Im Allgemeinen haben Organisationen keine gesteigerte Neigung, sich selbst in einer reflexiven Form zu thematisieren. Sie tun dies – so sieht es aus – nur, wenn sie dazu gezwungen werden. Auslöser dafür sind Umstände, die sich als Behinderungen des Normalbetriebs bemerkbar machen. Damit klar zu kommen, ist im Wesentlichen die Aufgabe des Managements.

Das Eingeständnis, dass es überhaupt Schwierigkeiten gibt, fällt nicht leicht, eher sieht es so aus, als gehörte es zur Aufgabe des Managements (auch Beratung macht mitunter diesen Eindruck), Optimismus zu verströmen. Sobald Schwierigkeiten ihren Widerhall in den Interaktionen von Akteuren finden, hat man es mit Konflikten zu tun. Dieses Phänomen ist in Organisationen ebenso alltäglich, wie eine gewisse Abneigung zu bestehen scheint, explizit von „Konflikt“ zu sprechen. Die Scheu vor dem Wort entspricht der Scheu vor dem Phänomen bzw. seiner Behandlung.

Dabei könnte man es „emotionsfrei“ damit halten, unter „Konflikt“ eine Interessenskollision zu verstehen, die sich zwischen Personen ereignet, die zur Zusammenarbeit verpflichtet sind. Ein solches Konfliktverständnis zu Grunde gelegt, sieht man sich in der Beobachtung und Beratung von Organisationen vor einem äußerst umfangreichen Ausmaß potenzieller Konflikte.

Obwohl man in der Gestalt der Organisation ein Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele vorliegen hat, bringt der Umstand, dass Organisationen einen lebensweltlichen Kontext für Menschen darstellen, andere Bedeutungslagen mit sich. Beides geht nicht reibungsfrei zusammen. In einer Organisation sind wir (mit einem Wort Kants) im „Reich der Zwecke“. Das Menschsein dagegen ist (wieder mit Kant) ein „Zweck an sich selbst“. Heteronomie steht gegen Autonomie, Fremdbestimmung gegen Selbstbestimmung.

Der Umstand, dass Organisationen immer eine hierarchische Grundstruktur haben, ist ebenso Problemlösung wie Problem. Karl Kraus hat über die Psychoanalyse geätzt, sie sei die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält. Vergleichbares lässt sich über Organisationen sagen. Jede Organisation hat aufgrund von Eigenkomplexität und Eigendynamik immer „(unerwünschte) Nebenwirkungen“. Das ist sozusagen „normal“.

Ob man will oder nicht, um eine organisationsimmanente, andauernde, mindestens latente Konfliktgeladenheit kommt man nicht herum. Deshalb ist das Thema Konflikt gewissermaßen ein „Dauerbrenner“, geboren aus der „Organisationskrise der Hierarchie“. Praktisch gesehen ist sie jeweils spezifisch zu bewältigen, und das versucht das Management zu tun. Wie es scheint, hält man dabei gerne nach als neu propagierten Managementmethoden Ausschau, übernimmt Konzepte, was zu einem (partiellen) Umbau interner Kommunikationsprozesse führt, und passt auch die kommunikative Außendarstellung entsprechend an (z. B. in der Form „Wir sind jetzt agil.“).

Die letzte Zeit ist von der Covid-Pandemie gekennzeichnet, die auch im Organisationsleben ihre Auswirkungen zeitigt. Eine diesbezügliche Systematik in der Beschreibung der Phänomene seht noch aus. So viel scheint jedoch festzustehen: Nicht nur wird uns der Corona-Virus nicht mehr verlassen, auch werden einige der umgebauten Routinen bleiben. Denn durch Corona wurde die Hierarchie quasi einem Rütteltest unterzogen, was zu ihrer ohnehin gegebenen Problematik eine weitere Belastungsprobe dazufügte und entsprechende Reaktionen erforderte.

Unerwartet mit einer neuen Krise konfrontiert – gesellschaftlich, kulturell, organisational, privat – sind wir nun gerade dabei, die dabei entstandenen Erfahrungen zu sortieren und auszuwerten. Ob und welche „Learnings“ dabei entstanden sind, die hinsichtlich der opponierenden „Feldkräfte“ von Transformation und Beharrung etwas bewegen werden, muss sich erst zeigen. Jedenfalls erfordert die Polarität von Beharren und Verändern durch die aktuellen Verstörungen Diskurse auf mannigfaltigen Ebenen, vom Privaten bis zum Gesellschaftlichen.

Mit dem Ausblick auf Letzteres analysiert Gerhard Schwarz „Irrationale Dimensionen der Coronakrise“. Er untersucht das Wirksamwerden von kollektiven, archaischen Verhaltensmustern, die insbesondere unter dem Krisenbewältigungsdruck zum Vorschein kommen und aufzeigen, dass sie mit ihrer Dynamik das zweckbezogene Leben in Organisationen gehörig stören können. Für eine adäquate Interpretation der aktuellen Krise braucht es zunächst ein Verständnis der Kollektivregression, welche sich in den genannten archaischen Verhaltensmustern ausdrückt und das Konfliktgeschehen prägt. Nicht zu vergessen ist die Einbettung der Coronakrise in die allgemeine gesellschaftspolitische Dynamik, gekennzeichnet durch Populismus, Rechtsruck, autoritäre Versuchungen und die schleichende Verwandlung der liberalen in eine autoritäre Demokratie, eine Dynamik, die ihrerseits bereits als Kollektivregression aufgefasst werden kann, auch ohne Corona. Konfliktbearbeitung kann nur durch Kommunikation erfolgen, auch durch die über öffentliche Medien getriebene, was deren Bedeutung als „vierte Gewalt“ unterstreicht.

Dass sich seit Ausbruch der Pandemie die Kommunikation im Inneren der Organisationen verändert hat, diesem Thema widmet sich Anette Bickmeyer („Zoomication. The New Normal?“), die mit ihrer Wortschöpfung „Zoomication“ einen neuen Begriff in die Diskussion einbringt. Durch die Corona-Krise waren viele Organisationen gezwungen, verstärkt mit digitalen Kommunikationsmedien (allen voran Zoom, daher „Zoomication“) zu arbeiten, um den Betrieb per Homeoffice aufrecht erhalten zu können. Die Untersuchung der Auswirkungen dieser zum Teil massiven Intervention in das Kommunikationsverhalten untersucht Bickmeyer unter Rückgriff auf Anthropologie. Die „Entkörperlichung“ von Kommunikation zeitigt Auswirkungen, die vielfach ein Defizitgefühl hinterlassen.

Es ist, als würde das „Körperausschaltungsprinzip“, von dem Dieter Claessens in seiner Schrift „Das Konkrete und das Abstrakte“ abhandelt, eine neue Stufe erreicht haben. Virtualisierung als Überwindung alles Fleischlichen, sozusagen. Wer sich genügend oft in Online-Konferenzen befunden hat, kann nachvollziehen, wie viele unserer Begriffe zur Charakterisierung von Beziehungen Metaphern sind, die aus Beschreibung von Raumvorstellungen bezogen sind. Beziehungsbegriffe sind vielfach Raumbegriffe, Nähe, Distanz, Zuneigung, Abneigung, Über- und Unterordnung, Augenhöhe, Position, Kernmitglied, Randfigur etc. Und sie alle brauchen, um mit verstehbarer Substanz unterlegt zu sein, die körperliche „Proxemik“. Ohne sie verlieren die Metaphern ihre „Bodenhaftung“.

Wir haben inzwischen mehrfach gruppendynamische Trainingsgruppen im Online-Format durchgeführt. Ein Mangel, der allen auffällt und der auch entsprechend adressiert wird, ist der Mangel an informellen Kommunikationsmöglichkeiten. Kein Pausengespräch, keine Kaffeeküche, keine Rauchertreffpunkte, kein „kurzer Dienstweg“, kein „Flurfunk“. Ins Räumliche übersetzt bedeutet das, formelle Kommunikation bringt die Leute auseinander, informelle Kommunikation bringt sie zusammen, und das Verhältnis beider Formen von Kommunikation bestimmt die Dynamik in Gruppen und Organisationen.

Was die unmittelbare Kommunikation anlangt, werden zwar auch online nonverbale Signale abgesetzt, und es entstehen Eindrücke, auf die reagiert wird. Die Beziehungsaufnahme muss aber ausschließlich oder vor allem verbal erfolgen. Was z. B. allein der nichtvorhandene Augenkontakt anrichtet, der online nur pseudohaft kompensierbar ist, kann nur übersehen werden, wenn man konsequent „sachlich“ bleibt und sich von der Begreifbarkeit der berühmten „Beziehungsebene“ verabschiedet. (Apropos „begreifen“: Auch der Begriff „Begriff“ setzt physische Nähe voraus.).

Eine nicht unwesentliche Bedeutung tragende Dimension der Kommunikation ist die Verteilung der Personen im Raum. Wer neben wem oder gegenüber von wem sitzt, wie sich Untergruppen bilden und im Raum abbilden und Demarkationslinien zwischen ihnen „lebendig“ darstellen etc., all das geht im online Format verloren. Eine elementare Dimension von Zusammenkünften ist nicht mehr, die Sitzordnung. In den gewöhnlichen Business-Konferenzen wird darauf ohnehin meist wenig geachtet. Anders ist es natürlich, wenn der Zweck der Übung die Förderung sozialer Sensibilität sein soll.

Um die Corona-Krisenbewältigung in einer Organisation geht es auch im Beitrag von Elisabeth Cinatl („Konstruktiver Umgang mit Spannungsfeldern in einer feministischen Organisation. Unter der Lupe – was Corona sichtbar macht!“). Sie analysiert das Innenleben ihrer Organisation mit dem besonderen Fokus auf den Ausgleich des Widerspruchs zwischen Hierarchie und Partizipation. Feministische Organisationen orientieren sich mehr oder weniger deklariert an bestimmten Werten (wie Selbstbestimmung, Partizipation, Gewaltfreiheit u. ä.). In der Fallstudie werden die (für eine feministische Organisation) typischen Spannungsfelder beschrieben, die sich aus dem Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdbestimmung nähren und sich während der Corona-Krise deutlich verschärft haben. Der permanent zu balancierende Widerspruch kristallisiert sich in der Frage, wie viel Hierarchie eine Organisation verträgt, in der eine „demokratische“ Werthaltung vorherrscht (vgl. dazu die Diskussion um das Verhältnis von Organisation und Demokratie, GIO Heft 3/2019).

Im Umgang mit Konflikten liegt für Organisationen ein mitunter beträchtliches Lernpotenzial, vorausgesetzt, dass das, was man im Allgemeinen oft als „Störung“ erlebt, als bedeutsame Information gesehen werden kann. Die Auseinandersetzung mit solchen Informationen kann bestenfalls einen Perspektivenwechsel hervorrufen und zu einer veränderten Konfliktdynamik führen. Am Beispiel einer Intervention im Rahmen einer Konfliktbearbeitung (Dynamische Soziogrammaufstellung) zeigt Antje Tschira, wie hier die vermeintlichen Störungen transformiert werden konnten, sodass man schließlich zu einer konstruktiven Konfliktbearbeitung gelangte („Störungen als Ressource. Konstruktive Konfliktbearbeitung mit einer Dynamischen Soziogrammaufstellung“). Die Beschreibung des Falles ist umrahmt von ausführlichen theoretischen Überlegungen zu den Begriffen „Störung“ und „Ressource“, alles sehr stark im Denken und in der Diktion am „Systemischen“ ausgerichtet.

Wenn sich das Management einer Organisation neuen Ansätzen verschreibt, werden damit Absichten verfolgt, die im weitesten Sinn die Lage verbessern sollen (Hoffnung auf Verkürzung von Produktions- und Performancezeiten, qualitative und quantitative Steigerung von Output). Eventuell sollen direkt oder indirekt vorhandene Konflikte tangiert, wenn auch kaum direkt adressiert werden. Womit nicht unbedingt gerechnet wird, ist der Umstand, dass eine erreichte Dynamisierung von Abläufen auch Konflikte erzeugen kann.

Ein mittlerweile schon nicht mehr ganz so neuer Ansatz ist die „Agilität“. Wie auch schon einer ihrer Vorgänger, Scrum, entspringt die Idee dem IT-Projektmanagement. Es entspricht dem allgemeinen „Imperialismus“ der Informationstechnologie, dass nicht nur Ihre Produkte den Weg in die Welt finden und Kommunikationsgewohnheiten nachhaltig verändern (vielfach nicht zum Besseren), sondern auch bestimmte Denkschablonen, was dann in solchen behauptetermaßen generalisierungsfähigen Konzepten ihren Ausdruck findet. Eine nicht zu übersehende Rolle spielen dabei auch Beratungsfirmen, die ihre Geschäfte auf der Ansatz-Börse machen und dem geneigten Management einer Organisation im Zuge von Consultingaktivitäten eine neue, aktuelle Gangart versuchen plausibel zu machen.

Was dann ins Organisationsinnere hinein als neuer „Stil“ zu etablieren ist, soll auch nach außen nicht verschwiegen werden. Immerhin ist man dem Selbstverständnis nach an vorderster Front des Fortschritts und der Modernität. „Wir sind jetzt agil!“, sagt dann ein Unternehmen von sich (wem eigentlich?). Was daraus resultiert, analysiert Philipp Hommelsheim anhand einer Bank. („Bank meets Agilität. Über die Konfliktdynamik zwischen Institution und Organisation.“) Der Beitrag macht darauf aufmerksam, dass hier ein Konflikt zu balancieren ist. Bankenkrise? Vertrauenskrise? Basel 1 und folgende sind regulative Eingriffe in das Bestreben der Banken, Geldgeschäfte zu machen. Gegen die daraus entstehenden gebremsten Geschäftsentwicklungen soll Agilität helfen, wovon sowohl die Belegschaft als auch die Kunden zu überzeugen sind, so das Selbstverständnis. Wie gut das gelingt bzw. überhaupt gelingen kann, zeigt der Beitrag.

Ein neues Zauberwort ist im Begriff, die Agilität zu überholen, die Ambidextrie. Seriös betrachtet ist damit gemeint, dass man als Management nicht nur ein Ziel im Sinn haben soll, sondern auch noch ein zweites, beide eben (ambi = lat. beides). Welches diese beiden Ziele sind, nach denen das Management streben soll, und wie das gelingen kann, zeigt Matthias Csar („Ambidextrie. Brauchbare Beobachtungsbrille zur aktuellen Konfliktdynamik in Organisationen?“). Wie man lesen kann, tun sich hier Zweifel auf.

Beobachtet man über einen längeren Zeitraum die Konjunkturen der jeweils neuesten Managementkonzepte, ist mehreres von Interesse. Der Neuigkeitswert ist oft ein bloßes Rewording, nicht einmal ein Reframing. Neu sind allenfalls die nachwachsenden Generationen von Führungskräften, die vielleicht nicht mit altem Vokabular versehen werden wollen. Gewissermaßen nebenbei kann man sich auch für die Nomenklatur interessieren, zumal wenn es sich um Neologismen handelt.

Außerhalb der organisationalen Kunstsprachen wird das Wort Ambidextrie z. B. im Sport verwendet. Wenn ein Werfer im Cricket in der Lage ist den Ball mit beiden Händen zu werfen, dann ist er „ambidextrous“. (Wieder hätte ein Wort aus dem Sport den Überstieg ins Managementvokabular geschafft, Scrum kommt aus dem Rugby.) Eigentlich heißt das „mit zwei rechten Händen“ (dexter = lat. rechts). Der Gegenbegriff wäre „ambisinister“, übersetzt „mit zwei linken Händen“, sinngemäß meint alles zusammen also „besonders geschickt“ vs. „besonders ungeschickt“.

Nun ist Eines zu tun ohne das Andere zu lassen sicherlich mehr als nur eindimensional unterwegs zu sein. Folgt man aber den Erläuterungen, kann man sich auch fragen, ob zur Realitätsbewältigung die Fokussierung auf nur zwei unter Umständen gegensätzliche Ziele ausreicht, oder lediglich neuerlich eine Komplexitätsreduktion darstellt. Da hatte man schon einmal mehr im Blick. Die „Balanced Score Card“ als Maßstab zur Bewertung von Unternehmen und vorangehend der zugrunde liegenden Managementaktivitäten z. B. bezog sich immerhin auf vier Dimensionen. Difficile est satiram non scribere. Eindimensionalität ist schlecht. Ambidextrie – zwei Hände. Was kommt danach? Vielleicht Oktopus-Management.

Die Regelung sozialer Verhältnisse, sowohl in der Politik als auch in der Gestaltung von Organisationen, ist eng mit Fragen der Bildung verknüpft. Letzteres wirft die Frage auf, wie der Umgang mit Unterschieden und die Handhabung von Konflikten als Ausdruck von Interessensdivergenzen erlernt werden kann. Besonders geeignet sind dafür freiere Lernsettings, wie sie besonders im Modell der gruppendynamischen Trainingsgruppe vorliegen. Unter geeigneter Begleitung werden die Mitglieder einer Gruppe in einen Prozess verstrickt, in dem zunehmend Selbstthematisierung eingeübt wird.

Logik und Zielsetzung der T‑Gruppe sind vielfach beschrieben. Dennoch kommt es in der Community der Trainerinnen und Trainer zu Auffassungsunterschieden, worauf der Fokus von Interventionen zu richten ist. Nicht nur für diejenigen, die an solchen Veranstaltungen teilnehmen, ist dies als die Betroffenen von Interventionen von Bedeutung, auch für alle, die das Trainingshandwerk erlernen wollen, ist es wichtig den Unterschied zwischen gruppen- und personenbezogenen Interventionen zu verstehen. Denn sie sind es, die nach ihrer Ausbildung in den Gruppen, für die sie dann zuständig sind, die Interventionen setzen werden.

Nicht selten kommt es in T‑Gruppen zu „Feedback-Ritualen“, wo eine Person nach der anderen prozessfern und kontextlos gesagt bekommt, wie sie wirkt. Das mag bis zu einem gewissen Grad für die solchermaßen Besprochenen interessant sein. Hat man aber im Sinn, dass eine Gruppe ein Soziotop ist, das in seinem Kern eine politische Situation darstellt, in der die Gruppenmitglieder ein Gemeinwesen bilden, das die eigenen Beziehungsverhältnisse beobachtet, bespricht und reguliert, dann ist das jedenfalls mehr als bloße Personenorientierung. Dies wird im Beitrag von Gisela Clausen („Gruppen- oder personenbezogene Interventionen: Wie die politische Dimension in gruppendynamischen Trainings an Bedeutung verliert“) differenziert auseinander gesetzt.

Ein schon weniger freies Gelände für Lernerfahrungen sind institutionelle Prüfungen. Wer in einer Hochschule oder Universität das studierende Publikum lege artis „bearbeitet“ und dabei die Ambition verfolgt, dass sich die Perspektive der Betroffenen nicht nur auf einen definierten Lerninhalt richtet, sondern darüber hinaus und auch weitergehend auf die Bedingungen, denen das gesamte Lehr-Lern-System unterworfen ist, muss sich etwas einfallen lassen. Warum sollte man so etwas wollen? Weil manche Lerninhalte, vor allem wenn es um Projekte, Organisation und Management geht, einen situativen Selbstbezug der Betroffenen geradezu aufdrängen.

Damit aber ein geeignetes Nachdenken entsteht, muss irgendetwas von den „standard procedures“ abweichen. Folgt man dem Dewey’schen Lockruf „Learning by Doing“, hat man zuerst für einen Freiraum zu sorgen, der dann diskursiv durch Einflussnahme auf die Gestaltung der Situation und die Beteiligung an den dafür nötigen Entscheidungen wieder geschlossen wird. Dass dies in den entsprechenden Lehrveranstaltungen gerade hinsichtlich des Prüfungsmodus vorgenommen wird, verleiht der Idee den geeigneten Ernstcharakter (es geht wirklich um etwas), weil sich in der Prüfung die institutionellen Machtverhältnisse am deutlichsten kristallisieren. Wer in einer vergleichbaren institutionellen Position ist, kann sich bei Jürgen Radel & Roland Schuster („Die 49-Punkte-Intervention. Reflexion struktureller Widersprüche im tertiären Ausbildungssektor mithilfe einer didaktischen Intervention“) Anregungen holen.