ausgewählt wurden, wodurch eine Verzerrung im Sinne einer Positivauswahl zustande käme.

3.3 Datenauswertung

Die zentrale Herausforderung der Auswertung bestand darin, das umfangreiche Datenmaterial angemessen und zugleich handhabbar auszuwerten. Entsprechend der Methodik der GTM wurden deshalb in einem 1. Analyseschritt (offenes Kodieren) charakteristische Merkmale im Datenmaterial identifiziert (Breuer 2010). Die Merkmale wurden in zwei Merkmalsgruppen unterteilt: Form (Länge, Fotos, Schrift, Zitate des Kindes, direkte Anrede) und Inhalt (Thema, Sprachniveau, bewertender Charakter, Intensität der Analyse, Nennung nächster Entwicklungsschritte, Fokus der Beobachtung, beteiligte Personen). Die Variationsbreite der Merkmale (= Merkmalsausprägungen) wurde im Zuge der Dimensionalisierung erfasst (Kelle und Kluge 2010). Beim Merkmal beteiligte Personen werden z. B. folgende drei Dimensionen unterschieden: 1) das adressierte Kind selbst 2) das Kind plus Spielpartnerinnen und -partner, 3) die größere/gesamte Gruppe.

Alle Lerngeschichten wurden in einem 2. Analyseschritt den verschiedenen Merkmalen bzw. ihren Dimensionen zugeordnet. Die Zusammenschau der Merkmale und ihrer Dimensionen zeigte, dass sich die Lerngeschichten insbesondere in Hinblick auf zwei Merkmale stark voneinander unterscheiden, nämlich hinsichtlich des Fokus der Beobachtung (Dimensionen: allgemein – konkret – detailliert) und der Intensität der Analyse (Dimensionen: keine Analyse – Interpretation – Bewertung). In der Kombination dieser beiden Merkmale wurde eine Typologie entwickelt, die insgesamt sechs verschiedene Typen von Lerngeschichten umfasst. Die Typologie ermöglicht es, das Feld der Lerngeschichten zu strukturieren und so einen Überblick über Umsetzungsvarianten geben zu können. Es soll ein von den Einzelfällen abstrahiertes und generalisiertes Ordnungssystem entwickelt werden, das eine Verortung des Einzelfalls, aber auch eine Beschreibung der Gesamtheit des Datenmaterials ermöglicht (Breuer 2010). Die Verwendung der Merkmale Fokus der Beobachtung und Intensität der Analyse erreicht eine größtmögliche Homogenität innerhalb der jeweiligen Typen und eine größtmögliche Heterogenität zwischen den unterschiedlichen Typen (Kelle und Kluge 2010). In einem weiteren Zuordnungsschritt wurde das Datenmaterial erneut durchgearbeitet, um jede Lerngeschichte einem Typ zuzuordnen.

Um eine tiefergehende und aussagekräftige Analyse zu ermöglichen, wurde im Anschluss an die Zuordnung jeder Typ von Lerngeschichten möglichst präzise charakterisiert, indem aus den verschiedenen Merkmalskombinationen ein inhaltlicher Sinnzusammenhang herausgearbeitet wurde (Kelle und Kluge 2010). Auf diese Weise konnten Beziehungen zwischen den verschiedenen Merkmalen bzw. Merkmalsdimensionen herausgearbeitet werden. Verbunden damit ist das Ziel, die im Material enthaltenen unterschiedlichen Theorien von Lerngeschichten (die grounded theories) zu identifizieren. Diese „Charakterisierung der gebildeten Typen“ umfasst auch die Formulierung von entsprechenden Kurzbezeichnungen und wird im Ergebnisteil vorgestellt (Kelle und Kluge 2010, S. 94).

Die zahlenmäßige Darstellung der Zuordnung erfolgt in der Beschreibung der einzelnen Typen; diese Zuordnung erhebt jedoch keinen absoluten Anspruch, denn jeder „subsumierte Einzelfall behält gegenüber seiner Typifizierung […] einen Merkmalsüberschuss, der auch eine andere Eingruppierung (im Rahmen einer anderen Sortierlogik) erlaubt“ (Breuer 2010, S. 90). Die zahlenmäßige Verortung ist im Zuge der Typenbildung von nachrangigem Interesse. Breuer (2010, S. 90) konstatiert, dass es im Rahmen einer Typenbildung nicht um „Auftretenshäufigkeiten, Umfänglichkeiten oder andere Maßzahlen oder Maßzahlendifferenzen von und zwischen unterschiedlichen Typen [geht], sondern um die Herausarbeitung gegenstandsbezogener Systematisierungen, die für Beschreibungs‑, Erklärungs- und Selbst- bzw. Handlungsreflexions-Zwecke tauglich sind“. Da die Stichprobe den Prinzipien des theoretical sampling folgt, dienen die dargestellten Werte der Charakterisierung der Stichprobe; sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität.

4 Ergebnisse

4.1 Lerngeschichten in der Praxis: Eine Typologie

Die untersuchten Lerngeschichten weisen hinsichtlich ihres Aufbaus und Inhalts eine große Heterogenität auf. Die Heterogenität des Konzepts Lerngeschichte zeigt sich an der Typologie der Lerngeschichten, die entlang der beiden Merkmale Fokus der Beobachtung und Intensität der Analyse strukturiert ist:

  1. 1.

    Der Fokus der Beobachtung in den untersuchten Lerngeschichten bewegt sich zwischen einem sehr allgemeinen, abstrakten Blick auf die beobachteten Situationen („Du spielst gerne in der Bauecke.“) über konkrete Beobachtungen („Du hast einen sehr hohen Turm aus Plastikbechern gebaut.“) bis hin zu detaillierten Beschreibungen („Zuerst hast du dir die Kiste mit den Plastikbechern herangezogen und die Becher nach Farben sortiert. Dann hast du begonnen, mit den roten Bechern die unteren Etagen eines Turmes zu bauen …“).

  2. 2.

    In Bezug auf die Intensität der Analyse der geschilderten Beobachtung(-en) zeigen die Lerngeschichten ebenfalls eine große Variationsbreite. Ein Teil der Lerngeschichten enthält keinerlei Analyse, sondern lässt die Schilderung der Situation ohne weitere Ausführungen stehen. Ein weiterer Teil enthält eine Analyse in Form einer Zuordnung der beobachteten Situation zu einem Bildungsbereich, einer Entwicklungsaufgabe oder bestimmten (vermuteten) Gefühlen des handelnden Kindes („Du schulst dein Balancegefühl und deine Koordination.“; „Du ärgerst dich zwar immer noch, wenn etwas nicht sofort funktioniert …“). Schließlich finden sich Lerngeschichten, die die Beobachtung bewerten und zwar meist positiv in Form eines Lobes („Das machst du gut.“).

Die in Kombination dieser beiden Merkmale und ihrer Dimensionen entwickelte Typologie mit sechs unterschiedlichen Typen von Lerngeschichten ist in Tab. 1 dargestellt. Die Übersicht zeigt die jeweils entwickelten Kurzbezeichnungen und für jeden Typ eine zusammenfassende Beschreibung in einem Satz.

Tab. 1 Typen von Lerngeschichten

Die Kombination aller relevanten Merkmalsdimensionen ergibt theoretisch neun Typen. Bei der Zuordnung der einzelnen Lerngeschichten zu den Typen zeigte sich jedoch, dass die Unterschiede zwischen den Lerngeschichten nicht bei allen Kombinationsmöglichkeiten deutlich hervortreten. Mit dem Ziel der Reduktion (Kluge 1999) wurden deshalb an mehreren Stellen Dimensionen zusammengefasst, so dass insgesamt nur sechs, sich deutlich gegeneinander abgrenzbare Typen gebildet werden. Alle Lerngeschichten konnten diesen sechs Typen eindeutig zugeordnet werden.

4.2 Typenbeschreibung

4.2.1 Typ Ereignisbericht

Lerngeschichten des Typs Ereignisbericht stellen eine besondere Begebenheit aus dem Alltag in der Kindertageseinrichtung dar, beispielsweise einen Ausflug oder eine besondere Bastelaktion. Der Ablauf des berichteten Ereignisses wird möglichst umfassend wiedergegeben und mit vielen Details und Fotos ausgeschmückt. Der Fokus der Ereignisberichte ist allgemein und stellt das Ereignis in den Mittelpunkt, nicht die Lernerfahrungen und Bildungsprozesse einzelner Kinder. Deshalb sind diese Lerngeschichten üblicherweise auch nicht an ein einzelnes Kind, sondern an alle beteiligten Kinder adressiert. Eine Interpretation in Bezug auf die Entwicklung eines einzelnen Kindes oder eine Bewertung individuellen Verhaltens finden aufgrund dessen ebenso wenig statt wie die Anregung von sich anschließenden weiteren Aktivitäten bzw. Entwicklungsschritten. 48 der untersuchten Geschichten bzw. 14 % lassen sich diesem Typ zuordnen.

4.2.2 Typ Fotostory

In diesen Lerngeschichten stehen Fotos im Vordergrund. In der Regel bestehen die Lerngeschichten aus mehreren Fotos, die eine Situation zu verschiedenen Zeitpunkten dokumentieren. Zur Ergänzung enthalten Fotostorys einen kurzen, oft handschriftlichen Text. Dieser besteht häufig aus einem Zitat des Kindes, was durch Anführungszeichen deutlich gemacht wird. Bei jüngeren Kindern, die noch wenig sprechen, werden dem Kind teilweise auch Aussagen in den Mund gelegt. Diese Lerngeschichten haben meist rein dokumentarischen Charakter, enthalten also weder Interpretation noch Bewertung und geben auch keine Empfehlungen für etwaige nächste Entwicklungsschritte des Kindes. Sie machen 11 % (n = 38) der untersuchten Lerngeschichten aus.

4.2.3 Typ Mikrobeschreibung

Die Mikrobeschreibung umfasst Lerngeschichten, die eine kurze Handlungssequenz aus dem Alltag eines einzelnen Kindes minutiös wiedergeben. Sehr präzise werden Mimik, Gestik und verbale Ausdrucksformen beschrieben, so dass auch die kleinsten Verhaltensweisen erfasst werden. Diese genaue Beschreibung bleibt jedoch weitgehend unkommentiert und wird weder interpretiert noch bewertet. Auch werden keine nächsten Entwicklungsschritte empfohlen oder angeregt. Viele Lerngeschichten vom Typ Mikrobeobachtung enthalten keine Fotos; sie umfassen meist ca. eine Seite Text. Von den untersuchten Lerngeschichten entfallen 30 auf diesen Typ, das entspricht 9 %.

4.2.4 Typ Sammelrezension

In diesen Lerngeschichten werden mehrere Situationen zusammengefasst, die von der pädagogischen Fachkraft als typisch für das Kind eingestuft werden. Dabei werden oft systematisch verschiedene Bildungsbereiche (z. B. Basteln und Bauen, Sport und Bewegung, Sozialverhalten, Musik, Naturwissen und Experimente) einbezogen, so dass ein umfassendes Bild von den Aktivitäten und Vorlieben des Kindes gezeichnet wird. Die einzelne Situation wird dabei jeweils nur kurz und allgemein angerissen und meist in einen größeren Entwicklungskontext eingeordnet und auch entsprechend bewertet. Dabei wird fast ausschließlich auf Erreichtes und fast nie auf wahrgenommene Unzulänglichkeiten eingegangen. Diese Lerngeschichten sind oft relativ lang und umfassen mehrere Seiten, zudem werden sie meist reichhaltig durch Fotos illustriert. Mit 93 der untersuchten Lerngeschichten (28 %) hat dieser Typ den größten Anteil an den analysierten Lerngeschichten.

4.2.5 Typ Forschungsbericht

Diese Lerngeschichten sind durch die detaillierte Wiedergabe einer Situation sowie durch eine fragend-explorierende Herangehensweise gekennzeichnet. Der genauen Beschreibung einer Situation folgt eine Interpretation im Sinne einer Einordnung in einen größeren Kontext, wobei hier weniger allgemeine Entwicklungsmuster als vielmehr der individuelle Entwicklungsverlauf des Kindes berücksichtigt wird. Die Interpretation wird in einigen Lerngeschichten auch formal von der Beschreibung durch eine Zwischenüberschrift („Was hat E. meiner Meinung nach gelernt?“) getrennt; dabei wird sprachlich von der Verwendung der zweiten Person im Beschreibungsteil zur dritten Person gewechselt. Einige Lerngeschichten des Typs Forschungsbericht enthalten zudem Fragen an das Kind, die der Überprüfung der Interpretationen der Fachkraft dienen. Auch auf diese Weise wird der subjektive Charakter der Lerngeschichte expliziert. Diese Lerngeschichten enthalten meist auch Empfehlungen für weitere Aktionen, die an das Beobachtete anschließen. Nur wenige Lerngeschichten verbinden die Begründung für die Anregung nächster Entwicklungsschritte mit einer Bewertung des Verhaltens des Kindes oder streuen an anderer Stelle lobende Worte ein. Die meisten Lerngeschichten dieses Typs enthalten Fotos; sie umfassen in der Regel ein bis zwei Seiten. Dieser Teil der Lerngeschichten macht 22 % der untersuchten Lerngeschichten aus (n = 75).

4.2.6 Typ Leistungs- und Fortschrittsbericht

Die Lerngeschichten des Typs Leistungs- und Fortschrittsbericht konzentrieren sich auf eine kürzere Handlungssequenz. Diese werden aber anders als in der Mikrobeschreibung und im Forschungsbericht in erster Linie im Kontext der Entwicklung messbarer Leistungen interpretiert und bewertet. So geht es inhaltlich vornehmlich um besondere Entwicklungsschritte (z. B. Laufen lernen, eigenständiges Essen) oder um schulrelevante Fähigkeiten des Kindes (z. B. Rechnen, Regeln lernen). Teilweise wird in diesen Lerngeschichten auch die Überwindung eines als störend empfundenen Verhaltens geschildert (z. B. Aufstehen im Morgenkreis). Insofern haben diese Lerngeschichten eher rückblickenden Charakter und resümieren eine positive Entwicklung; zukünftige Entwicklungsschritte oder mögliche Angebote an das Kind werden nicht genannt. Auch bei diesem Typ sind die meisten Lerngeschichten mit Fotos illustriert. Die Länge variiert stark zwischen wenigen Sätzen und mehreren Seiten. 54 der untersuchten Lerngeschichten (das entspricht 16 %) gehören diesem Typ an.

5 Diskussion

Die Analyse der 338 Lerngeschichten fördert eine große Bandbreite in der Umsetzung des Konzepts zutage. Es zeigt sich, dass viele von den an der Untersuchung beteiligten Einrichtungen auch solche Dokumente als Lerngeschichten einstufen, die den Prinzipien des ursprünglichen Konzepts von Carr bzw. der deutschen Adaption durch das DJI nicht entsprechen. So sind Lerngeschichten des Typs „Ereignisbericht“ genau betrachtet Angebotsgeschichten: In ihnen wird gezeigt, welche Angebote von den pädagogischen Fachkräften gemacht werden, nicht jedoch, was einzelne Kinder bei diesen Angeboten lernen, so dass das impression management der einzelnen Einrichtung im Sinne Goffmans (1999) im Vordergrund steht (Knauf 2016). Ein großer Teil der Lerngeschichten (Typen Ereignisbericht, Fotostory und Mikrobeobachtung) enthält gar keine Interpretation des Beobachteten. Ihnen fehlt so auch der für das Lerngeschichten-Konzept konstitutive Bezug zu Lerndispositionen. Die Autorinnen und Autoren dieser Lerngeschichten scheinen bestrebt zu sein, Situationen und Ereignisse entweder möglichst neutral oder mit Blick auf eine positive Darstellung der Angebote der Einrichtung wiederzugeben.

Insbesondere die Leistungs- und Fortschrittsberichte, aber zum größten Teil auch die Sammelrezensionen, legen einen äußeren Maßstab an das Verhalten der Kinder an, indem sie Bildungsbereiche oder theoretisch definierte Entwicklungsschritte beobachten, festhalten und lobend kommentieren. Während dieser Brückenschlag zu Bildungsbereichen bei Leu et al. (2007) auch explizit angeregt wird, ist es im Konzept der Lerngeschichten nach Carr hingegen das Ziel, für die Kinder bedeutsame Situationen und Erfahrungen zu identifizieren und dabei keine äußeren Kategorien (außer den Lerndispositionen) anzulegen (Carr und Lee 2012). Nur der Typ Forschungsbericht, also etwa ein Fünftel der untersuchten Lerngeschichten, entspricht diesen Anforderungen des ursprünglichen Konzepts.

Die untersuchten Lerngeschichten weisen nur zu einem kleinen Teil dialogische Anteile auf, indem sie Zitate des Kindes einbeziehen (z. B. Typ Fotostory) oder mit Fragen an das Kind arbeiten oder sogar Antworten des Kindes in die Geschichte einbeziehen. Im Gegensatz dazu ist die deutliche Mehrzahl der Lerngeschichten über das Kind geschrieben und nicht mit ihm. Für die Anbahnung von Reflexion über das Lernen wird aber gerade die Einbeziehung der Kinder in die Lerngeschichten im Sinne eines Sustained Shared Thinking (Siraj-Blatchford 2009) als eine zentrale Voraussetzung betrachtet. Neben der Perspektive von Kindern im Text selbst kann dies auch in anschließenden Gesprächen stattfinden, für die die Lerngeschichte einen Anlass bietet (Carr und Lee 2012). Hier stößt der dokumentenbasierte Forschungsansatz der vorliegenden Studie an seine Grenzen, weil die weitere Verwendung der Lerngeschichte oder auch zuvor stattgefundene Gespräche nicht in die Analyse einbezogen wurden und deshalb darüber keine Aussagen getroffen werden können.

Der Befund, dass letztlich nur ein kleiner Teil der untersuchten Lerngeschichten dem ursprünglichen Konzept entspricht, deutet darauf hin, dass die Umsetzung von Lerngeschichten sehr anspruchsvoll ist. Damit schließen die Untersuchungsergebnisse an andere Studien (Müller und Zipperle 2011; Haas 2012; Moritz et al. 2012) an. Für die Erstellung einer Lerngeschichte, und sei sie noch so kurz, bedarf es kontinuierlich beobachtender und dokumentierender Fachkräfte (Carr 2001). Die Integration des Handlungsmodus des Beobachtens und Dokumentierens in die Arbeit mit den Kindern stellt nach wie vor eine hohe Anforderung dar, die in der praktischen Umsetzung zu Zeitkonkurrenzen führt (Kroeger und Cardy 2006). Zu bedenken ist auch, dass in den vergangenen Jahren die Anforderungen an die Arbeit pädagogischer Fachkräfte zwar deutlich gestiegen sind, Zeit- und Personalressourcen hingegen jedoch kaum angepasst wurden (Viernickel et al. 2013).

Verbunden mit dieser organisatorischen Herausforderung ist darüber hinaus eine hohe Anforderung an die Sichtweise der Fachkräfte auf das Kind sowie ihr professionelles Selbstverständnis. So deutet der hohe Anteil der Lerngeschichten in der hier vorgestellten Untersuchung (vor allem Typ Leistungsbericht, teilweise aber auch Typ Sammelrezension), die das Verhalten der Kinder bewerten, darauf hin, dass viele Fachkräfte sich eher in der Rolle der Beurteilenden sehen. Nur in einem kleineren Teil der Lerngeschichten (Typ Forschungsbericht, teilweise Typ Sammelrezension) wird die fachliche Expertise der Fachkräfte in Form von Interpretationen eingebracht ohne dabei ein Urteil zu fällen.

Es ist nicht überraschend, dass reale Lerngeschichten nicht immer dem ihnen zugrundeliegenden theoretischen Konzept folgen. Jedoch stellt sich die Frage, woher der (in immerhin ca. einem Drittel der Lerngeschichten beobachtbare) Impuls kommt, das Verhalten bzw. die Aktivitäten der Kinder zu bewerten. Diese Beobachtung steht in deutlichem Widerspruch zu den Zielen des Konzepts der Lerngeschichten. Carr grenzt ihre Konzeption der Lerngeschichten klar von einem klassischen Assessment ab (Carr 2001). Auch die deutsche Adaption durch das DJI sieht zwar Einschätzungen und Interpretationen sowie eine „Anerkennung der Lernaktivitäten des Kindes“ (Leu et al. 2007, S. 76) vor, aber keine Bewertung. Die Bedeutung der Bewertung kindlichen Handelns steht zudem im Gegensatz zu weit verbreiteten Prinzipien frühpädagogischer Arbeit in Deutschland insgesamt. Denn gerade in Deutschland gibt es traditionell sowohl in der theoretischen Diskussion als auch in der Praxis das Bestreben, sich als Frühpädagogik deutlich von jeglicher Form schulförmiger Leistungsmessung abzugrenzen (Konrad 2014). Die Begründung von Bildungsdokumentation mit einer sozialkonstruktivistischen Perspektive (z. B. Schäfer und Beek 2013; vgl. auch Abschn. 2.2) steht im Kontrast zu der hier konstatierten bewertenden Sicht auf kindliches Verhalten.

Die Analyse der Lerngeschichten weist auf eine grundsätzliche Spannung zwischen zwei Zielen hin: Bildungsdokumentation soll einerseits prüfen, diagnostizieren und bewerten und andererseits verstehen, analysieren, Bildungsprozesse anreichern. Sie soll sich einerseits vom schulischen Lern- und Leistungsbegriff abgrenzen und Neugier, Selbsttätigkeit und Aktivität der Kinder in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Andererseits sind frühpädagogische Einrichtungen aber auch ein Teil des Bildungssystems, in dem genau diese Lern- und Leistungsanforderungen zentral sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass unter dem Sammelbegriff der Lerngeschichten derartig unterschiedliche Texte entstehen, die je zu einem Teil der Erforschung kindlichen Lernens, der leistungs- und entwicklungsbezogenen Beurteilung oder der Archivierung positiver Erlebnisse dienen. Das Changieren zwischen Bildungsdokumentation als Erforschung von Lernprozessen und als Bewertung kindlichen Verhaltens kann dabei als Gestaltungsfreiraum für pädagogische Fachkräfte, aber auch als Unentschiedenheit in der programmatischen Orientierung der frühkindlichen Bildung in Deutschland interpretiert werden.

Die vorliegende Studie bietet eine erste dokumentenbasierte Analyse von Lerngeschichten, die einrichtungs- und trägerübergreifend erhoben wurden. Weiterführende Studien können mit einer verbreiterten Datengrundlage die hier entworfene Typologie weiter differenzieren. Zudem wäre es sinnvoll, die hier vorgenommene reine Dokumentenanalyse durch zusätzliche Formen der empirischen Sozialforschung (Beobachtung, Befragung) zu ergänzen, um den gesamten Prozess der Arbeit mit Lerngeschichten in den Blick zu nehmen. Ebenso wären fallbezogene Analysen aufschlussreich, die die Kombination der Lerngeschichten mit anderen Verfahren der Beobachtung und Dokumentation beleuchten.