1 Die bildungspolitische Ausgangslage

Exzellenzinitiativen, Exzellenzcluster, Eliteuniversitäten, Prime-Gymnasien, Hochbegabtenförderung, Kampf um die besten Köpfe etcetera: Derartige Begriffskonstruktionen im semantischen Umfeld von „Elitebildung und Bildungselite“ (Ecarius und Wigger2006) waren bis vor kurzem in Deutschland eher marginal (vgl. Groppe2006). Inzwischen sind sie geläufig (vgl. zur deutschen Elitedebatte Bluhm und Straßenberger2006). Neben die Befürchtung, dass zu viele Jugendliche nicht einmal ein Bildungsminimum erreichen, tritt zunehmend die Klage, dass die in und von deutschen Schulen und Hochschulen erzielten Leistungen international keineswegs „spitze“ seien (vgl. van Ackeren2008). Das gefährde die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Für die Bildungs- und Wissenschaftsförderung müsse deshalb gelten: „‚Leuchttürme‘ und ‚Elite‘ statt ‚Gießkanne‘ und ‚Egalität‘“ (Barlösius2008, S. 151).

Diese Veränderung der öffentlichen Semantik wird von einer Reihe weiterer Entwicklungen begleitet: Im Bildungs- und Hochschulwesen gewinnen internationale Vergleichsstandards an Bedeutung, verbunden mit einem globalisierten und nationalen Dauermonitoring und entsprechenden Rankings. In deutschen Schulen und Hochschulen wächst der Einfluss des New Public Management und es wird von der Input- auf Outputsteuerung umgestellt. Damit ist die verstärkte Betonung der Autonomie der Bildungsinstitutionen und des Wettbewerbes zwischen ihnen verknüpft: Einzelne Schulen und Hochschulen werden zunehmend als eigenverantwortliche Handlungssubjekte gesehen, die für ihre Erfolge oder Misserfolge selbst einzustehen haben und miteinander in Konkurrenz treten. Profilbildungs- und Marketingstrategien kommen zum Einsatz und erste Anzeichen für die Installierung von Bildungsmärkten bzw. Quasi-Bildungsmärkten (vgl. Weiß2001; Bellmann2006,2008; Sackmann2010) sind zu erkennen. All dies deutet darauf hin, dass das bisherige quasi-ständische Bildungssystem in Deutschland, das von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Bildungsabschlüsse und Bildungseinrichtungen gleichen Niveaus ausging (sog. „Gleichheitsfiktion“), jetzt von vertikalen Differenzierungen innerhalb der jeweiligen Bildungsniveaus überlagert wird.

Diese Entwicklungen vollziehen sich an verschiedenen Orten des deutschen Bildungswesens mit unterschiedlicher Deutlichkeit. So wie im 19. Jahrhundert die Systembildung und Regulierung der Bildung in Deutschland „von oben“ durch die Regelung der Universitätszugänge und das Abitur erfolgten und dann in die Breite des Bildungswesens ausstrahlten (vgl. Müller1977), so entstehen heute, ausgehend vom Hochschulwesen, neue vertikale Disparitäten zwischen bisher gleichrangigen Bildungsinstitutionen und strahlen in die vorgelagerten Bildungsebenen aus. Im internationalen Vergleich wird sichtbar, dass dieser Vertikalisierungsprozess kein deutsches Spezifikum ist, sondern in ähnlicher Weise auch in anderen zeitgenössischen Bildungssystemen auftritt (vgl. Teichler2005; Shavit et al.2007; Kreckel2008; Palfreyman und Tapper2009). Diese Entwicklungen lassen sich im Horizont der Globalisierung und Internationalisierung von Bildung, Bildungsstandards, von Bildungsvergleichen und Bildungsmonitoring verorten (vgl. zur Internationalisierung und „World-Culture“ Schriewer2000; Fuchs2003; Meyer2005; Lechner und Boli2006; Adick2008; Jacobi2007; Martens et al.2007; Ramirez2010).

Die Exzellenzinitiative im deutschen Hochschulwesen erzeugt nicht nur neue distinktive Absetzungen und neue soziale Konstruktionen von Exzellenz, sondern ist auch mit einer Neuverteilung von Ressourcen verbunden. Für Münch (2007,2008,2009a,b,2011) bilden sich damit neue Machtdispositive und Monopolstrukturen heraus, die zu vertikalen Schließungen im Feld der Hochschulen und der Forschung tendieren. Für die Schulen ist dies weniger offensichtlich: Eine der Exzellenzinitiative im Hochschulbereich vergleichbare Ausstattung mit unterschiedlichen Ressourcen ist bislang ebenso wenig vorhanden (vgl. Zymek2009) wie deutlich abgesetzte Elite-Schulen, die etwa in Frankreich, England oder in den USA eine lange Tradition besitzen (vgl. Hartmann2002,2004). Vertikale Differenzierungen zeigen sich hier vor allem als Unterschiede der Profile, der Tradition und des Rufs von Schulen, die hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Schüler- und Elternschaft von Schulen derselben Schulform durchaus zu starken Unterschieden führen (vgl. Baumert et al.2003; Watermann et al.2005; Standfest et al.2005; Baumert et al.2006; Maaz et al.2009). Hinzu kommt eine verstärkte Gründung von Schulen in privater Trägerschaft (vgl. Ullrich und Strunck2008,2009), von bilingualen oder internationalen Schulen auch im Grundschulbereich. Dies führt insgesamt auch im Schulbereich zur stärkeren distinktiven Profilierung, vertikalen Hierarchiebildung und zur Konkurrenz zwischen Schulen (vgl. Bellmann2006,2008). Ebenso gewinnt seit Ende der 1990er-Jahre eine Elitebildung im Bereich der elementaren Bildung wachsende Aufmerksamkeit. Viele Einrichtungen geraten durch pädagogische Diskurse der sogenanntenEarly Excellence und den demographischen Wandel unter Legitimations- und Wettbewerbsdruck und werben mit speziellen Angeboten, die sich explizit von Regelangeboten abzuheben suchen. In diesem Prozess ist des Weiteren zu beobachten, dass sich an einigen Orten privat-gewerblich betriebene Einrichtungen etablieren, die mit ihrem Angebot exklusiv auf Eltern aus oberen ökonomischen und kulturellen Milieus zielen. Solche Distinktionsprozesse erscheinen für Deutschland in der bisherigen Struktur des Elementarbereichs als systemfremd und werden politisch äußerst kontrovers diskutiert. Insgesamt könnten also die Entwicklungen des Hochschulbereiches auf die anderen Felder der Bildung ausstrahlen: etwa, frühestmögliche Bestenförderung, verstärkte Bedeutung zusätzlicher informaler und nonformaler, möglichst hochkultureller und internationaler Bildungsangebote zur Bildungsvervollkommnung (vgl. etwa Grunert2005), lebenslange exzellente Weiterbildung etc.

Zusammenfassend lässt sich dies zu der These verdichten, dass das deutsche Bildungssystem durch eine Gleichzeitigkeit von Inklusions- und Exklusionstendenzen gekennzeichnet ist: Einerseits ist – vor dem Hintergrund besonders gravierender Bildungsungleichheiten und Leistungsmängel im internationalen Vergleich (vgl. u. a. Baumert2003; Prenzel und Baumert2008) – eine mehr oder weniger zögerliche Öffnung zu beobachten. Andererseits entstehen zusätzliche vertikale Distinktionen, die neue Ungleichheiten im Bildungssystem hervorbringen. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass es sich bei den skizzierten Entwicklungen nicht nur um bloße rhetorische Effekte handelt, sondern dass im deutschen Bildungssystem ein Prozess der sozialen Konstruktion und institutionellen Verfestigung von neuen Bildungsdistinktionen in Gang gekommen ist, der gewissermaßen „in statu nascendi“ (vgl. Mannheim1958) sozialwissenschaftlich erforscht werden kann.

2 Elitetheorien und das Bildungswesen

Die Einschätzung dieser idealtypisch skizzierten Prozesse ist eng mit unterschiedlichen theoretischen Elitemodellen verbunden. Dabei sind die Begriffe ‚Elite‘ und ‚Exzellenz‘ schillernd und unscharf, wobei der Elitebegriff eher mit Fragen von sozialer Hierarchie und sozialem Status, der Exzellenzbegriff eher mit herausragenden Leistungen in Verbindung gebracht wird (vgl. etwa Imbusch2003; Maaz et al.2009; Ricken2009; als Überblick Wasner2004). Steven Lukes hat in seiner klassischen Abhandlung über den sozialwissenschaftlichen Begriff der Macht diesen als „ineradicably evaluative and ‚essentially contested‘“ (2005, S. 9) charakterisiert, sodass es „die“ Theorie der Macht nicht geben könne. Das gilt ähnlich für den Elitebegriff. Hier wie dort stehen insbesondere der Leistungsaspekt und der Hierarchieaspekt in einem Spannungsverhältnis zueinander. Daraus ergibt sich die Frage, ob bestimmte Macht- bzw. Elitekonstellationen eher im Hinblick auf ihren Ertrag für übergreifende Werte und Ziele und/oder eher im Hinblick auf die Privilegierung begrenzter Interessen und Personengruppen in den Blick genommen werden. Letzteres gilt für die klassischen Elitetheorien (z. B. Mosca1950; Pareto1962) und setzt sich fort bis zu Autoren wie Mills (1956) und Bourdieu (1980), bei denen eine deutliche Dichotomie von Elite und Nicht-Elite dominiert. Dies wird von Differenzierungstheoretikern (vgl. Keller1963; Parsons1977; Luhmann1997; Nassehi2004,2006) infrage gestellt. Das Konzept funktional ausdifferenzierter Führungs- und Leistungseliten hebt die horizontale Differenz hervor, die nicht linear in eine gesamtgesellschaftliche vertikale Machtordnung übersetzbar ist, betont die Rekrutierung durch Leistung und relativiert die deutliche Absetzung der Eliten vom Rest der Gesellschaft. Dies verbindet sich mit demokratietheoretischen Konzepten (vgl. Dahrendorf1962,1968; Dreitzel1962; Zapf1965; Hoffmann-Lange2003), in denen die „credentialistische“ Perspektive (Collins1979) der Eliterekrutierung über zertifizierte Leistung stärker betont wird.

Neuere kritische Elitetheorien betonen dagegen, dass der Zugang zu privilegierten Bildungstiteln nach wie vor an die ökonomischen, insbesondere aber kulturellen und sozialen Ressourcen und Kapitalien von Herkunftsmilieu und -familie gebunden bleiben (vgl. Bourdieu1980,2004,2006; Hartmann2002,2004; Karabel2005; Krais2001,2003; Vester2003; Vester et al.2001). Dazu gehören auch diskursanalytische Ansätze, die Elite oder semantische Derivate wie Exzellenz als strategische Selbst- oder Fremdzuschreibungen fassen (vgl. Ricken2009; Münch2007). Die Rede von Elite und vergleichbaren Konzepten erscheint hier, gleich ob programmatisch oder pejorativ gefärbt, stets als politisch: Es handelt sich um diskursive Einsätze in Machtspielen, die soziale Exklusionsprozesse und die asymmetrische Verteilung von Ressourcen produzieren und legitimieren, aber auch problematisieren. Je nach Elitetheorie wird die Etablierung vertikaler Differenz unterschiedlich bewertet: als Möglichkeit einer Optimierung der Förderung der Besten und Stärkung des Leistungsprinzips oder als Schließung und neue Form der Exklusion.

Geht man also im Lukesschen Sinne vom „essentiell umstrittenen“ Charakter des Elite-Konzepts aus, so mündet die Diskussion in eine relativistische Pattsituation, die je nach gewählten Prämissen zu unterschiedlichen Einschätzungen führt. Daher beziehen wir uns nicht eindimensional auf eine der skizzierten Elitetheorien. Vielmehr begreifen wir das neue öffentliche und wissenschaftliche Interesse an Begriffen wie Elite, Exzellenz etc. als einen Ausdruck der skizzierten vertikalen Differenzierungen, der Relativierung der „Gleichheitsfiktion“ und der Etablierung neuer Bildungshierarchien, die es in ihrem Prozessieren zu untersuchen gilt.

Dabei sind wir in der günstigen Lage aus mehreren Theorietraditionen schöpfen zu können: Einerseits lässt sich das den öffentlichen bildungspolitischen Diskurs stark prägende Innovationskonzept (vgl. Müller-Böling2000; Wissenschaftsrat2005; Blossfeld et al.2007; EFI2009) nennen, das als eine der zentralen Voraussetzungen für den Erhalt der nationalen Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit Leistungssteigerungen für das Bildungs- und Forschungssystem in seiner ganzen Breite und Differenzierungen in der Spitze postuliert und dabei verstärkte Autonomie, Profilbildung und Wettbewerb zwischen einzelnen Bildungseinrichtungen hervorhebt.

Andererseits kann an das die neuere empirische Bildungsforschung stark prägende Statuserhaltungskonzept (vgl. Boudon1974; Becker1993; Blossfeld und Shavit1993; Shavit und Blossfeld1993; Breen und Goldthorpe1997; Esser1999; Becker und Lauterbach2007; Goldthorpe2007) angeknüpft werden, das – in Fortschreibung der Rational-choice-Theorie und der Humankapital-Theorie betont, dass im Zeitalter der Bildungsexpansion für die von Statuskonkurrenz bedrohten Angehörigen gehobener Schichten die Investition in hohe Bildung für ihre Kinder typischerweise die höchste Priorität habe.

Des Weiteren ist Bourdieus Habitustheorie (vgl. z. B. Bourdieu und Passeron1971; Bourdieu1980,1992,2004) anzuführen, die sich – z. T. auch aufgrund ihres Ursprungs in Frankreich – stärker mit dem Zusammenhang von Bildung und Elitenreproduktion befasst als das eher auf die gehobenen Mittelschichten blickende Statuserhaltungskonzept. Oberen Schichten stünde in der Regel das für hohe Bildungsinvestitionen erforderliche ökonomische, kulturelle und soziale Kapital zur Verfügung. Dies sei bei den Angehörigen niedrigerer Schichten hingegen weniger der Fall. Deshalb sei zu erwarten, dass Erstere alles tun werden, um ihrem Nachwuchs zu möglichst günstigen Ausgangspositionen im Bildungssystem zu verhelfen – u. a. durch die Wahl einer „distinktiven“ Grundschule, eines prestigeträchtigen Gymnasiums und eines aufstiegsförderlichen Studienortes, eventuell im Ausland oder in einer „exklusiven“ Privathochschule. Abgesehen von Unterschieden in der Ausarbeitung von Elitetheorien kommen beide Theorieansätze aber zu recht ähnlichen Befunden (vgl. Vester2006).

Diskursanalytische und auf die Gouvernementalität des Bildungssystems abhebende Forschungen schließlich (Hunter1994; Marshall1996; Besley2002; Ricken und Rieger-Ladich2004; Weber und Maurer2006; Dzierzbicka2006; Masschelein et al.2007; Ricken2009) beschreiben die zeitgenössischen Transformationen des Bildungssystems im Zeichen des Wettbewerbs. Im Zentrum steht hier die über programmatische Diskurse, institutionelle Praktiken und die mit beiden verbundenen Subjektanrufungen vermittelte Ratio der Vermarktlichung, innerhalb derer Elite- und Exzellenzpostulate als Strategien zur (Selbst-)Mobilisierung unternehmerischer Bildungsakteure fungieren.

Auch die Systemtheorie geht mit der Einführung des binären Schemas Inklusion/Exklusion (vgl. Luhmann1995,1998) verstärkt auf soziale und Bildungsungleichheit ein (vgl. Stichweh2005; Bohn2006; Farzin2006; Stichweh und Windolf2009). Zwar wird die grundlegende These aufrecht erhalten, dass soziale Ungleichheit in den Funktionssystemen angesiedelt sei und damit teilsystemspezifisch in Erscheinung trete (vgl. Stichweh2005; Schimank1998; zu Inklusionsmustern etwa Burzan et al.2008), aber die Differenzierungstheorie wird, um die unabweisbare Bildungsungleichheit angemessener fassen zu können, weiter untersetzt durch neue „Querperspektiven“, etwa durch die Annahme von „Interdependenzunterbrechungen“ zwischen den Teilsystemen. Damit wird eingeräumt, dass sich Vorteile in einem Teilsystem auch in anderen auswirken und eine Kumulation von Ungleichheiten entstehen könne (vgl. Stichweh2005; Windolf2009). Nassehi (2004) sieht die neuen Eliten, die sich durchaus aus den Funktionseliten rekrutieren und von tradierter hochkultureller Bildung profitieren, als „Differenzierungsparasiten“, die quer zu den Teilsystemen von Kopplungen profitieren und sich als Übersetzungsvirtuosen betätigen. Dies verbindet sich damit, dass die Teilsysteme in Form verschiedener „Inklusionsregimes“ – Organisation, Netzwerk und Markt – selbst „extreme Formen von Ungleichheit“ erzeugen (Windolf2009, S. 19). Auch in systemtheoretischen Ansätzen zeigt sich somit eine wachsende Sensibilität für neue Formen exklusiver (Bildungs-)Ungleichheit.

All diese Ansätze weisen – mit unterschiedlichen Theoriekonstruktionen und Semantiken – somit verstärkt auf soziale Ungleichheiten und Veränderungen im Bildungssystem hin. Da die unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen und normativen Implikationen dieser Ansätze allerdings nicht zu leugnen sind, wählen wir als paradigmenübergreifenden Oberbegriff das Konzept der Mechanismen der Elitebildung (vgl. Hedström2008). Mechanismen-Konzepte können als Theorien mittlerer Reichweite bei einer Verbindung des analytischen Kerns von aus unterschiedlichen Theorieschulen stammenden Elementen helfen (vgl. Hedström und Bearman2009). Unter einer Elitebildung werden hier von individuellen und kollektiven Akteuren meist intendiert verfolgte Prozesse einer hierarchisch interpretierbaren Differenzierung im oberen Bereich des Bildungssystems verstanden, die sich zu sozialen Mechanismen der Einrichtungswahl, der Bewerberauswahl, der Distinktion und Kohärenzherstellung verdichten können. Es ist offen, ob dadurch personale Eliten entstehen, da diese im Grad der Verfestigung variieren. Elitebildung bezieht sich erstens auf die Rechtfertigungsmuster, die vertikale Differenzierungen im Bildungssystem begründen, zweitens auf die Praktiken, welche diese Differenzierungen realisieren, und drittens auf die individuellen und institutionellen Selbstbilder, die darauf aufbauen.

Als Mechanismen der Einrichtungswahl im Bildungssystem werden hier Wahlentscheidungen von Eltern oder jungen Erwachsenen an Bildungsgelenkstellen für vertikal als höherwertig angesehene Bildungseinrichtungen bezeichnet, bei denen es sich nicht um die lokal nächste Einrichtung handelt (vgl. Breen und Goldthorpe1997; Esser1999; Becker2000; Ball2003; Forsey2008). Als Mechanismen der Bewerberauswahl werden in der Tradition der Schließungstheorie (vgl. dazu Murphy1988; Kreckel2004; Mackert2004) konkrete (nicht selten institutionalisierte) Verfahren der Auswahl von Bildungsadressaten beim Zugang zu Bildungseinrichtungen verstanden (vgl. Turner1960). Als Mechanismen der Distinktion (vgl. als Überblick Diaz-Bone2002; Daloz2007) gelten einerseits die Wahrnehmung als vertikal unterschiedener Bildungseinrichtungen und -praktiken sowie andererseits die Setzung von auch vertikal verstandenen Unterschieden in Bildungshandlungen (vgl. Mehan et al.1996; Reckwitz2003; Kalthoff2004). Als Mechanismen der Kohärenzherstellung werden Formen der kollektiven Identitätsbildung bezeichnet, die zu einer Homogenisierung von Erwartungen, Werten und Praktiken führen, die als mit eigenen früheren Leistungen in Verbindung stehende Gruppeneigenschaften interpretiert und in Fremd- und Selbstkommunikationen als different von anderen Gruppen dargestellt werden (vgl. Turner1960; Elias und Scotson1993; Metz-Göckel2004; allgemein zu Elitenkohärenz Augustine2003; Ruostetsaari2008; zu Referenzgruppeneffekten z. B. Marsh1991; zu konkurrierenden Schul- und Peeridentitäten klassisch Coleman1961; kritisch Solzbacher2006).

Mechanismen der Elitebildung sind dabei in Diskurse eingebettet, die verschiedene Dimensionen akzentuieren, und diese Dimensionen besitzen in differenten kulturellen Räumen selbst unterschiedliche Bedeutungen (vgl. für diese interkulturelle Elitenforschung etwa Reis1999; de Swaan2005; Chabal und Daloz2006; Engelstad2006; Daloz2007). Nicht nur die jeweiligen Verständnisse von Elite und Exzellenz sind dabei als Ausdruck sozialer Konstruktionsprozesse der Generierung von Unterscheidungen und Abgrenzungen zu verstehen (vgl. Münch2007; Ricken2009), sondern die Dimensionen und Prozesse sozialer Distinktion sind selbst erst zu rekonstruieren. Ob die Orte der von uns als Bildungselite bezeichneten Einrichtungen und Positionen sich selbst als Elite- oder Exzellenzorte etikettieren oder andere Begriffe und symbolische Formen in der Bildungsdistinktion zur Geltung bringen, ist offen. Das gilt auch dafür, welche Position die Bildungsinstitutionen und -akteure im Feld der gesellschaftlichen Diskurse um Elite, Exzellenz und Bildungsqualität einnehmen bzw. zugewiesen erhalten, wie sie in diese Diskurse involviert werden und sich daran beteiligen. Die von uns definierten Konzepte der Bildungselite und Mechanismen der Elitebildung dienen dabei als heuristische Instrumente für die empirische Rekonstruktion, wie Unterscheidungen in und mit unterschiedlichen distinktiven Semantiken im Rahmen der Bildungsinstitutionen und durch die Bildungsakteure hervorgebracht und konstruiert werden, wie und ob sich daraus für die Bildungsinstitutionen und -akteure neue vertikale Differenzierungen ergeben und wie derartige Unterscheidungen möglicherweise zu neuen Über- und Unterordnungen, zu neuen Hierarchien im Feld der Bildungsmacht führen. Wie Tofte (2010) und Vaughan (2009) gezeigt haben, erfüllen dabei qualitative Methoden eine bisher noch vernachlässigte Rolle bei der Präzisierung von Mechanismen als analytischen Konzepten.

3 Forschungsstand und -desiderata

In Deutschland ist die Forschungslage zu diesem Gegenstandsbereich – ganz im Unterschied zur öffentlichen Aufmerksamkeit, die die Debatte um Elite, Exzellenz und Bildung genießt – äußerst schmal. Zur Konstruktion und Herstellung von Bildungsexzellenz in exklusiven Bildungsorten, Internatsschulen und Gymnasien liegen eher Erfahrungsberichte und programmatische Darstellungen und nur wenige Studien vor, die forschungsmethodischen Ansprüchen genügen (vgl. etwa Kalthoff1997,2006; Böhme2000; Helsper et al.2001,2008). Im Mittelpunkt der ethnografischen Untersuchung von Kalthoff (1997) steht die Analyse der Funktionsweisen des Alltags im Unterricht und Schulleben an drei exklusiven Internatsschulen. Ausgehend von einer mikroanalystischen Umdeutung der Bourdieuschen Theorieperspektive werden Praktiken der sozialen Klassifikation untersucht und der Frage nachgegangen, wie diese Schulen durch ritualisierte Prozesse der Vergemeinschaftung, Disziplinierung und Leistungsorientierung einen Habitus der Wohlerzogenheit erzeugen. Orientiert an einer ähnlichen Theorieperspektive wurden in der qualitativen Längsschnittstudie von Helsper et al. (2008) zunächst die Habitusformen von Lernenden zu Beginn der 5. Klasse auch an einem Gymnasium mit längerer Tradition in den Blick genommen. Für den Hochschulbereich sind hier insbesondere die Arbeiten von Münch (2007,2008,2009a,b,2011) zu nennen, der sich vor allem auf der Basis quantitativer Sekundäranalysen mit den Effekten der Exzellenzinitiative im Bereich der Forschung beschäftigt hat. Hinsichtlich anderer Felder und Institutionen der Bildung finden sich dazu kaum Forschungsergebnisse: Dies gilt sowohl für den Bereich der Elementarbildung (vgl. Spieß et al.2002; Kurz et al.2008), für die Grundschule (vgl. Ramseger und Wagener2008), aber auch für die familiären Bildungsprozesse (vgl. ansatzweise Preißer2003; für das Scheitern von Elitereproduktion Schmeiser2003; für die Bedeutung von Frauen etwa Böhnisch1999) oder die informalen oder non-formalen außerschulischen Bildungsprozesse (vgl. ansatzweise Krüger et al.2008; Grunert2005).

International ist der Forschungsstand zu Elite und Bildung etwas breiter: In Frankreich liegen die inzwischen schon klassisch zu nennenden Arbeiten Bourdieus vor (vgl. Bourdieu1980,2004), und – zum Teil im Anschluss daran – einige neuere Arbeiten (vgl. etwa de Saint Martin1993; Darchy-Koechlin und van Zanten2005; vgl. als Überblick de Saint Martin2008), in denen insbesondere die Auswahlverfahren, die soziale Zusammensetzung sowie die Karrierewege von Studierenden an den exklusiven Grandes Écoles untersucht worden sind. Für den englischen und nordamerikanischen Raum finden sich eine Reihe von Studien zu herausgehobenen High Schools und Internatsschulen (vgl. etwa Wakeford1969; Cookson und Hodges Persell1985; Maxwell und Maxwell1995; Attewell2001), zu Elite-Colleges (vgl. etwa Metz-Göckel2004; Lee2004; Stevens2007; Seider2008; Dowd et al.2008) und auch zu Elite-Universitäten (vgl. z. B. Karabel2005,2009). Vergleichbare Forschung in Deutschland fehlt.

Sowohl national wie international fehlt bisher ein theoretischer und empirischer Ansatz, der Prozesse der Elitebildung verbindet, wie wir dies mit dem Konzept der Mechanismen der Elitebildung anstreben. Hinsichtlich der dargestellten Mechanismen – Einrichtungswahl, Bewerberauswahl, Distinktion und Kohärenzherstellung – sind am ehesten eliteunspezifische Studien für Einrichtungswahl und Bewerberauswahl zu finden. So fokussieren sowohl quantitative wie qualitative Studien zur Einrichtungswahl auf Prozesse der Bildungsexpansion und der Relation von Arbeiter- und Mittelschicht (z. B. Breen und Goldthorpe1997; Becker und Hecken2007; Ball2003,2006). Zum Verhältnis von Mittel- und Oberschichten bei einer unter Bedingungen fortgeschrittener Bildungsexpansion wichtiger werdenden Wahl einzelner Schulen gibt es bisher keine Untersuchungen (vgl. ansatzweise Clausen2006), obwohl gerade hiervon eine restrukturierende Wirkung für Bildungssysteme ausgehen könnte. Bezüglich des Mechanismus der Bewerberauswahl wird international vereinzelt auf die Bedeutung von hochschulischen Aufnahmeprüfungen für eine elitäre Strukturierung von Bildungssystemen hingewiesen (LeTendre et al.2006; Unterweger-Treven2007). Forschungslücken bestehen hier in der Untersuchung der Wirkung alternativer Bewerberauswahlverfahren und in der Abschätzung von deren Wandlungsdynamik. Mit Blick auf den Mechanismus der Distinktion hat zwar bereits Turner (1960) auf die Bedeutung derartiger Unterscheidungen bei der von ihm als „sponsored mobility“ bezeichneten Form von Elitebildung hingewiesen. Die auch von Bourdieu beeinflusste Forschung über Distinktion (im Überblick bei Daloz2007) findet gut dokumentierte Unterscheidungen zwischen Arbeiter- und Mittelschicht, bleibt aber in der bildungsbezogenen Erforschung von Differenzen zwischen Ober- und Mittelschicht vage. US-amerikanische Forschungen (vgl. Peterson und Kern1996) zeigen zudem, dass auch „Allesfresser-Eliten“ gefunden werden, was die Frage aufwirft, ob es sich beim Mechanismus der Distinktion wirklich um eine notwendige Bedingung von Prozessen der Elitebildung im Bildungssystem handelt oder lediglich um koinzidentielle Umstände in einigen europäischen Ländern. Ergebnisse der quantitativen Bildungsforschung (z. B. Mons2008) haben die Frage aufgeworfen, ob der Mechanismus der Kohärenzherstellung für die Leistungsfähigkeit der Spitze abträglich ist. Bekanntlich gibt es in elitären Bildungseinrichtungen mit längerer Tradition wie z. B. den französischen Grandes Écoles oder amerikanischen Prep-Schools (vgl. Attewell2001; Unterweger-Treven2007) die Praxis, zwar selektiv im Zugang, aber wenig differenzierend in der internen Bewertung zu sein. Unbekannt ist, ob es ähnliche Tendenzen in deutschen Institutionen der Bildungselite gibt und an welchen Punkten der für eine Bildungselite wichtige Mechanismus der Kohärenzherstellung in Leistungseinbußen einmündet.

Nicht untersucht wurde bisher auch das Zusammenspiel der vier Mechanismen der Elitebildung. Dabei sind unter den neuen Bedingungen einer fortgeschrittenen Bildungsexpansion Verschiebungen derart möglich, dass Mechanismen der Distinktion und Kohärenzherstellung nunmehr schwerer zu reproduzieren sind, während Mechanismen der Einrichtungswahl und Bewerberauswahl an Gewicht gewinnen könnten.

4 Fazit und Ausblick

Fasst man die dargestellten Diskurs- und Forschungslinien zum Themenfeld Elite und Bildung noch einmal zugespitzt zusammen, so lässt sich feststellen, dass dieses Thema in den letzten Jahren zwar häufig im Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussionen nicht nur in Deutschland stand, in der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung im deutsch-sprachigen Raum bislang jedoch eher randständig untersucht worden ist. Erste Ansätze gibt es im Bereich der Hochschulforschung, wo die Auswirkungen der Exzellenzinitiative auf die Umgestaltung der universitären Forschungslandschaft analysiert worden sind (vgl. Münch2009a,b,2011), während hingegen zu den sogenannten Elitestudiengängen in Deutschland noch keine Studien vorliegen. Auch in der Schulforschung wurden bislang in wenigen qualitativen Studien Prozesse der Habitusbildung in einigen exklusiven Gymnasien aufgezeigt (vgl. Kalthoff1997; Helsper et al.2001,2008) oder in einer quantitativen Sekundäranalyse der PISA-Daten herausgearbeitet, dass es eine kleine Gruppe von Spitzengymnasien gibt, bei denen eine sozial privilegierte Schülerschaft auch höchste Leistungswerte erreicht (vgl. Maaz et al.2009). Ein systematisch-kontrastiver Vergleich zwischen verschiedenen Varianten von exklusiven Gymnasien steht jedoch noch aus. Noch weitaus ungünstiger stellt sich die Forschungslage zu den den Gymnasien vorgelagerten Bildungsinstitutionen, den Grundschulen und Kindertagesstätten sowie zu den außerschulischen Bildungsorten dar, wo Prozesse der Konstruktion und Herstellung von Bildungsexzellenz bislang kaum untersucht worden sind.

Aus der Diagnose dieser insgesamt noch sehr defizitären Forschungssituation ergeben sich eine Reihe von Herausforderungen für die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Bildungsforschung in Deutschland, die sich in fünf Aufgabenbereichen bündeln lassen. Erstens ist es erforderlich, den aktuellen Wandel des öffentlichen bildungspolitischen Diskurses im Spannungsfeld von Egalität und Exzellenz zu rekonstruieren und noch genauer empirisch zu untersuchen, inwieweit der vom Hochschulsystem ausgehende Diskurs um Exzellenz sich inzwischen auch in den bildungspolitischen Semantiken zu Reformen in anderen Stufen und Bereichen des Bildungssystems durchgesetzt hat. Zweitens ist es notwendig, vor diesem Hintergrund eine Typologie exklusiver Bildungsinstitutionen vom Elementar- bis zum Hochschulbereich zu erstellen, die die institutionellen Fremd- und Selbstzuschreibungen dieser Einrichtungen im Grad ihrer Homogenität systematisch vergleicht. Drittens gilt es zu untersuchen, inwieweit Vorstellungen und Deutungsmuster, die mit Exzellenz in Verbindung stehen, die Bildungsstrategien von Eltern aus gehobenen sozialen Milieus mit Kindern im Vorschul- und Grundschulalter sowie die Bildungsorientierungen von Jugendlichen in den exklusiven Bildungsinstitutionen auf den verschiedenen Stufen des Bildungssystems beeinflussen und in welche Praktiken der Distinktion und Kohärenzherstellung sie eingebunden sind. Viertens gilt es herauszuarbeiten, an welchen Selektions- und Zugangskriterien sich Leitungspersonen und Professionelle in exzellenten Kindergärten, Grundschulen, verschiedenen Varianten von Gymnasien mit Exklusivitätsansprüchen und Elitehochschulen bei der Auswahl der Besten orientierten und welche Mechanismen der Distinktion und Kohärenzherstellung in die bislang unerforschten Eingangs- und Übergangsselektionen sowie in andere institutionelle Praktiken eingelagert sind. Fünftens ist es schließlich erforderlich, die Dynamiken und Mechanismen der Elitebildung von Elementar- bis zum Hochschulbereich über einen längeren Zeitraum empirisch zu untersuchen, da nur so herausgearbeitet werden kann, ob es sich bei den Prozessen der Konstruktion und Herstellung von Exzellenz im deutschen Bildungssystem um eine vorübergehende Entwicklung handelt oder inwiefern dadurch die deutsche Bildungslandschaft langfristig grundlegend transformiert wird.Footnote 1