Beobachten wir Organisationen, dann leiten uns allzu häufig die Bilder von geschlossenen Funktionssystemen, die als Hort von Rationalität ermöglichen, dass Entscheidungen an Entscheidungen anschließen und die Welt auf das reduziert wird, was als eine gewollte Zukunft angenommen wird. Betrachten wir den Prozess des Organisierens im Heute, wirken diese Beschreibungen wie ausgestanzte Ausschnitte, die nicht zu erfassen vermögen, was jenseits dieser scharfen Konturen passiert: Die Grenzen von Umwelten und Organisationen werden fließend. Es braucht ein mehr an Komplexität nach Innen und das Zulassen von Ambiguitäten, um bestehen zu können. Dies macht die Faszination von Organisieren im Heute aus. Mit der Netzwerktheorie wandern diese Phänomene in den Fokus der Bobachtung. Neu ist diese Seite des Organisierens nicht, ihr wurde jedoch bislang nicht die für heutige Komplexitätsverhältnisse adäquate Aufmerksamkeit zuteil: Netzwerke wurden immer als die informelle Seite der Organisation beschreiben, als ein „Schmiermittel“ des Sozialen. Die Netzwerktheorie erschafft andere und faszinierende Ausschnitte des Verstehens von Organisieren. Für die Praxis der Beratung eröffnet sie den Zugang zum Phänomen Netzwerk und kann zur Entwicklung eines Führungsverständnisses beitragen, das auf die bewusste Ermöglichung von Netzwerken ausgerichtet ist. Mit diesem Zugang von Führung könnte eine Balancierung von Rationalität der Organisation auf der einen Seite und schöpferischer Dynamik von Netzwerken auf der anderen Seite gelingen.

1 Der Netzwerkansatz

Ein jeder kennt diese Erfahrung: Betrachten wir die Beziehungsgeflechte, in denen wir uns bewegen, entdecken wir überraschend häufig gemeinsame Verbindungen zu uns vorher fremden Menschen. Diese Erfahrung formten Manfred Kochen und Ithiel de Sola Pool (de Sola Pool und Kochen 1989) bereits in den 50er Jahren zu der Erkenntnis, dass ein jeder Mensch über sechs Schritte mit jedem anderen Menschen in Verbindung sei. – It’s a Small world!

Das Einbinden und Bewegen in Netzwerken ist uns im Heute zu einem alltäglichen Phänomen geworden, mehr noch: Ohne Netzwerken verpassen wir den Anschluss und mindern unser „Sozialkapital“: Social Networks in ihren schillernden Facetten der Selbstdarstellung, berufliche Netzwerke, Interessenvertretung im Kleinen, wie im Großen, die Bewertung von Beziehungen und Kontakten nach Einsatzmöglichkeiten und Nutzbarkeiten, die berufliche Einbindung in Netzwerkstrukturen: Netzwerke bestimmen die Möglichkeiten und Qualität der Informationsgewinnung, mit ihnen erschaffen wir Möglichkeitsräume und Optionen und zugleich Kontrolle und Stabilität, Netzwerke sind der Raum, in dem wir uns in Beziehung und gegenseitiger Abhängigkeit verorten können und die eigene Identität bestimmen (und gelegentlich erschaffen). In einer wachsenden Vielfalt von Kontexten sind wir Knotenpunkt in einer Vielzahl von Netzwerken unterschiedlich gerichteter und ausgeprägter Beziehungen.

Ähnliches gilt für Organisationen, die als Akteure in differenzierten Netzwerken gemeinsame Formen der Kollaboration und Kooperation als Beziehungsmuster etablieren. Produktionsprozesse und Entwicklungsprozesse werden in Netzwerken aufgelöst, purpose-driven organizations fokussieren sich auf den Kern ihres Geschäftsmodells in enger Abhängigkeit zu Netzwerken, mit Supply Chain Management etablieren sich netzwerkorientierte Steuerungsansätze, die sich explizit von tradierten Ansätzen der Betriebswirtschaft abgrenzen, agile Arbeitsformen übertragen quervernetzte Kollaborationsformen in die Unternehmen und im institutionellen Bereich ist Einfluss von erfolgreicher Netzwerkarbeit abhängig. Aber ist das alles neu?

Die Ambivalenz von Netzwerken hat niemand so beeindruckend beschrieben wie Niccolò Machiavelli, der sich als Chronist der Renaissance mit Abscheu gegen die Netzwerke der herrschenden Familien („secte“) und deren mächtige primi in Florenz wandte, um eine Staatsform der rationalen Herrschaft zu etablieren (Machiavelli 2007). Machiavelli erkannte jedoch früh, dass er die Netzwerke nur durch Netzwerke aushebeln konnte und nichts traf ihn mehr, als der Ausschluss aus dem von ihm verachteten Netzwerk der Herrschenden. Netzwerke sind und waren immer eine Perspektive, aus der heraus soziale Phänomene beobachtet und beschrieben werden konnten. Unsere Ansätze und Selbstbeschreibungen haben Netzwerke häufig jedoch zu etwas geformt, das existiert, aber eben quer zu den geltenden Selbstbeschreibungen zu liegen schien.

Der Ausgang der systematischen Forschung zu Netzwerken liegt so auch in einer empirischen und unvoreingenommenen Beobachtung von Netzwerken und ihren Strukturierungsprinzipien. Das individuelle Verhalten wird in der Netzwerkforschung nicht aus der Zugehörigkeit zu Klassen, Schichten, Attributen oder anderen Kategorien oder Selbstbeschreibungen abgeleitet, sondern erscheint als Folge der Position des Akteurs im Netzwerk. Alle weiteren Aspekte sozialer Phänomene finden nur insofern Eingang in die Netzwerkforschung, als dass sie die Position im Netzwerk bzw. deren Folgen ursächlich zu begründen helfen. Soziale Phänomene werden in der Netzwerkforschung also als nachweisbare Muster sozialer Beziehungen und Interdependenzen im Netzwerk beschrieben, die empirisch begründet und fundiert sind (Fuhse 2016). Entsprechend kritisch war und ist das Verhältnis der Netzwerkforschung zu rein theoretischen Ansätzen wie der Systemtheorie (Holzer und Fuhse 2010).

1.1 Ansätze der Netzwerkforschung: Die Analyse der Relationen

Mit der formalen Analyse wendet sich die Netzwerkforschung der Betrachtung von klar abgrenzbaren Netzwerken und ihrem Kontext zu: Dies können Mitarbeiter eines Teams oder Unternehmens, Klassenstrukturen oder jeder andere denkbare und sinnhaft abgrenzbare Kontext sein. Mit dem Blick auf die Sozialbeziehungen (Ties) werden differenzierte Informationen über die Richtung, Ausgestaltung und Qualität der Verbindung zwischen den Akteuren (Knots) gesammelt und ausgewertet. Dies ermöglicht der Netzwerkanalyse Aussagen über die einzelnen Akteure, ihre Position, Bedeutung und Rolle im Netzwerk zu treffen. Die Beziehungen können hinsichtlich ihrer Qualität und Richtung differenziert werden und die Distanzen und Pfade zwischen den Akteuren ermöglichen Aussagen über deren Stärke oder Schwäche. Auf der Ebene des Vollnetzwerkes werden dessen Komplexität, die Dichte der sozialen Verbindung und die Ausbildung und Absicherung der Rollenbeschreibungen und -zuschreibungen im Netzwerk erklärbar (Krempel 2010; Fuhse 2016). Die Stärke oder Schwäche von Beziehungen lässt beispielsweise Aussagen über die Möglichkeit der Qualität der Informationsgewinnung und Position im Netzwerk zu: Bekanntes Beispiel hierfür ist die „Strength of weak Ties“-These von Mark Granovetter (Granovetter 1973): Starke Beziehungen verweisen auf eine enge Verbindung, die eher auf eine Stabilisierung gerichtet ist und den Akteuren häufig bereits bekannte Informationen zur Verfügung stellt. Neue und relevante Informationen (wie über neue Arbeitsstellen) entstehen wiederum in oberflächlichen und damit schwachen Verbindungen.

Die empirische Ausrichtung der Netzwerkanalyse und ihr relationaler Ansatz haben einen eigenen Zugang zur Beschreibung sozialer Phänomene geschaffen und sowohl in der Forschung wie in der Beratung neue Zugänge zur Ausformung, Entstehung, Dichte und Anpassungsfähigkeit von sozialen Phänomenen der Interaktionen von Menschen in Netzwerken geschaffen. Im organisatorischen Kontext werden mit der Anwendung der Netzwerkanalyse Abhängigkeiten, Positionen und Dynamiken in Unternehmensnetzwerken deutlich, gleich, ob es hier um Zulieferstrukturen, Entwicklungskooperationen oder aber um die Vernetzung von zentralen Akteuren in Entscheidungsfunktionen geht. Nach innen werden informelle Beziehungsmuster erkennbar und liefern Aussagen, über die Regulationsfähigkeit und -dynamik von Organisationen. Die Ausbildung von Positionen und Rollen in Netzwerken kann wiederum der Führungsforschung neue Ansätze und Antworten auf relationale (und agile) Entscheidungs- und Führungsprozesse in Organisationen geben.

1.2 Die Theorie oder was sind Netzwerke?

Seit ihren Anfängen ist die Netzwerkforschung mit ihrem empirischen Ansatz verbunden. Dies hat ihr die Kritik einer gewissen Theorieferne eingebracht und tatsächlich findet sich bis heute kein konsistentes Gebäude einer Netzwerktheorie. Die erkenntnisreichen Erklärungsmöglichkeiten der Netzwerkforschung haben jedoch dazu beigetragen, dass sich die an den Rand geschobene Frage nach der Theorie und dem, was ein Netzwerk ist in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit verschoben hat. Unterschiedliche konzeptionelle Ansätze versuchen hierauf eine eigenständige Antwort zu geben und bestehende Theorien wie die Systemtheorie versuchen ihrerseits den Netzwerkbegriff in ihre Gebäude einzubauen (Holzer und Fuhse 2010).

1.3 Das Verhältnis zwischen Menschen und Netzwerken: Theoretische Konzepte der Netzwerke

Ein erster Ansatz zur theoretischen Untermauerung der Netzwerkforschung bilden die handlungstheoretischen Ansätze, die basierend auf der Annahme eines nutzenkalkulierenden Individuums von einer Wechselwirkung zwischen sozialen Strukturen und individuellem Handeln ausgehen. Netzwerke werden in diesem Zusammenhang vorrangig als eine Ressource von Individuen verstanden, die es ermöglicht, die individuellen Möglichkeiten zu erweitern. Entsprechend hat der von der Handlungstheorie übernommene Begriff des Sozialkapitals seinen Einzug in die Netzwerktheorie gefunden: Netzwerke werden zum Gegenstand der individuellen Entscheidungen, in dem in soziale Beziehungen und das soziale Kapital investiert wird. Gleichzeitig werden Netzwerke zu einem Katalysator oder Mittel des individuellen Nutzenbestrebens: Sie eröffnen Möglichkeiten der individuellen Verwirklichung, sichern unseren Einfluss und eröffnen Jobchancen. Dieser Ansatz folgt der Idee, dass die Ausstattung mit Ressourcen (mit ökonomischen, kulturellem aber eben auch sozialen Kapital), die Ausprägung der Lebensstile bestimmt (Fuhse 2008). Netzwerke ermöglichen also Handlungsoptionen während sie andere Handlungsoptionen ausschließen. Zugleich bestimmen und leiten die sozialen Beziehungen in den Netzwerken unsere individuellen Interessen, Präferenzen und Entscheidungen.

Jenseits der Kritik an dem hinterlegten ökonomischen Ansatz liegt die Beschränkung der handlungstheoretischen Ansätze der Netzwerktheorie vorrangig in ihrem eingeschränkten Blick auf den handelnden Akteur im Netzwerk. Hierbei wird implizit ein vorsozialer Mensch angenommen, der sich der Netzwerke (vereinfacht formuliert) bedient. Ausgeblendet bleibt das Verhältnis zwischen Menschen und Netzwerken.

An dieser Stelle setzt eine Richtung der Netzwerktheorie an, die ausgehend von den Arbeiten Harrison Whites (White 2008) das Verhältnis zwischen Netzwerk und Menschen in den Mittelpunkt stellt. Den Ausgang bildet hier nicht der vorsoziale Mensch, der sich der Netzwerke bedient, sondern die im Netzwerk gebundenen Interaktionen. Diese Interaktionen im Netzwerk erschaffen sinngebende Strukturen, Unterschiede und Hackordnungen, die eine stabile Reduktion von Komplexität ermöglicht. In diesem Sinne sind Netzwerke durch Interaktion entwickelte Sinnstrukturen von Erwartungen zwischen Akteuren. Whites bekanntes Beispiel ist der Kinderspielplatz: Auf diesem werden durch Kooperationen, Auseinandersetzungen, Rangeleien Hack- und Rangordnungen ausgebildet und ausgehandelt (White 2008). Im sozialen Raum der Interaktion werden so Identitäten von Personen geschaffen, die in der Umkehrung hier ihre Verankerung (footing) erfahren und Kontrolle (control) ermöglichen. Diese Identitäten werden in Geschichten gebunden, miteinander verwoben und bilden ein narratives Geflecht über die Akteure und ihre Beziehungen zueinander. In diesen sinnhaft konstruierten Netzwerken der Interaktion werden zwei Prozesse miteinander gekoppelt: Der psychische Prozess des menschlichen Akteurs auf der einen Seite und der soziale Prozess der Erschaffung von kontextabhängigen und symbolisch konstruierten Personen im Netzwerk auf der anderen Seite (Fuhse 2008). Knotenpunkte in den Netzwerken sind damit nicht die Menschen an sich, sondern ihre symbolisch konstruierten Ausschnitte oder Personen, an die konkrete netzwerkspezifische Erwartungen und Eigenschaften gebunden sind. Menschen erschaffen in den Netzwerken ihre Welt- und Selbstsicht und Netzwerke erschaffen eine Sinnkonstruktion, die menschliches Verhalten derart konditioniert, dass sie passfähig zu den Bedürfnissen des Netzwerkes ist. Ähnlich wie der Kommunikationsbegriff in der Systemtheorie, wird der sinnschaffende Prozess der Interaktion als etwas genuin Soziales verstanden. Netzwerke sind im Verständnis dieses Ansatzes der Netzwerktheorie mehr als soziale Relationen zwischen Individuen. Sie werden als eine soziale Entität verstanden, die sich selbst reproduzieren und regulieren kann.

In einem relevanten Aspekt scheidet sich der Ansatz der Netzwerktheorie jedoch von der Systemtheorie: Die relationale Netzwerktheorie differenziert nicht zwischen System und Umwelt und verbannt auch den Menschen nicht in die Sphäre der Umwelt. Die Netzwerktheorie arbeitet mit einem komplexeren Ansatz, der die Beeinflussung von Netzwerken durch Menschen mitdenkt, die in unterschiedlichen Netzwerken eingebunden sind. Netzwerke sind so gefordert mit den aus anderen Netzwerkkontexten erwachsenden Aushandlungen und Erwartungen umzugehen („switching“). Dies eröffnet der Netzwerktheorie einen weiteren Blick auf die Anpassungsprozesse und die Entwicklung von Sinnkonstruktionen und die sie rahmende und beeinflusste Kultur.

2 Netzwerke: Praxis und wie das Neue in die Welt kommt

Die Ansätze Harrison Whites haben den Blick auf das Phänomen der sozialen Netzwerke erweitert und vom Akteur auf den sozialen Prozess der Konstruktion von Sinn-Identitäten und Kultur verschoben. Mit dem Blick auf die Praxis entfaltet dieses Netzwerkverständnis einen veränderten Zugang zur wachsenden Bedeutung von netzwerkförmigen Strukturen, ihre Bedeutung für die individuelle Identitätsbildung aber auch ihren sozialen Impact als Sinnkonstruktionen. Nicht der Akteur im Netzwerk, sondern Netzwerke als dynamische Sinnkonstrukte gewinnen im Organisations- und Unternehmenskontext an Bedeutung: Organisationen sind gezwungen, ein Mehr an Komplexität und Dichte in ihren sozialen Prozessen zu ermöglichen, um der wachsenden Komplexität ihrer Umwelten begegnen zu können: Die Einbindung in komplexe Netzwerkstrukturen nach außen wie auch die Zunahme von agilen, querfunktionalen und vernetzten Arbeitsformen zeichnen dies eindrücklich nach. In der Entwicklung und Führung dieser Prozesse herrscht jedoch nicht selten ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zu Netzwerken und Vernetzung vor wie das Niccolò Machiavellis: Netzwerke werden im besten Fall als Mittel zum Zweck, allzu häufig als quer zur Organisation liegendes und unsteuerbares Konstrukt aufgefasst. Agile und vernetzte Arbeitsformen werden solange geduldet, wie sie bestehende und formale Konstruktionen von Kommunikation, Entscheidungsprozessen und Differenzierungen nicht aushebeln. – Als tool wird Agilität als chic, als Katalysator des kulturellen Wandels aber häufig als Bedrohung empfunden. Netzwerkstrukturen sind auch in Organisationen kein neues Phänomen, aber nicht umsonst wurden Netzwerke immer als die informelle Seite von Organisation beschrieben. Die Ansätze der Netzwerktheorie können in der Beratung einen neuen, bewussten Zugang und Umgang mit „Netzwerken“ und „Organisationen“ eröffnen, einen Ansatz der auf ein Führungsverständnis der Ermöglichung gerichtet ist. Dies könnte einem Verständnis von Organisation den Weg eröffnen, das funktionale Rationalität im System und dynamische Schöpfung im Netzwerk in einer neuen Form ausbalanciert. Ob die nächste Gesellschaft eine „Netzwerkgesellschaft“ sein wird, wie Dirk Baecker prognostiziert (Baecker 2011, 2007), bleibt zu beantworten: Was aber beobachtbar ist, dass das, was in Netzwerken als identitätsstiftend ausgehandelt wird und als relevant bestimmt ist, als dynamischer Veränderungsimpuls auf gesellschaftliche Prozesse und Kultur ein- und rückwirkt. Netzwerke erschaffen Relevanz, überbrücken und bringen das Neue in die Welt (vgl. hier insbesondere Scharmer 2017, 2009).