Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags

  • können Sie den Begriff „orthoplastics“ erklären.

  • wissen Sie, welche Disziplinen an der Extremitätenrekonstruktion beteiligt sind.

  • können Sie orthoplastische Behandlungsprinzipien darlegen.

  • erkennen Sie, weshalb eine interdisziplinäre Behandlung von Extremitätenverletzungen unabdingbar ist.

  • erfassen Sie, welche Verfahren der Weichteildeckung in diesem Kontext sinnvoll sind.

  • kennen Sie optimierbare perioperative Parameter der mikrochirurgischen Extremitätenrekonstruktion.

Einleitung

Die rekonstruktive Mikrochirurgie hat die Versorgung komplexer Extremitätenverletzungen erheblich verbessert. Sie zeichnet sich durch ihre interdisziplinäre Vernetzung aus. Allerdings bestehen deutliche regionale Unterschiede in der Verfügbarkeit plastisch-rekonstruktiver Chirurgie und eine merkliche Heterogenität der Zuweiserstrukturen. Dagegen ist eine Verbesserung der Versorgung durch frühzeitige Zusammenarbeit gerade in der Extremitätenrekonstruktion wissenschaftlich belegt [1, 2, 3].

Merke

  • Die Ergebnisse der Extremitätenrekonstruktion hängen maßgeblich von der frühen interdisziplinären Zusammenarbeit ab.

  • Die professionelle Implementierung von multidisziplinären Therapiepfaden unter Einbindung der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie ist von wachsender Bedeutung.

Fallbeispiel

Ein 21-jähriger Patient erlitt eine Polytraumatisierung durch ein Hochrasanztrauma bei einem Verkehrsunfall mit u. a. einer linksseitigen offenen distalen Unterschenkelfraktur, erheblichem Weichteilschaden und großflächigen Periostablösungen sowie Gefäßverletzungen der Aa. tibiales posterior et anterior, entsprechend Grad 3C nach Gustilo-Anderson (Abb. 1). Nach der interdisziplinären Schockraumaufnahme und Stabilisierung des Patienten erfolgten u. a. die Rekonstruktion der Aa. tibiales posterior et anterior sowie ein knöchernes und Weichteil-Débridement, einschließlich der Versorgung mithilfe eines Fixateur externe (Abb. 2). Eine Phase der hämodynamischen Instabilität mit Vasopressorunterstützung und intensivmedizinischem Aufenthalt wurde mit weiteren seriellen Debridements und intermittierender Vakuumversiegelung bis zum Erreichen eines vitalen Wundgrunds überbrückt. Es verblieb ein großflächiger Weichteildefekt mit Exposition der distalen Tibia und des Sprunggelenks. Sodann wurde ein Verfahrenswechsel zur definitiven internen Stabilisierung mithilfe einer Plattenosteosynthese von Tibia und Fibula durchgeführt (Abb. 3). Am Folgetag erfolgte die definitive Weichteilrekonstruktion mithilfe einer kombinierten Haut-Muskellappen-Plastik, basierend auf dem Gefäßsystem der A. thoracodorsalis (Musculus-latissimus-dorsi-Lappenplastik und Thorakodorsalarterienperforatorlappenplastik mit gemeinsamem Gefäßstiel, Abb. 4). Der Muskelanteil diente zum großflächigen Weichteilersatz, der kutane Anteil wurde über die Tibiavorderkante platziert, um im Verlauf ein etwaiges Anheben mit operativem Zugang zur Tibia zu ermöglichen. Der mikrochirurgische Anschluss erfolgte End-zu-Seit an die A. tibialis posterior sowie End-zu-End an 2 Begleitvenen mithilfe von jeweils 3 mm Geßäßkopplern (Abb. 5). Zwei Wochen postoperativ konnte der Patient mit stabilen Weichteilverhältnissen und beginnenden knöchernen Konsolidierungszeichen in die Anschlussbehandlung entlassen werden (Abb. 6). Sechs Monate postoperativ zeigte sich eine weit fortgeschrittene knöcherne Durchbauung (Abb. 7).

Abb. 1
figure 1

a Klinisches Beispiel einer Gustilo-Anderson-Grad-3C-Verletzung mit offener gelenkbeteiligender distaler Unterschenkelfraktur und erheblichem Weichteilschaden. b Die notfallmäßig durchgeführte computertomographische Angiographie zeigt akute Gefäßverletzungen der Aa. tibiales posterior et anterior

Abb. 2
figure 2

a,c Das qualitativ hochwertige Débridement von Knochen und Weichteilen umfasst die Entfernung aller kontaminierten und avitalen Strukturen. b,d Die knöcherne Stabilisierung wird mithilfe eines Fixateur externe durchgeführt

Abb. 3
figure 3

a Die definitive Rekonstruktion erfolgt interdisziplinär nach Erreichen sauberer und vitaler Wundverhältnisse. b,c Es findet ein Verfahrenswechsel zur definitiven knöchernen Versorgung mithilfe eines Ring- oder Hybridfixateurs bzw. einer Plattenosteosynthese statt

Abb. 4
figure 4

Die Weichteilrekonstruktion erfolgt mit vitalem und gut vaskularisiertem Gewebe, falls möglich mithilfe lokaler Lappenplastiken, zumeist aufgrund der ausgedehnten Traumazone jedoch mit freien Lappenplastiken. Für großflächige Defekte bietet sich die M.-latissimus-dorsi-Lappenplastik an (a), die mit einer fasziokutanen Lappenplastik kombiniert werden kann (b)

Abb. 5
figure 5

a,b Kutane Lappenplastiken werden bevorzugt zur Bedeckung von knöchernen Strukturen und Osteosyntheseplatten verwendet, um ein etwaiges Wiederanheben im Verlauf zu erleichtern. Der mikrochirurgische Anschluss muss außerhalb der Traumazone erfolgen, bevorzugt in arterieller End-zu-Seit-Technik und venös unter Verwendung mechanischer Ringkoppler

Abb. 6
figure 6

Klinisches Beispiel stabiler Weichteilverhältnisse (a) und beginnender knöchernen Konsolidierungszeichen (b,c) nach plattenosteosynthetischer Versorgung und lappenplastischer Deckung einer Gustilo-Anderson-Grad-3C-Verletzung mit offener gelenkbeteiligender distaler Unterschenkelfraktur

Abb. 7
figure 7

In regelmäßigen Abständen werden die Frakturkonsolidierung von Tibia (a,b,e,f) und Fibula (c,d,e,f) sowie der Heilungsprozess des Weichteilmantels in orthoplastischen Sprechstunden kontrolliert. Auf Verzögerungen im Heilungsverlauf und spezielle Rehabilitationsbedürfnisse kann eingegangen, Sekundäreingriffe können interdisziplinär geplant werden

Interdisziplinäre Extremitätenrekonstruktion

Komplexe Extremitätenverletzungen

Die Extremitäten sind aufgrund ihrer exponierten Lage und des dünnen Weichteilmantels anfällig für komplexe Verletzungen. Komplexe Kombinationsverletzungen treten insbesondere bei Hochenergietraumata auf. Zur Beurteilung wird die Gustilo-Anderson-Klassifikation verwendet (Tab. 1; [4]).

Tab. 1 Klassifikation offener Frakturen nach Gustilo und Anderson [4]

Merke

Zur Ersteinschätzung offener Extremitätenfrakturen wird die Gustilo-Anderson-Klassifikation verwendet.

Rekonstruktives Dilemma

Komplexverletzungen der Extremitäten stellen eine Herausforderung dar. Die Notwendigkeit einer stabilen knöchernen Fixierung wird durch die erforderliche Voraussetzung einer vaskularisierten und belastbaren Weichteilbedeckung ergänzt. Häufig kommen versorgungspflichtige Verletzungen neurovaskulärer Strukturen hinzu. Der lokale, aber insbesondere der freie Gewebetransfer in Kombination mit Techniken der Nerven- und Gefäßrekonstruktion hat die Grenzen der Extremitätenrekonstruktion deutlich erweitert. Ehemals als Amputationskriterien angesehene Verletzungsmuster wie Stammnervenläsionen, akute Avaskularitäten oder ausgedehnte Weichteilverluste sind in der heutigen Zeit im interdisziplinären Ansatz rekonstruierbar und bedingen die patientenspezifische Einzelfalldiskussion [5, 6]. Allerdings erfolgt die plastisch-chirurgische Extremitätenrekonstruktion häufig erst im späteren Verlauf nach erfolglosen Wundverschlussversuchen [7, 8].

Orthoplastischer Ansatz

Im Fall von Komplexverletzungen der Extremitäten ist eine multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Traumatologie, Gefäßchirurgie und Mikrochirurgie quasi intuitiv erforderlich. Gemeinschaftliche Therapieansätze wurden in den 1980er-Jahren erstmals beschrieben und in den 1990er-Jahren als „orthoplastic approach“ benannt [9, 10, 11]. Die Prinzipien umfassen die Optimierung des distalen Blutflusses, die belastbare knöcherne Stabilisierung, die Rekonstruktion der Weichteile sowie den Erhalt oder die Verbesserung von Funktion und Sensibilität. Erfahrungen insbesondere aus dem angelsächsischen Raum haben gezeigt, dass der orthoplastische Ansatz nachweislich Vorteile mit sich bringt. Dazu gehören die schnellere definitive knöcherne Stabilisierung und Weichteilbedeckung, die geringere Anzahl an Operationen, geringere Komplikations- und Revisionsraten, geringere Infektions- und Amputationsraten, kürzere Krankenhausaufenthalte, überlegene Wirtschaftlichkeit und bessere Langzeitfunktionen [1, 2, 12, 13].

Merke

Das Ziel der orthoplastischen Extremitätenrekonstruktion besteht darin, die betroffene Extremität in ihrer Länge und Funktion zu erhalten sowie einen belastbaren Weichteilverschluss zu erreichen.

Interdisziplinäre Boards und Leitlinien

Trotz der international berichteten Vorteile hat sich der orthoplastische Ansatz in nationalen Therapieempfehlungen und Behandlungsstandards noch nicht niedergeschlagen [1, 2, 12, 13, 14]. Einzig in Großbritannien hat die Zusammenarbeit von Traumatologie und plastischer Chirurgie seit 1997 mit den „Guidelines on the management of open tibial fractures“ formellen Charakter, der 2009 mit den „Standards for the management of open fractures of the lower limb“ weiter konkretisiert wurde und auf nationaler Ebene Leitliniencharakter hat [15, 16, 17]. Im deutschsprachigen Raum wurden zur interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Unfallchirurgie, plastisch-rekonstruktiver Chirurgie, Gefäßchirurgie und Radiologie sowie Mikrobiologie an einzelnen Zentren jedoch bereits „Extremitätenboards“ etabliert, um Pläne für die rekonstruktive Behandlung mit allen Beteiligten verbindlich festzulegen [8, 18, 19].

Merke

Voraussetzungen für die erfolgreiche Implementierung eines Extremitätenboards sind:

  • Anwesenheit von fachspezifischen Entscheidungsträger:innen an festen Terminen,

  • realistischer Zeitrahmen innerhalb der Arbeitszeit,

  • rechtzeitige Einladung und Erinnerung sowie

  • standardisierter und einsehbarer Anmeldungs‑/Protokollprozess.

Orthoplastische Zentren

Neben der Schaffung ausgewiesener Zentren ist ebenso die Definition von Zuweisungskriterien entscheidend (Tab. 2).

Tab. 2 Definition eines orthoplastischen Zentrums und Vorschlag für Zuweisungskriterien

Cave

Bei jeder Extremitätenverletzung und jedem Rekonstruktionsversuch gilt uneingeschränkt der Leitsatz „life before limb“.

Neben dem Benefit einer frühen Zuweisung hat sich die frühzeitige kalkulierte Antibiotikagabe innerhalb von 2 h bei offenen Frakturen bewährt [13, 20, 21].

Grundprinzipen der akuten und definitiven Frakturversorgung

Nach erfolgreicher Stabilisierung gemäß Advanced Trauma Life Support (ATLS) sollte ein Débridement mit knöcherner Reposition und Fixation innerhalb von 24 h erfolgen, wobei sich der Fixateur externe anbietet [22, 23, 24]. Die Débridements von Weichteilen und Knochen sollten ausreichend radikal durchgeführt werden, wobei der Fokus nicht auf der schnellstmöglichen, sondern der möglichst gründlichen Umsetzung, in Form von mehrzeitigen seriellen Gemeinschaftseingriffen von Orthopädie/Traumatologie und plastischer Chirurgie, liegt [13, 22, 23, 25]. Dies kann mit einer topischen Antibiotikaapplikation kombiniert werden, um die lokalen Infektionsraten zu senken [26].

Merke

Bei der interdisziplinären Extremitätenrekonstruktion ist die Qualität des fachübergreifenden Débridements von höchster Relevanz.

Im Rahmen dieses interdisziplinären Eingriffs wird sodann der Plan zu rekonstruktiven Therapie erarbeitet. Dieser umfasst zum einen die definitive knöcherne Stabilisierung mithilfe interner (intramedulläre Verfahren und Platten‑/Schraubenosteosynthesen) oder externer Verfahren (Ring‑, Hybrid- oder Hexapod-Fixateur) und der plastischen Rekonstruktion zum anderen, um die Weichteilkonsolidierung zu erreichen, Infektionen vorzubeugen und schließlich die Frakturheilung zu ermöglichen. Interdisziplinäre Extremitätenboards und Fallbesprechungen ergänzen die Therapiefindung [8, 18].

Gefäßdiagnostik und gefäßchirurgische Intervention

Bei schweren Traumata mit Weichteilbeteiligung der unteren Extremität ist die apparative Gefäßdiagnostik der gesamten Extremitätenachse angezeigt (Becken-Bein-CT-/MR-Angiographie). In der Tat fanden Zolper et al. bei der Hälfte ihrer Patientenklientel mit sekundären Wunddehiszenzen und -defekten nach initial traumatologisch/orthopädischen Eingriffen mithilfe der Angiographie als Ursache einen Verschluss wenigstens einer Kruralarterie, obwohl in nur 17 % der Fälle eine Gefäßerkrankung bekannt war [27]. Die Einbindung gefäßchirurgischer Expertise ist folglich bei Auffälligkeiten oder pathologischen Veränderungen frühzeitig angezeigt [28]. Jüngste Ergebnisse zeigen einen deutlichen Vorteil bei der Verwendung offen chirurgischer Verfahren [29].

Merke

Ein multidisziplinärer Ansatz schließt immer auch eine Gefäßdarstellung ein, die v. a. an der unteren Extremität zwingend erforderlich ist, um potenzielle pathologische Veränderungen des Gefäßsystems zu identifizieren.

Im Rahmen der Weichteilrekonstruktion kann entweder ein- oder zweizeitig eine Lappenplastik auch an vaskulär kompromittierte Extremitäten angeschlossen werden, wobei die in Tab. 3 aufgeführten Techniken beschrieben sind.

Tab. 3 Kombinierte Strategien zur mikrochirurgischen Extremitätenrekonstruktion bei insuffizienten Anschlussgefäßen. (In Anlehnung an Henn et al. [30])

Neben der statischen Schnittbildgebung gewinnt die farbkodierte Duplexsonographie immer mehr an Bedeutung. Diese birgt sowohl bei der Planung perforatorbasierter Lappenplastiken Vorteile, wie eine Verkürzung der Operationszeit und die Reduktion der Hebemorbidität, als auch bei der Beurteilung der Anschlussgefäße [31, 32].

Merke

Zur farbkodierten Duplexsonographie in der Mikrochirurgie empfiehlt sich die Verwendung eines linearen Multifrequenzschallkopfes (4–15 MHz) mit folgenden Basiseinstellungen:

  • Frequenz niedrig (5–7 MHz),

  • Tiefenfokus auf Höhe der Muskelfaszie,

  • „pulse repetition frequency“ (PRF) niedrig (um 0,5 kHz),

  • „color gain“ gerade so hoch, dass nur wenige Artefakte auftreten.

Zeitfenster bis zur Weichteilrekonstruktion

Das optimale Zeitfenster bis zur Weichteilrekonstruktion kann zum heutigen Zeitpunkt aufgrund mangelnder Datenqualität nicht eindeutig quantifiziert werden [33]. Vielmehr bestimmt die Notwendigkeit serieller radikaler Débridements bis zum Erreichen vitaler Knochen und Weichteile die Länge des Intervalls bis zur Rekonstruktion [23, 25]. Seit Godina galt die frühzeitige Weichteilrekonstruktion innerhalb von 72 h als erstrebenswert [10]. Mithilfe der Unterdruck-Wundtherapie scheint dieses Intervall jedoch auf bis zu 10 Tage verlängerbar zu sein, wobei ein vollständig vitaler Wundgrund erreicht werden muss. Hierfür können mehrere Debridements notwendig sein, allerdings sollten sowohl die Zahl der Debridements als auch die Zeit bis zum definitiven Wundverschluss minimiert werden [22, 23, 25]. Darüber hinaus können Vakuumverbände bei kritisch kranken Patienten auch die zweizeitige Durchführung der knöchernen und plastisch-rekonstruktiven Therapie nach der Stabilisierung des Gesamtzustands bzw. an 2 aufeinanderfolgenden Tagen ermöglichen, um die maximale Operationsdauer zu minimieren. Dabei bleibt allerdings zu beachten, dass Vakuumpumpen konventionellen Verbänden zumindest in der Akutphase der ersten 72 h nicht überlegen zu sein scheinen, aber ein genereller Trend zu niedrigeren Komplikations- und Infektionsraten bei der Verwendung von Okklusivverbänden besteht [34, 35].

Cave

  • Im Kontext von Extremitätenverletzungen dient die Unterdruck-Wundtherapie als temporärer Wundverschluss. In keinem Fall sollte sie die definitive Therapie verzögern.

  • Die definitive Therapie sollte zeitnah nach Entfernung sämtlicher nekrotischer und kompromittierter Gewebeanteile und Erreichen eines vitalen Wundgrunds erfolgen.

Vaskularisierte Lappenplastiken zur Defektrekonstruktion

Liegen allschichtige Weichteildefekte vor, muss die Rekonstruktion mithilfe lokaler Transposition oder freier Transplantation vaskularisierter Lappenplastiken erfolgen. In diesem Zusammenhang deutet die wenige verfügbare, direkt vergleichende Literatur auf geringere Teilnekroseraten bzw. Teilverlustraten freier mikrochirurgischer Lappenplastiken hin [14, 36, 37, 38, 39]. In der klinischen Praxis bedeutet dies den standardmäßigen Einsatz freier Lappenplastiken zur Weichteilrekonstruktion offener Extremitätenfrakturen und nach Hochenergietraumata, denn diese sind in den Händen des Geübten aufgrund der ausgedehnten Traumazonen sicherer als lokale Verfahren [14, 24, 25, 36, 37, 38, 39]. Lokale Lappenplastiken spielen in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle, mit Ausnahme von gestielten Lappenplastiken an Handrücken und Fingern sowie lokalen Muskellappenplastiken der unteren Extremität mit robuster Blutversorgung, allen voran der Gastroknemiuslappenplastik am proximalen sowie der Soleuslappenplastik am mittleren Unterschenkel ([40, 41, 42]; Tab. 4).

Tab. 4 Lokale und freie Lappenplastiken zur Defektrekonstruktion an der unteren Extremität. (Angelehnt an AlMugaren et al. [42])

Merke

Im Rahmen der Weichteilrekonstruktion offener Extremitätenfrakturen mit ausgedehnten Traumazonen weist der freie mikrochirurgische Gewebetransfer höhere Erfolgsquoten auf als lokale Lappenplastiken.

Bei der Wahl der freien Lappenplastik ist zwischen Muskel- und faszio- bzw. adipokutanen Lappenplastiken zu unterscheiden, wobei Muskellappen in einigen Studien höhere Teilnekroseraten aufwiesen, mutmaßlich aufgrund deutlich höherer Lappengrößen [43, 44]. Jedoch bringen kutane Lappenplastiken andere Vorteile mit sich, weswegen sie heutzutage vermehrt Verwendung finden. Zum einen können sie durch direkte sensible Koaptation als neurotisierte Lappenplastiken wertvolle Schutzsensibilität erreichen, was insbesondere bei plantaren Defekten von Vorteil ist [23]. Zum anderen tendieren Muskellappen zu Adhäsionen, wohingegen kutane Lappenplastiken geschmeidiger bleiben und sich für osteosynthetische Verfahrenswechsel leichter wieder anheben lassen [23].

Merke

Freie Hautlappenplastiken lassen sich für Sekundäreingriffe leichter wieder anheben als Muskellappenplastiken und können außerdem eine Schutzsensibilität erreichen.

Optimierung intraoperativer Erfolgsparameter

Die Indocyaningrün-Fluoreszenz-Angiographie (ICG-FA) wird seit einiger Zeit erfolgreich intraoperativ zur Perfusionsmessung freier Lappenplastiken eingesetzt. Noch vor dem Absetzen der Lappenplastik kann die Durchblutung beurteilt werden, was Wundheilungsstörungen und Reoperationen nachweislich verringert [45].

Merke

Mithilfe der ICG-FA kann die Perfusion von Lappenplastiken intraoperativ visualisiert werden, dies trägt zur Reduktion von Wundheilungsstörungen bei.

Obwohl der mikrochirurgische Anschluss freier Lappenplastiken in arterieller End-zu-End-Technik nach wie vor weit verbreitet ist, spricht vieles für standardmäßige End-zu-Seit-Anastomosen, gerade an vaskulär kompromittierten Extremitäten [23, 46]. Die weitere Reduktion des distalen Blutflusses kann bei gleicher Sicherheit vermieden werden [23, 47]. Darüber hinaus bleiben die wichtigsten Parameter bei der Wahl der Anschlussarterie die Positionierung der Anastomose außerhalb der Traumazone und ein guter intraoperativer Fluss, den es immer zu verifizieren gilt [23]. Für venöse Anastomosen hat sich das mechanische Ringanastomosen-System gegenüber der Handnaht durchgesetzt; dieses ermöglicht bei gleicher Sicherheit eine Reduktion der Ischämiezeit und mithilfe spezieller Doppler-Sonden eine zusätzliche Monitoring-Modalität [23, 48]. Um die Sicherheit mikrochirurgischer Lappenplastiken insbesondere an der unteren Extremität weiterzusteigern, sind zudem die Anlage von mindestens 2 venösen Anastomosen und die Vermeidung eines Durchmesser-Mismatch zwischen Lappen- und Empfängervenen über 1 mm zu empfehlen [23, 49].

Merke

  • Gefäßanastomosen sollten außerhalb der Traumazone durchgeführt werden.

  • Die arterielle End-zu-Seit Anastomose ist zu bevorzugen.

  • Die venöse Anastomose erfolgt regelhaft mithilfe des Gefäßkopplers und sollte, wenn möglich, doppelt angelegt werden.

Fazit für die Praxis

Behandlungsalgorithmus interdisziplinäre Extremitätenrekonstruktion offener Frakturen:

  • Die Initialstabilisierung erfolgt nach Advanced Trauma Life Support.

  • Frühzeitig erfolgt eine intravenöse Antibiotikagabe.

  • Bereits das erste Assessment erfolgt interdisziplinär.

  • Bei Avaskularität oder Minderperfusion muss bereits in der Akutsituation die Gefäßdiagnostik erfolgen.

    a. Cave: notfallmäßige Exploration unter Einbinden der Gefäßchirurgie

  • Zeitnah muss ein qualitativ hochwertiges Débridement durchgeführt werden.

    a. Die Stabilisierung erfolgt mittels Fixateur externe.

    b. Cave: großzügige Kompartmentspaltung

    c. Die Wundbedeckung erfolgt mittels Vakuumverband.

    d. Cave: Nervenläsionen direkt versorgen

  • Vor der definitiven Versorgung erfolgen eine elektive Gefäßdiagnostik und die interdisziplinäre Planung.

  • Die definitiven Knochen- und Weichteilrekonstruktionen erfolgen ein- oder zweizeitig.

    a. Die Lappenplastische Deckung wird im „two-team approach“ standardmäßig mit freien kutanen Lappenplastiken durchgeführt.

    b. Die Anastomosen müssen außerhalb der Traumazone platziert werden.