Zusammenfassung
Fragt man nach dem Stellenwert von sozialen Netzwerken in der soziologischen Systemtheorie, so scheint es zunächst, als spielten sie keine wichtige Rolle: Anhand der Leitunterscheidung von System und Umwelt kommen Netzwerke nicht in den Blick, weil sie sich – im Gegensatz zu Interaktionssystemen, Organisationen und Funktionssystemen – nicht klar von ihrer sozialen Umwelt abzugrenzen scheinen. Systeme bedeuten immer eine Grenzziehung gegenüber einer Umwelt, während sich Netzwerke offenbar dadurch auszeichnen, keine Grenzen zu haben (White 1995: 1039). Andererseits jedoch ist der methodologische Grundgedanke, von Beziehungen statt von Individuen auszugehen, der Systemtheorie durchaus vertraut. Die Gesellschaft ist nicht eine Ansammlung von Menschen, sondern ein Kommunikationsgeschehen, dessen Ordnung darin besteht, dass Kommunikationen selektiv – und nicht zufällig – aufeinander Bezug nehmen: Die einzelne Kommunikation bestimmt sich „als Kommunikation im Netzwerk systemeigener Operationen“ (Luhmann 1997: 76). Die Systemtheorie teilt also durchaus jene „relationale“ Auffassung sozialer Wirklichkeit, die beispielsweise Emirbayer (1997) programmatisch für die Netzwerkanalyse in Anspruch nimmt. Beide beziehen sich auf den Sachverhalt, dass Elemente in selektiver Weise miteinander verknüpft werden – und zwar so, dass die Realisierung einiger (und das Ausbleiben anderer) Verknüpfungen einem bestimmten Muster oder Strukturierungsprinzip folgt. In dieser Hinsicht scheinen der System- und der Netzwerkbegriff denselben Sachverhalt zu bezeichnen: Sie sind Begriffe für „organisierte Komplexität“, d.h. für selektive Beziehungsmuster zwischen Elementen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Similar content being viewed by others
6 Literatur
Albrecht, Steffen, 2008: Netzwerke und Kommunikation. Zum Verhältnis zweier sozialwissenschaftlicher Paradigmen. S. 165–178 in: Christian Stegbauer (Hg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Baecker, Dirk, 2005: Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Baecker, Dirk, 2007: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Boissevain, Jeremy, 1974: Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions. Oxford: Basil Blackwell.
Bommes, Michael und Veronika Tacke, 2006: Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes. S. 37–62 in: Bettina Hollstein und Florian Straus (Hg.), Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bommes, Michael und Veronika Tacke, 2007: Netzwerke in der ‘Gesellschaft der Gesellschaft’. Funktionen und Folgen einer doppelten Begriffsverwendung. Soziale Systeme 13: 9–20.
Bourdieu, Pierre, 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. S. 183–198 in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten (Sonderband 2 der Sozialen Welt), Göttingen: Schwartz.
Emirbayer, Mustafa, 1997: Manifesto for a relational sociology. American Journal of Sociology 103: 281–317.
Fuchs, Peter, 1997: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie. Soziale Systeme 3: 57–80.
Fuchs, Stephan, 2001: Against Essentialism. A Theory of Culture and Society. Cambridge MA: Harvard University Press.
Fuhse, Jan, 2009a: The meaning structure of social networks. Sociological Theory 27: 51–73.
Fuhse, Jan, 2009b: Die kommunikative Konstruktion von Akteuren in Netzwerken. Soziale Systeme 15: i.E.
Fuhse, Jan, 2010: Verbindungen und Grenzen: Der Netzwerkbegriff in der Systemtheorie. In: Johannes Weyer (Hg.), Soziale Netzwerke, München: Oldenbourg (2. Aufl., i.E.).
Gibson, David R., 2003: Participation shifts: order and differentiation in group conversation. Social Forces 81: 1335–1381.
Gibson, David R., 2005: Taking turns and talking ties: networks and conversational interaction. American Journal of Sociology 110: 1561–1597.
Goffman, Erving, 1961: Encounters, Indianapolis: Bobbs-Merrill.
Hiller, Petra, 2005: Korruption und Netzwerke. Konfusionen im Schema von Organisation und Gesellschaft. Zeitschrift für Rechtssoziologie 26: 57–77.
Holzer, Boris, 2006: Netzwerke. Bielefeld: transcript.
Holzer, Boris, 2007: Wie “modern” ist die Weltgesellschaft? Funktionale Differenzierung und ihre Alternativen. Soziale Systeme 13: 355–366.
Holzer, Boris, 2010a: Die Differenzierung von Netzwerk, Interaktion und Gesellschaft. In: Michael Bommes und Veronika Tacke (Hg.), Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (i.E.).
Holzer, Boris, 2010b: Von der Beziehung zum System - und zurück? Relationale Soziologie und Systemtheorie. In: Jan Fuhse und Sophie Mützel (Hg.), Relationale Soziologie: Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (i.E.).
Kämper, Eckard und Johannes K. Schmidt, 2000: Netzwerke als strukturelle Kopplung. Systemtheoretische Überlegungen zum Netzwerkbegriff. S. 211–235 in: Johannes Weyer (Hg.), Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien: Oldenbourg.
Kieserling, André, 1999: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas, 1975: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. S. 9–20 in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 2, Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas, 1983: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas, 1995a: Kausalität im Süden. Soziale Systeme 1: 7–28.
Luhmann, Niklas, 1995b: Inklusion und Exklusion. S. 237–264 in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas, 1995c: Die Form “Person”. S. 142–154 in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas, 1996: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas, 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft (2 Bde.). Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Schmidt, Johannes F.K., 2007: Soziale Beziehung als systemtheoretischer Begriff? Soziale Systeme 13: 516–527.
Schneider, Wolfgang L., 1994: Die Beobachtung von Kommunikation. Zur kommunikativen Konstruktion sozialen Handelns. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Somers, Margaret, 1994: The narrative constitution of identity: a relational and network approach, Theory and Society 2: 605–649.
Tacke, Veronika, 2000: Netzwerk und Adresse. Soziale Systeme 6: 291–320.
Tacke, Veronika, 2007: Netzwerk und Geschlecht – im Kontext. S. 165–189 in: Christine Weinbach (Hg.), Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Teubner, Gunther, 1992: Die vielköpfige Hydra: Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung. S. 189–216 in: Wolfgang Krohn und Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Tilly, Charles, 2005: Identities, Boundaries and Social Ties. Boulder, CO: Paradigm.
White, Harrison C., 1995: Network switchings and Bayesian forks: reconstructing the social and behavioral sciences. Social Research 62: 1035–1063.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2010 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Holzer, B., Fuhse, J. (2010). Netzwerke aus systemtheoretischer Perspektive. In: Stegbauer, C., Häußling, R. (eds) Handbuch Netzwerkforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92575-2_28
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92575-2_28
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-15808-2
Online ISBN: 978-3-531-92575-2
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)