1 Eingrenzung

Die Coronapandemie hat die Arbeit mit Teams und Gruppen in den virtuellen Raum verlagert. In der Lehre, im Training oder in der Beratung hat man sich zunehmend damit befasst mit Bildschirm und Kamera zu reden anstatt im spürbaren „face to face“ Kontakt zu sein. Dem Umstand geschuldet bringt diese Entwicklung sowohl Chancen als auch Risiken mit sich und wird an diversen Stellen diskutiert.

Dieser Praxisbericht möchte zur Diskussion beitragen, indem er eigene Erfahrungen in der Arbeit mit virtuellen Gruppen theoretisch reflektiert.Footnote 1 Dabei wird vor allem auf die Entwicklung und das Erleben spezifischer Gruppendynamiken im Lernsetting der gruppendynamischen Trainingsgruppe (vgl. Krainz 2008, S. 27) rekurriert. Die Trainingsgruppe, gekennzeichnet durch ihre Minimalstrukturierung und dem Fokus auf die Dynamik im Hier und Jetzt, setzt die Teilnehmer*innen vor das gruppendynamische Strukturproblem potenziell grenzenloser Kommunikation (vgl. Amann 2003), „das sich nur durch die Herstellung diffuser Sozialbeziehungen bewältigen lässt“ (ebd: 206). Durch diese spezifische und einzigartige Herausforderung einer Trainingsgruppe können Teilnehmer*innen den Vergemeinschaftungsprozess eines sozialen Systems von Grund auf erleben und beobachten. Dieses besondere Lernformat, das sowohl individuelle als auch kollektive Erfahrungsräume zum Erleben und Reflektieren von Gruppendynamiken bietet, wurde vor der Coronapandemie fast ausschließlich in Präsenz durchgeführt. Aufgrund der Entwicklungen der letzten beiden Jahre entstanden jedoch Formate, um mit dieser besonderen Form des sozialen Lernens auch im virtuellen Raum zu experimentieren.

Neben dem Hinweis auf den Kontext (Trainingsgruppe) ist es gleichermaßen notwendig den Begriff Virtualität bzw. virtuelle Gruppe einzugrenzen. Die Beschäftigung mit virtuellen Teams oder computervermittelter (zumeist asynchroner) Kommunikation ist im Grunde nichts Neues und wurde in den letzten 30 Jahren breit erforscht (vgl. etwa McGrath u. Hollingshead 1994 oder Lipnack u. Stamps 1998). Neuer, und damit auch für die Gruppendynamik interessant, sind die aufgrund immer besser funktionierender Technologien entstandenen Übertragungsmöglichkeiten von Präsenz bzw. synchroner Kommunikation im virtuellen Raum. Mit Video-Conferencing-Software wie Zoom, Microsoft Teams oder WebEx entstehen Spielräume um analoge Präsenztreffen digital und via Internetverbindung zu substituieren. Damit kann so etwas wie eine virtuelle Gruppe, ein virtuelles Team von Angesicht zu Angesicht entstehen, in dem Kommunikation unter Anwesenheit (vgl. die Bedingungen für Interaktionssysteme bei Luhmann 2005, S. 28) im virtuellen Raum (scheinbar) möglich wird. Diese Kommunikation unter Anwesenheit ist Voraussetzung für das Auftreten, Beobachten, Reflektieren und Verändern von Gruppendynamik.Footnote 2

Der Artikel erläutert zu Beginn die Relevanz der Unterschiedsbearbeitung zur Entwicklung von Trainingsgruppen. Anschließend werden Vergleiche zum virtuellen Pendant (Gruppe über Videokonferenz) gezogen und Thesen aufgestellt, welche Unterschiede besondere Bedeutung bzw. geringere Relevanz für die Gruppenentwicklung im virtuellen Raum haben. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich in der Interpretation und Theorieentwicklung zu gruppendynamischen Phänomenen im virtuellen (Trainingsgruppen‑) Setting um Neuland in der Fachcommunity handelt. So gesehen möchte dieser Praxisbericht, wenn auch mit seiner geringen Datenlage, zur Diskussion anregen und erste Hypothesen zur Entwicklung virtueller Trainingsgruppen anbieten. Gleichzeitig können die Beobachtungen zur Bearbeitung von Unterschieden in der Entwicklung von virtuellen Gruppen Gedankenfelder liefern, die für die Arbeit mit virtuellen Teams interessant sein können.

2 Der Unterschied, der einen Unterschied macht

In der Diskussion zur Entwicklung von gruppendynamischen Trainingsgruppen spielen die Auseinandersetzung und Bearbeitung von Unterschieden eine wesentliche Rolle. Nach Lackner (2008) nimmt sich eine Gruppe mit einem aufgeklärten „Wir“ als „Einheit in der Differenz wahr. Unterschiede werden anerkannt und akzeptiert, ohne die Gruppe zu entzweien. Das Gemeinsame wird in der Anerkennung der Differenzen gesehen“ (ebd: 88). Um arbeitsfähig zu werden, stellt sich für Gruppen also die Frage, wie sie mit ihren Unterschiedlichkeiten innerhalb der Gruppe umgehen, welche davon für den gemeinsamen Zweck, also dem Wozu es die Gruppe überhaupt gibt, relevant sind, und wie diese Unterschiede thematisiert bzw. in den Arbeitsprozess integriert werden können.

Unterschiede in Gruppen bilden den Boden und die Nahrung für Entwicklung, sind aber gleichzeitig Bedrohung und Risiko des proklamierten Zusammenhalts. Bateson (1972) beschreibt den Unterschied, der einen Unterschied macht, als relevante Information für ein soziales System, der Entwicklung vorantreibt oder hemmt, also jedenfalls wirksam ist.

Nach Scala (2013) sind Unterschiede die Wissensgrundlage für Gruppen und können Gefahr oder Ressource sein: „threat, because differences lead to conflicts and even might split and destroy the system, if the conflict cannot be handled; and they are resources, because the more differentiated and diverse a group or an organization is, the more resources of knowledge and competencies are available“ (ebd: 68).

Im Kontext der Unterschiedsbearbeitung stellen sich in Folge drei zentrale Fragen für Gruppen:

  1. 1.

    Welche Unterschiede gibt es? Worin unterscheiden sich die Gruppenmitglieder? (Individuelle Perspektive)

  2. 2.

    Welche Relevanz hat der Unterschied in und für die Gruppenentwicklung im Kontext ihres Zwecks? Wie wirkt der Unterschied, und welches Thema wird mit dem Auftauchen des Unterschieds für die Gruppe verhandelt? (Gruppensystem Perspektive)

  3. 3.

    Wie gelingt es in der Gruppenkommunikation diese Unterschiede zu thematisieren und gemeinschaftlich einen Umgang damit zu finden? (Prozess Perspektive)

Wird die Unterschiedsbearbeitung vor allem auf die erste Frage bezogen, bleibt die Integration und Nutzbarwerdung von Unterschieden als Ressource in der Gruppe oberflächlich. Oder, wie Scala es sagt (2013, S. 71): „But for the group as a social system these facts are just a potential reality; it is not clear how these differences shall affect the social reality.“ Unterschiede werden zwar gesehen, bleiben aber als solche nebeneinander stehen und werden nicht aufeinander bezogen. Der „Toleranz-Sprech“ sei hier erwähnt, der in Gruppen immer dann genutzt wird, wenn jede*r „eh so sein darf, wie er oder sie ist“. Jedoch werden mögliche Ableitungen und Konsequenzen für die Gruppe als Ganzes ausgespart bzw. vermieden. Toleranz mündet eher in Ignoranz. Der Unterschied wird zwar gesehen aber ignoriert. Wirkliche Toleranz kann sich erst entwickeln, wenn man sich mit dem „Anderssein“ beschäftigt und dessen Implikationen für die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zusammenwirkens in der Gruppe verstanden hat. Das kann unangenehm sein, weil damit automatisch die Gleichheitsfrage und mit dieser die moralisch aufgeladenen Werte einer Gruppe und einer Gesellschaft thematisiert werden. Hier stellt sich die zweite Frage in der Unterschiedsbearbeitung: Welche Relevanz ein sichtbarer Unterschied für die Entwicklung der Gruppe hat bzw. welchen Unterschied eben dieser Unterschied macht. Es reicht nicht aus Unterschiede als rein individuell und auf Personenebene zu betrachten. Umso relevanter ist die Frage, wie sich der Unterschied in der Gruppe und deren Strukturentwicklung einbettet bzw. welches gruppendynamische Entwicklungsthema mit ihm verbunden ist.

Hier kann das Konzept des gruppendynamischen Raumes (vgl. Schutz 1966; Amann 2003, S. 204 bzw. König u. Schattenhofer 2016, S. 34ff) hilfreich sein, welches ein plausibles Metamodell zu den relevanten Sollbruchstellen in der Gruppenentwicklung liefert. Der gruppendynamische Raum beschreibt drei elementare Themen, die in jeder Gruppe gleichermaßen und unabhängig von der Sachlage vorkommen, meistens jedoch unausgesprochen und unreflektiert ihre Wirksamkeit entfalten: Zugehörigkeit, Einfluss und Intimität. Mit der Dimension Zugehörigkeit wird die soziale Spannung zwischen drinnen und draußen thematisiert. Sie beschreibt den sozialen Rahmen, in dem man seine Individualität ausleben kann und in dem man seine Grenzen erkennt. Mit der Dimension Einfluss wird die soziale Spannung zwischen oben und unten thematisiert. Sie verweist gleichzeitig auf das Bedürfnis, den eigenen Lebensraum mitbestimmen zu können, und die Tatsache, dass man dabei dem Einfluss der anderen ausgesetzt ist. Mit der Dimension Intimität wird die soziale Spannung zwischen nah und fern thematisiert. Sie zeigt auf, dass man soziale Kontakte immer auch nach ihrer Nähe bzw. Distanz zu den eigenen persönlichen Präferenzen eingeht. Die drei Dimensionen des gruppendynamischen Raumes sind miteinander verwoben und bedingen sich wechselseitig. Das Auftreten dieser drei elementaren Themen läuft selten hintereinander sondern eher synchron und gleichzeitig ab.

Unterschiede bilden das Futter bzw. den Aufhänger zur Behandlung dieser Dimensionen. So kann man annehmen, dass ein Unterschied die beobachtbare Information zwischen den Gruppenmitgliedern ist, dessen Sichtbarkeit und Thematisierung Spielart auf einer der Dimensionen Zugehörigkeit, Einfluss oder Intimität darstellt. Die Komplexität sozialer Prozesse zeichnet sich dadurch aus, dass nicht klar ist, um welche Dimension es sich gerade handelt, oder ob mit dem Ausdruck des Unterschieds zwei oder alle drei Dimensionen angespielt werden. Dies gilt es zuerst durch Reflexion gemeinsam zu verstehen (dritte Frage). Erst die bewusste Auseinandersetzung mit diesen Themen schafft Klarheit darüber, in welcher Bedeutung die Dimensionen verhandelt werden. Durch die kommunikative Vergemeinschaftung der sicht- und unsichtbaren Unterschiede erzeugt eine Gruppe ihre soziale Realität. Durch das Auseinandernehmen und Beziehen auf die existenziellen Themen einer Gruppe wird sie als solches erst erschaffen und in ihrer Eigenheit zusammengesetzt. Die Gruppe wird somit Einheit in der Differenz.

Bevor auf die Diskussion zu Unterschieden in virtuellen Gruppen übergeleitet wird, ist es hilfreich ein konkretes Schema an Unterschieden in Gruppen zu haben, das einen besseren Vergleich zu virtuellen Gruppen ermöglicht.Footnote 3 Scala (vgl. 2013, S. 70) definiert beispielhafte Unterscheidungskategorien im Kontext und der Entwicklung einer Trainingsgruppe. Auf diese Auswahl wird in Folge Bezug genommen:

  • Aktiv/passiv

  • Aufgabenorientiert/beziehungs- & prozessorientiert

  • Trainer*in als Teil der Gruppe/Trainer*in als kein Teil der Gruppe

  • Fokus auf das Hier & Jetzt/Fokus auf das Dort & Dann

  • Formale Kommunikation (in der Gruppe)/informale Kommunikation (außerhalb der Gruppe)

  • Gender

  • Kulturelle Diversität

  • Alter (Generationen)

Das Auftreten und die Thematisierung dieser Unterschiede in Trainingsgruppen zeigen sich nach Scala ähnlich wie aufgelistet in zeitlicher, wenn auch nicht strikter Reihenfolge. Hier wird die Folie des gruppendynamischen Raumes darübergelegt und davon ausgegangen, dass jedes Sichtbarwerden einer dieser Unterscheidungen aus Gründen des Wirksamwerdens einer der Dimensionen Zugehörigkeit, Einfluss oder Intimität geschieht. Welchen Unterschied mit welcher Wirkung und in welcher Zirkularität gilt es in einer Trainingsgruppe gemeinsam zu überprüfen.Footnote 4

Es stellt sich nun die Frage, welche Form der Unterschiedsbearbeitung virtuelle Gruppen wählen (können) und worin sie beschränkt werden. Ebenfalls interessant erscheint, welche Unterschiede von den angeführten Kategorien im virtuellen Raum weniger sichtbar sind als in Präsenzgruppen und welche Unterschiede ähnliche Bedeutung bzw. sogar mehr Relevanz bekommen.

3 Unterschiede in virtuellen Gruppen

Eine Gruppenteilnehmerin gibt an, sich in der virtuellen Gruppe weniger beobachtet zu fühlen, weil Blickkontakt (ob flüchtig oder bewusst) über Zoom nicht möglich ist. Der permanente Abgleich der eigenen Selbstdarstellung mit den Blicken der anderen ist im Virtuellen grundsätzlich ausgeschlossen.

Aus den bisherigen Erfahrungen und Diskussionen zu den Dynamiken in virtuellen Trainingsgruppen lässt sich feststellen, dass virtuelle Gruppen das Ausleben von Individualität begünstigen können. Das Ausdrücken einer Unterscheidung zu jemand anderem ist scheinbar leichter möglich. Oder anders gesagt: Der Konformitätsdruck, der gerade zu Beginn in Gruppen stark ausgeprägt sein kann („So tun wie die Mehrheit, um bloß nicht aufzufallen bzw. rauszufallen = Thema Zugehörigkeit“), ist in virtuellen Gruppen weniger wirksam. Durch das Fehlen körperlicher Anpassungsreize scheint es im virtuellen Raum leichter möglich zu sein, sich von Beginn an in seiner Eigenheit, zumindest oberflächlich, zu zeigen bzw. diese kommunikativ zur Schau zu stellen.

Diese Beobachtung lässt sich mit dem Wegfallen körperlicher Nähe bzw. der Tatsache körperlicher Distanz im virtuellen Raum in Verbindung setzen. Argumentiert man mit den Distanzzonen nach Hall (vgl. 1966) ist anzunehmen, dass Interaktion im virtuellen Raum immer nur in der öffentlichen Zone und nie in der sozialen, persönlichen, geschweige denn intimen Zone geschieht. Mögliche Territorialansprüche, wie Hall es formuliert, fallen damit weg bzw. müssen anders bzw. weniger über die Körperlichkeit verhandelt werden.

Interessant dazu ist die Erweiterung der psychologischen Distanz: Um ein Problem besser lösen zu können greifen Menschen auf die Fähigkeit zur Distanzierung zu einer belastenden oder herausfordernden Situation über die mentale Abstraktion zurück (vgl. dazu die Forschungen zur „Construal Level Theory“ nach Liberman u. Trope 2010). Zeitliche, räumliche und soziale Entfernung verstärken die Entwicklung psychologischer Distanz und damit die Fähigkeit zur Abstraktion einer als herausfordernd erlebten Situation. Je größer der Abstand zu einem Ort umso abstrakter kann man darüber denken. Oder anders gesagt: Wenn etwas besonders nahe geht, desto weniger ist man in der Lage, klar zu argumentieren bzw. eine rationale Einschätzung zur Situation zu treffen. Der virtuelle Raum erzeugt automatisch diesen Abstand und forciert die Notwendigkeit zur mentalen Abstraktion. Eine virtuelle Trainingsgruppe bringt Gruppenteilnehmer*innen stärker in die Perspektive eines/einer Außenstehenden und in eine neutrale Position, was sowohl Vorteile als auch Nachteile für diese Form des sozialen Lernens mit sich bringt. Kontakt muss anders und bewusster geschaffen werden.Footnote 5

In Folge ist nun interessant, welche Unterschiede in virtuellen Gruppen besondere bzw. weniger Relevanz haben. Die Unterscheidungsmerkmale bleiben zwar die gleichen, jedoch verändert sich womöglich deren Wirksamkeit in der Gruppenentwicklung.

3.1 Besondere Relevanz, weil andere Spielarten im gruppendynamischen Raum möglich werden

3.1.1 Aktiv/passiv: Vorteile für Introversion entstehen!

Drei Teilnehmer*innen geben an, dass es ihnen im virtuellen Format leichter fällt sich einzubringen und mitzumachen. Gleichzeitig betonen sie, dass das ungewohnt erscheint, da man sich sonst in Gruppen eher als introvertiert und zurückhaltend kennt.

Bisherige Erfahrungen zeigen, dass der virtuelle Raum Vorteile für die ruhigen, zurückhaltenden Personen bietet. In der Sicherheit einer gewohnten Umgebung und im Schutze des Bildschirms scheint es für manche Gruppenteilnehmer*innen leichter zu sein mitzumachen. Möchte man psychologische Kategorien bedienen könnte man sagen, dass es introvertierten Personen durch die Virtualisierung der Kommunikation in Gruppen erleichtert wird, sich einzubringen bzw. sichtbar zu werden. Neben der zuvor beschriebenen Tatsache des Wegfallens körperlicher Interaktionsnähe (und damit möglicher Ängste) liegt es auch daran, dass virtuelle Kommunikation durch ihre Sequenzialität begrenzt ist und ein Gerangel um die Gesprächshoheit bzw. die Frage, wer zuerst das Wort ergreift, eingeschränkt wird. Computervermittelte Kommunikation ordnet, lässt immer nur eine Person sprechen und nimmt den scheinbaren Druck aus einer sich aufschaukelnden Gruppendiskussion. Die Unmittelbarkeit zur Antwortfähigkeit der einzelnen Person fällt weg. Im Vergleich zu Präsenzgruppen, in denen die Kommunikation meist automatisch von Beginn an von den extrovertierteren, gesprächigeren Gruppenmitgliedern dominiert wird, scheint deren Wunsch nach Sichtbarkeit und Gestaltung der Kommunikation im Virtuellen abgemindert. Die Annahme entsteht, dass mit der Reduktion körperlicher Anteile auch Möglichkeiten zur Selbstdarstellung fehlen und diese somit weniger attraktiv erscheint. So entsteht Raum für die eher introvertierten, sich zurückhaltenden Personen. Kommunikation, die gefiltert ist durch die Computerübertragung, schafft Freiheiten für die Passiveren und verleitet die Aktiveren zur Zurückhaltung. Es kann angenommen werden, dass damit der Unterschied aktiv/passiv bezogen auf das Thema Zugehörigkeit (und in Folge auch auf das Thema Einfluss) im virtuellen Raum einen anderen Fokus erlangt. Vermutlich sind es im virtuellen Raum andere Merkmale als die Unterscheidung Extra- und Introversion, die über Aktivität und Passivität der Gruppenmitglieder im Miteinander entscheiden. Denn zurückhaltende Personen werden im virtuellen Raum eher angeregt sich zu beteiligen, hingegen offene, gesprächigere Teilnehmer*innen fühlen sich nicht gezwungen, das Aktivitätslevel einer Gruppe bestimmen zu müssen.

3.1.2 Aufgabenorientiert/beziehungs-/prozessorientiert: Fokus auf die Sache und deren Ausdruck!

Die Möglichkeiten über Video-Conferencing-Software Kontakte aufrechtzuerhalten bzw. Zusammenarbeit auch in Pandemiezeiten sicherzustellen, wurden in den letzten beiden Jahren gelobt wie verflucht. Onlinekommunikation erhöht die Optionen zum regelmäßigen Austausch und zur Abstimmung innerhalb einer Gruppe. Die Möglichkeiten, um in Beziehung zu treten, nehmen also zu. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie qualitativ, tragfähig und tiefgehend diese Beziehungen unter Filterwirkung computervermittelter Kommunikation sein können. Rosa (2016) spricht dabei von einem Beziehungsparadox. Durch die Onlinekommunikation steigt auf der einen Seite die eigene Weltenreichweite für Kontakt, auf der anderen Seite nimmt das Erleben von Resonanz in eben diesen Beziehungen ab.

In virtuellen Teams wird wiederum das gemeinsame Verstehen der Aufgabe und des Arbeitsauftrags als Erfolgskriterium definiert. Wenn die Sachlage und die Abstimmung dazu im Team klar sind, dann kann es auch im virtuellen Raum sein volles Potenzial entfalten (vgl. Lipnack u. Stamps 1998, S. 40).

Diesen Ergebnissen folgend dominiert auch in virtuellen Trainingsgruppen der Fokus auf die Aufgabe bzw. die Inhaltsebene. Durch die stark eingeschränkten körperlichen Signale wird der Reiz der Beziehungsebene geschwächt und abgemindert. Für viele, auf Effizienz trainierte Teams scheint das sogar ein Vorteil zu sein. Hauptsache, der gemeinsame Fokus auf die Sache ist klar und wird durch Abstimmung der Aufgaben bzw. Rollen sowie durch die Visualisierung am Bildschirm geteilt. In der Diskussion zur Wirksamkeit von Unterschieden in Gruppen lässt sich annehmen, dass über die Orientierung an der Sache und den Ausdruck darüber („Wir reden über Inhalt“) noch mehr Raum eingenommen wird als in Präsenz. Beziehungsorientierten Gruppenmitgliedern wird durch die computervermittelte Kommunikation und dem damit fehlenden körperlichen Kontakt ein mögliches Spielfeld genommen, sich in Gruppen einzubringen und ihre Stärken auszuspielen.Footnote 6

Das kann zur Folge haben, dass sich über das Teilen eines gemeinsamen Sachverständnisses eine Norm etabliert, die Zugehörigkeit ermöglicht oder mindert, gewiss aber stärker bindet als in Präsenz. Seitengespräche, Blickkontakte oder körperliche Anziehung, die möglicherweise andere Formen der Bindung in und zu der Gruppe forcieren könnten, fallen weniger ins Gewicht. Aufgrund der Filterwirkung computervermittelter Kommunikation dominiert die Aufgaben- und Inhaltsorientierung. Auch Einfluss und Intimitätsfragen werden darüber geklärt.

So gibt etwa ein Teilnehmer in der gemeinsamen Reflexion an, dass er andere Teilnehmer*innen komplett ignoriert hat, da er nicht verstand, was sie in der Diskussion meinten. Und er fragte auch nicht nach. Personen, die inhaltlich nicht auf der gleichen Wellenlänge sind, können leichter im Gespräch ausgeblendet werden. Sie sind nicht mehr relevant für die Sachdiskussion und fallen im Kontext einer Videokonferenz noch schneller raus als in Präsenz. Der virtuelle Raum selektiert subjektiv über inhaltliche Beteiligung.

Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass die Synchronisation unter den Teilnehmer*innen einer virtuellen Gruppe stärker über das „Was“ (Was machen wir miteinander) und weniger über das „Wie“ (Wie stehen wir zueinander) geschieht.

3.1.3 Fokus auf das Hier & Jetzt/Fokus auf das Dort & Dann: Das gemeinsame Hier wird diffus!

Gerade in der Lernform der gruppendynamischen Trainingsgruppe spielt diese Unterscheidung eine wesentliche Rolle, ist doch der Fokus auf das Geschehen im Hier und Jetzt zentraler Forschungs- bzw. Lerngegenstand. Reden Gruppen über das Wetter, über Erfahrungen in anderen Teams oder über die Ergebnisse der Fußballnationalmannschaft, dann würde der/die Trainer*in nachfragen und das Aufkommen dieser Thematiken in Hinblick auf deren Bedeutung für das Hier und Jetzt thematisieren. Durch diese Irritation wird der Unterschied des Hier und Jetzt gegenüber Dort und Dann für das Spezifikum Trainingsgruppe relevant. Dieser Unterschied ist auch im virtuellen Raum wichtig, gerade weil sich der Bezug auf das Hier (den gemeinsamen Ort) verändert und besondere Aufmerksamkeit verdient. Es entsteht nämlich ein doppeltes Hier der virtuellen Gruppe. Einmal das digitale Hier am Bildschirm, also die verschiedenen Fotokacheln, die eine Software am Computer anzeigt und die Ausdruck des virtuellen Gruppenraums sind; und andererseits das analoge Hier, in dem jede*r für sich und allein im Büro, am Küchentisch oder auf der Couch sitzt. Dieses analoge Hier ist im Grunde auch ein Dort und damit außerhalb der physischen Präsenz der Gruppe. Es können Kinder im Nebenraum schreien, der Briefträger an der Tür klingeln oder man kann auf einem zweiten Bildschirm Netflix schauen. Das analoge Hier, das gleichzeitig ein Dort ist, steht im Vergleich zwischen Hier und Dort in Präsenzgruppen noch stärker in Konkurrenz zum digitalen Hier, sind doch seine Verlockungen, ob man es will oder nicht, viel unmittelbarer.

Diese Beobachtung wird von den Teilnehmer*innen der virtuellen Trainingsgruppe als große Herausforderung verortet. Es scheint mühsamer und anstrengender zu sein, bei der Dynamik in der Gruppe und in der Aufmerksamkeit zu den Personen zu bleiben. Im virtuellen Raum bzw. durch die körperliche Distanz im Hier ist ein Einlassen auf das gruppendynamische Setting sowie die Zumutungen, die damit verbunden sind, schwerer als in Präsenz. Teilnehmer*innen können wesentlich leichter abtauchen, abschalten und ausweichen. Der Rückzug ins Dort liefert sowohl Schutz vor der Beschäftigung mit dem eigenen Selbstbild als auch vor der Dynamik in der Gruppe. Die Verlockung zur Distanz im Virtuellen ist mächtig und mindert das Lernpotential virtueller Trainingsgruppen.

Für virtuelle Gruppen entsteht die Herausforderung, dass der Unterschied zwischen Hier und Jetzt und Dort und Dann oft nicht unmittelbar sichtbar und damit thematisierbar ist. Wenn in Präsenzgruppen über die Ergebnisse der Fußballnationalmannschaft, also dem Dort, gesprochen wird, kann sofort gemeinsam und unter Beobachtung aller darauf Bezug genommen werden. Wenn in virtuellen Gruppen einzelne Teilnehmer*innen parallel E‑Mails lesen, also im Dort sind, obwohl sie im Hier der Bildschirmgruppe aufscheinen, dann fällt das weniger auf. Der Unterschied ist also wirksam (vor allem auf der Dimension Zugehörigkeit, aber auch im Kontext der Einflussnahme), wird aber schwerer zu einem gemeinsamen Thema der Gruppe. Aufgrund der körperlichen Unverfügbarkeit der Personen in und für die Gruppe bleibt gerade die Zugehörigkeit in virtuellen Gruppen fragil.

3.1.4 Umgang mit Sprache: Eloquenz, Stimmlage, Argumentationsfähigkeit zählen!

In den Unterscheidungskategorien von Scala nicht explizit erwähnt, in den Beobachtungen zu virtuellen Gruppen als Unterschied aber besonders relevant, ist der Umgang mit Sprache. Durch die Reduktion der Kommunikationsmöglichkeiten im virtuellen Raum (Reduktion von nonverbalen und paraverbalen Signalen) wird der verbalen Kommunikation und dem Umgang mit Sprache eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Personen, die kompakt und schlüssig argumentieren können (Verbindung zu Aufgabenorientierung) sowie eloquent ihren Standpunkt vertreten, haben einen besonderen Einfluss im virtuellen Raum. An diesen orientiert man sich, fühlt sich entweder in Konkurrenz oder unterlegen. Über Sprache wird in virtuellen Gruppen das Oben und Unten maßgeblich beeinflusst. Gleichzeitig werden Gesprächsstandards definiert, die wiederum die Dimension Zugehörigkeit mitgestalten.

„Ich verstehe deinen Dialekt nicht! Woher kommst du?“ Sprache als Ausdruck kultureller Diversität wird in Präsenzgruppen eher sensibel und zu einem späteren Zeitpunkt in der Gruppenentwicklung thematisiert. Die Beobachtungen in der virtuellen Gruppe zeigen aber, dass dieser Unterschied dort schneller angesprochen und bearbeitet wird.

Sprache scheint im virtuellen Raum auch Hauptausdrucksmittel kultureller Diversität zu sein. Fallen andere Darstellungsformen kultureller Unterschiede weniger ins Gewicht (siehe Abschnitt zu Gender & Alter), so ist es vor allem die Sprache, der Dialekt und die Betonung, die im Virtuellen besonders auffallen. Sie bieten Anspielflächen um kulturelle Unterschiede und deren Wirkung für virtuelle Gruppen zu thematisieren.

3.1.5 Technisches Know-how: Bedienen von Videokonferenz, Chat und digitalen Tools werden wichtig!

Noch einflussreicher als der Umgang mit Sprache ist die Handhabung und Nutzung der Technik in virtuellen Gruppen. Wie Kremer und Janneck (vgl. 2013, S. 367–368) hervorheben, spielt neben der individuellen und sozialen Ebene der Kommunikation in virtuellen Teams vor allem die technische Ebene eine zentrale Rolle. Die Bedienung und das Wissen zu der Software, die im Hintergrund läuft und somit Kommunikation untereinander erst ermöglicht, ist Voraussetzung für die Partizipation in virtuellen Gruppen. Dass damit nicht jede*r gleichermaßen vertraut ist, erzeugt wiederum einen Unterschied, der gerade in virtuellen Gruppen einen zentralen Unterschied macht. Beginnend beim Thema Zugehörigkeit („wer sich nicht einloggen kann bzw. rausfällt, ist draußen!“), über das Thema Einfluss („alle Macht dem Administrator“), bis hin zum Thema Intimität („Nähe über die schnelle Nachricht im Chat“), werden über den Unterschied, der durch technisches Know-how in virtuellen Gruppen entsteht, alle Register gezogen.Footnote 7

Gerade in der Funktion des/der Trainer*in spielt das Bedienen der Technik eine wesentliche Rolle. Das von Trainer*innenseite Nicht-Bedienen-Können von Video-Konferenzen oder anderen digitalen Tools, fällt in der virtuellen Trainingsgruppe sofort auf und wird von den Teilnehmer*innen humorvoll bzw. auch spöttisch kommentiert. Die Kompetenz des/der Trainier*in wird mit der Handhabung der Technik gleichgesetzt.

3.1.6 Bildausschnitt: Möglichkeiten zur Selbstdarstellung verändern sich!

Ein letzter Unterschied, der erhöhte Aufmerksamkeit in virtuellen Gruppen verdient, auch deshalb, weil er in Präsenzgruppen so nicht möglich ist, ist die Form der Selbstdarstellung via Kamera und Bildschirm. Dadurch, dass körperliche Signale und Ausdrucksformen im virtuellen Raum kaum beim Gegenüber ankommen, stellt der gewählte Bildausschnitt, der Hintergrund und die Inszenierung vor der Kamera eine der wenigen Möglichkeiten dar, sich ins „richtige Licht zu rücken“. Gerade zu Beginn einer Gruppe fallen die Personen auf, die gut sichtbar sind. Damit wird man einschätzbar und generiert andere („positivere“) Zuschreibungen als jemand, der in der dunklen Kammer sitzt bzw. dessen Kamera nicht funktioniert (siehe Technik Know-how). So wie beim ersten Eindruck in einer Präsenzgruppe gibt es den ersten Eindruck in einer virtuellen Gruppe. Dieser ist genauso wirksam und erzeugt ebenso Bilder, ob jemand als zugehörig, einflussreich oder interessant wahrgenommen wird.

Die Formen der Selbstdarstellung bekommen in virtuellen Gruppen insofern eine andere Bedeutung, da sie mit der Möglichkeit zur Selbstansicht und damit Selbstkontrolle einhergehen. Während in Präsenzgruppen die eigenen Außendarstellung einem selbst oft gar nicht bewusst ist, so besteht in virtuellen Gruppen permanent und fast schon der Zwang den Blick auf das eigene Videobild zu richten.

Eine Teilnehmerin gibt an, dass sie sich die ganze Zeit selbst anschaut, weil sie wissen will wie sie wirkt. Sie achtet bewusst auf ihre Gestik und Mimik und wie sie spricht. Gleichzeitig fällt ihr dabei auf, dass sie die anderen in der Gruppe kaum ansieht.

Die bewusste Kontrolle der eigenen Selbstdarstellung schafft neue Formen zur Gestaltung des eigenen Verhaltens in der Gruppe. Gleichzeigt, und das nachteilig für ein gruppendynamisches Lernsetting, verringert die Aufmerksamkeit für die Selbstbetrachtung die Aufmerksamkeit für die anderen Personen und für das Gruppengeschehen. Der bevorzugte Kontakt zu sich selbst mindert den Kontakt zu anderen. Es lässt vermuten, dass mit dem Fokus auf die Selbstansicht die Bindung zur Gruppe geschwächt bzw. eine höhere Distanz zum Gruppengeschehen aufgebaut wird.

3.2 Weniger Relevanz, weil fehlende Körperlichkeit das Sichtbarwerden und damit Wirksamwerden des Unterschieds abmindert

Wurden bisher Unterschiede betont, die erhöhte Aufmerksamkeit im virtuellen Raum erlangen, so wird nun auf weitere Unterscheidungsmerkmale von Scala eingegangen, die vermutlich weniger bzw. abgeminderte Relevanz in der Entwicklung virtueller Trainingsgruppen haben. Es steht außer Frage, dass auch diese Unterschiede an die Oberfläche kommen, je länger eine virtuelle Gruppe ihren Selbstaufklärungsprozess bewusst gestaltet. Jedoch zeigen die Beobachtungen, dass deren Wirksamkeit im virtuellen Raum aufgrund fehlender Körperlichkeit und fehlender Möglichkeiten zu nonverbaler und paraverbaler Kommunikation abgeschwächt wird.

3.2.1 Formale Kommunikation/Informale Kommunikation: Offensichtliches Verschwinden informeller Räume mindert die Möglichkeit zur Unterscheidung!

In Präsenztrainingsgruppen besteht mit der Thematisierung dieser Unterscheidung oft die Möglichkeit einen wichtigen Schritt in der Gruppenentwicklung zu gehen, indem sie Hebelwirkung für Themen wie die Auseinandersetzung mit der Trainer*innenautorität (Dimension Einfluss) oder dem Aufkommen von Subgruppen (Dimension Intimität) hat. Das, was formal in der Gruppe nicht besprochen werden kann, gelingt scheinbar umso einfacher außerhalb der Gruppe, im informellen Raum. Dieser fehlt für virtuelle Gruppen komplett. Oder muss durch planvolle Intervention (über Chaträume, virtuelle Cafes, offener Plenumsraum etc.) eingerichtet werden, womit er seine Zufälligkeit und Informalität verliert. Es lässt sich damit sowohl kaum der Unterschied zwischen formaler und informaler Kommunikation in virtuellen Gruppen beobachten als auch gehen die Möglichkeiten des Wirksamwerdens informeller Absprachen für die Gruppenentwicklung verloren.

Das Fehlen eines gemeinsamen Mittagessens oder des Vormittagskaffees wird von den Teilnehmer*innen als großes Handicap im virtuellen Setting bezeichnet. Man fühlt sich nicht nur länger „alleine“ in der Gruppe – weil die niederschwellige, risikolose Kontaktaufnahme innerhalb von Pausengesprächen abgeht – sondern es fehlen auch Möglichkeiten zur Absprache oder Koalitionsbildung.

In Präsenzgruppen unterstützt das Informelle die Entwicklung von Vertrauen, welches wiederum zur aktiven Teilnahme und Auseinandersetzung im formalen Rahmen der Trainingsgruppe nötig ist. Dieses für die Entwicklung einer Trainingsgruppe hilfreiche Zusammenspiel zwischen informeller und formeller Kommunikation fehlt im virtuellen Setting bzw. kann nur schwer substituiert werden. Die Zufälligkeit eines Gesprächs beim gemeinsamen Mittagessen ist nicht vergleichbar mit dem Befolgen einer Aufforderung zum Plaudern in eingerichteten Breakout Räumen. Zu diesem Schluss kommt auch Bickmeyer (2021) wenn sie schreibt: „Scharniere und Beziehungsschmiere entstehen in der inoffiziellen Begegnung vor und nach dem offiziellen Meeting auf der Vorderbühne. (…). Verbundenheit muss mühsam inszeniert werden und ergibt sich nicht in natürlicher Art und Weise, „weil man die dieselbe Luft im Raum atmet““ (ebd: 464).

3.2.2 Gender & Alter: Körperlichkeit und deren Ausdruck spielen weniger eine Rolle!

Diese beiden Kategorien von Scala lassen sich zusammenfassen, gleichwohl natürlich Unterschiede in den Unterscheidungen für Gruppen bestehen. Im Virtuellen lässt sich vermuten, dass sowohl die Unterscheidung von Geschlecht und Gender als auch nach Alter weniger ins Gewicht fallen als in Präsenzgruppen. Auch hier wird die These unterstrichen, dass die fehlende Körperlichkeit bzw. die Reduktion auf einen Ausschnitt am Computerbildschirm diese Unterschiede weniger wirksam werden lassen. Ob man groß ist, „typisch männlich“ agiert und breitbeinig dasitzt, ist ebenso wenig beobachtbar für eine virtuelle Gruppe, wie die Tatsache, dass jemand eine Behinderung hat und im Rollstuhl sitzt. Diese Information fließt nicht unmittelbar in die Gruppenwahrnehmung ein und kann damit auch nicht interpretiert und im gruppendynamischen Raum wirksam werden. Aussehen, Geschlecht, Alter und auch kulturelle Hintergründe haben in virtuellen Gruppen vorerst weniger Bedeutung als in Präsenzgruppen. Vor der Bearbeitung des Unterschieds muss deren Bedeutsamkeit für die Gruppe erst als solches herausgearbeitet werden. Und das scheint im Virtuellen weitaus schwieriger zu sein, da der Unterschied nicht unmittelbar in der Wahrnehmung der Gruppe ist.

3.2.3 Trainer*in als Teil der Gruppe/als kein Teil der Gruppe: Das Setting wirkt, jedoch die Auseinandersetzung mit der Autorität des/der Trainer*in wird schwieriger!

Die emotionale Auseinandersetzung mit der Trainer*innenautorität spielt in der Entwicklung des Lernformats Trainingsgruppe eine wichtige Rolle (vgl. Bennis 1972 oder Schwarz 2005). Der Unterschied, ob ein*e Trainer*in Teil der Gruppe ist oder nicht, liefert Anschlussmöglichkeiten, um sowohl das Thema Zugehörigkeit, vor allem die Dimension Einfluss, als auch das Thema Intimität in Gruppen zu bearbeiten. Die Beobachtungen zur Auseinandersetzung mit der Trainer*innenautorität in virtuellen Gruppen hat verschiedene Hypothesen aufgeworfen:

Auf der einen Seite wirkt das offene Setting einer gruppendynamischen Trainingsgruppe im Virtuellen mächtiger als in Präsenz. Durch das Fehlen körperlicher Anwesenheit (in der eigenen Gruppe, im Plenum oder in den Pausen) ist der sichere Container, der für die emotionale Auseinandersetzung in und mit dem Setting notwendig ist, weitaus fragiler. Teilnehmer*innen sind nun mal alleine vor ihrem Bildschirm. Diese Tatsache wirkt sich auch auf die Zuschreibungen gegenüber dem/der Trainer*in (als Repräsentant*in für das Setting) aus. Von dem einfachen Unverständnis für das Lernformat und der erwarteten Beteiligung in den Trainingsgruppen bis hin zu auftretenden Manipulations- und Angstfantasien in der Auseinandersetzung mit Trainier*in und Gruppe, sind virtuelle Gruppen anfälliger, diese nicht auflösen bzw. den besonderen Lerngewinn durch eben diese Auseinandersetzung daraus ziehen zu können. Der Unterschied Trainer*in-Gruppe, sofern er als offenes Thema gespielt und nicht moderativ wegstrukturiert wird, ist im virtuellen Raum schwerer zu bearbeiten, gleichwohl er sehr wirksam sein kann.

Auf der anderen Seite entsteht aber auch der Eindruck, dass die Autorität des/der Trainer*in als weniger mächtig und deshalb für manche als weniger einschüchternd erlebt wird. Ähnlich wie bei der Abminderung der Extraversion und der Zunahme an Beteiligungschancen bei Introversion beschrieben liegt dahinter die Angstreduktion aufgrund fehlender körperlicher Nähe im virtuellen Raum. Die Trainer*innenautorität ist als ein ähnlich kleines Kästchen wahrzunehmen wie alle anderen Teilnehmer*innen auf dem Bildschirm der virtuellen Gruppe. Der Kontakt ist begrenzt. Somit fällt auch der Unterschied zu Beginn weniger ins Gewicht. Genauso liegt die Annahme nahe, dass die Einflussmöglichkeiten beschränkt sind, da man sich die/den Trainer*in sowie deren/dessen Wirkung auf einen selbst leichter auf Distanz halten kann. Es lässt sich annehmen, dass im virtuellen Raum eine andere Form der Autorität entsteht. Eine Autorität, die eventuell weniger Angst besetzt ist und im Vergleich zu bisherigen Autoritäten (Vater, Mutter, Lehrer*in, Chef*in, etc.) zu sich selbst weniger existenziell nahe liegt.Footnote 8 Sie ist eher eine, die sich verstärkt über die Anerkennung digitaler Steuerungskompetenzen, die Handhabung der Technik und das Schaffen eines passenden Arbeitsrahmens etabliert (siehe Abschnitt zu technischem Know-how: Ein relevanter Unterschied auch zu Bearbeitung der Autorität des/der Trainer*in).

Wie der Unterschied Trainer*in-Gruppe im virtuellen Raum nun ins Gewicht fällt, müsste in weiteren Studien und Beobachtungen zu virtuellen Trainingsgruppen analysiert werden. Gleichermaßen braucht es in der Fachcommunity der Gruppendynamiker*innen eine Theoriebildung zu den Interventionen in virtuellen Gruppen, da der virtuelle Raum andere Regeln bedient und Dynamiken forciert, um sich als Trainer*in ins Spiel zu bringen.

4 Fazit

Dieser Text stellt einen ersten Versuch dar, gruppendynamische Theorien zur Bearbeitung von Unterschieden in Gruppen auf deren virtuelles Pendant zu übertragen. Die Annahme besteht, dass Gruppen sich über die Bearbeitung ihrer Unterschiede bilden und erst durch die bewusste Auseinandersetzung ihrer Differenzen zu einer Einheit werden können. Ist das nicht der Fall, so würden sie nach Lackner (vgl. 2008, S. 88) eine undifferenzierte Einheit an Individuen bleiben, in der Unterschiede als irrelevant angesehen und Individualitäten eingeordnet und im Sinne der Gruppennorm gleichgemacht werden. Ihre Ressourcen blieben dabei auf der Strecke.

Im virtuellen Raum gilt das für Gruppen ähnlich, nur verschieben sich die Wertigkeiten bestimmter Unterscheidungsmerkmale. So fallen Technikkompetenz, Aufgabenorientierung und verbale Kommunikationsfähigkeit stärker ins Gewicht als die mit dem Körper verbundenen Unterschiede wie Alter, Geschlecht oder Aussehen. Durch die Distanz via Bildschirm werden zurückhaltende und ruhigere Gruppenmitglieder stärker angeregt sich zu beteiligen, die sonst gesprächigeren, offeneren Personen bekommen hingegen weniger Schaufläche. Gleiches gilt für die Autorität des/der Trainer*in, der/die scheinbar weniger Irritations- und Machtzuschreibungspotenzial besitzt als in Präsenzgruppen, gleichwohl das Setting der gruppendynamischen Trainingsgruppe als weitaus verunsichernder erlebt werden kann.

Ob die Verschiebung der Relevanz verschiedener Unterscheidungsmerkmale in der Entwicklung einer Gruppe für den Lerneffekt eines gruppendynamischen Trainings bedeutsam ist, dazu gibt es mittlerweile eine rege Diskussion unter Gruppendynamiker*innen: von den Fans virtueller Formate bis hin zu den Verweigerern und Bewahrern ursprünglicher Gedanken der Trainingsgruppen, auch hier scheint die digitale Transformation in der Branche angekommen zu sein. Abseits der Euphorie bzw. der Abneigung zu progressiven Formaten müsste jedoch recht nüchtern abgewogen werden, was ein gruppendynamisches Training bewirken bzw. was Teilnehmer*innen darin lernen sollen. Aus bildungstheoretischer bzw. pädagogischer Sicht gilt es zu diskutieren, wo digitale Lehr-Lern Formate Sinn machen und wo nicht. Wie Krainz u. Csar (2022) erläutern ist ein Lernen in virtuellen Gruppen in all jenen Fächern denkbar, „deren anzueignende Inhalte auf der Ebene reiner Sachlichkeit verbleiben (z. B. Technik, Naturwissenschaften)“. Ist jedoch ein hohes Maß an Selbstbetroffenheit gefordert, „einem unmittelbaren Erfasstsein und Erfasstwerden des Subjekts von dem jeweiligen Gegenstand“, dann scheinen virtuelle Lernformate nur begrenzt ihre didaktischen Ziele erreichen zu können. Das trifft insbesondere jene Bereiche, „die sich mit Fragen der Gestaltung sozialer Prozesse, Sozialkompetenz, Selbstreflexion und Persönlichkeitsentwicklung befassen“ (ebd: 14).

Der Zweck einer Trainingsgruppe liegt im gemeinsamen Erleben, Erfahren und Reflektieren der eigenen Gruppendynamiken. Somit ist die Beziehungsebene die Inhaltsebene, was die Übersetzung dieser Form des sozialen Lernens für den virtuellen Raum herausfordernd macht. Durch die Unmöglichkeit Blickkontakt aufzubauen und die Reaktionen anderer Gruppenmitglieder auf das eigenen Verhalten wahrzunehmen, wird die rekursive Beziehungsentwicklung der Gruppe stark eingeschränkt. Die emotionale Anteilnahme und das Angerührtsein durch andere wird aufgrund der fehlenden körperlichen Reaktion im selben Raum geschwächt. Der eigene Körper als Resonanzkörper der Gruppe bekommt kaum Möglichkeit zu vibrieren (vgl. Rosa 2016, S. 24). Der physische Abstand erzeugt ein Strukturproblem in virtuellen Gruppen, das aus Ansicht des Autors den Lerneffekt einer gruppendynamischen Trainingsgruppe außerordentlich mindert. Diese Beobachtung teilen auch Krainz u. Lesjak (2021) wenn sie sagen, dass „Beziehungsbegriffe vielfach Raumbegriffe“ sind. „Nähe, Distanz, Zuneigung, Abneigung, Über- und Unterordnung, Augenhöhe, Position, Kernmitglied, Randfigur etc. Und sie alle brauchen, um mit verstehbarer Substanz unterlegt zu sein, die körperliche „Proxemik“. Ohne sie verlieren die Metaphern ihre „Bodenhaftung““ (ebd: 446).

Bezogen auf den gruppendynamischen Raum in virtuellen Gruppen und unter Hervorhebung der Tatsache, dass die fehlende Körperlichkeit dazu beiträgt, wie sich dieser Raum entwickeln kann oder auch nicht, ließen sich folgende Schlussfolgerung ziehen (vgl. auch Krainz u. Csar 2022): Die Dimensionen Zugehörigkeit und Einfluss haben auch in virtuellen (Trainings-)gruppen über das Sichtbar- und Wirksamwerden von spezifischen Unterschieden unmittelbare Relevanz. Die Dimension Intimität leidet jedoch durch die körperliche Distanz, das Fehlen informeller Räume, die permanente Selbstansicht sowie die sequenzielle Kommunikation in ihrer Entfaltung. In einer Gruppe am Bildschirm kann man sich nicht aussuchen neben wem man sitzt. Zu-neigung und Ab-lehnung werden körperlich weniger spürbar und bleiben in der gemeinsamen Beobachtung bzw. Kommunikation der Gruppe oberflächlich. Wechselseitige Resonanz und geteilte Zeugenschaft in der Bearbeitung intimerer Themen sind durch das Fehlen eines gemeinsamen Gruppenkörpers im Raum kaum möglich. Virtuelle Gruppen tun sich schwer Intimität zu entwickeln, was für gruppendynamische Lernformate herausfordernd ist.