Falldarstellung

Anamnese, Diagnostik und Befund

Herr Z., ein 74-jähriger Patient, wurde uns mit dem klinischen Bild einer chronischen Reizung der Binde- und Hornhäute mit stetiger Epiphora und Pruritus der Augen von augenärztlicher Seite zur Behandlung mit Botulinumtoxin in unserer HNO-Klinik vorgestellt. Bei Herrn Z. lag eine progrediente Alzheimer-Demenz vor, welche es notwendig machte, dass die Anamneseerhebung über die Ehefrau erfolgte. Sie gab an, dass bislang eine Therapie mit Tränenersatzmitteln stattgefunden hatte. Es zeigten sich leicht gerötete Bindehäute, ein stark einwärts gedrehtes Unterlid und z. T. mit gelblichem Sekret benetzte mediale Augenwinkel. Die Ursache der Binde- und Hornhautproblematik wurde von ophthalmologischer Seite in den sich permanent einwärts drehenden Unterlidern gesehen. Durch die „scheuernden Wimpern“ war es zu einer Reizung der Binde- und Hornhäute gekommen. Aus der Fremdanamnese und der klinischen Symptomatik wurde die Diagnose eines spastischen Entropiums beidseits (Abb. 1) gestellt.

Abb. 1
figure 1

Klinisches Bild mit Trichiasis vor Behandlung mit Botulinumtoxin. Einwärtskehrung beider Unterlider

Nebenbefundlich bestand ein Vorhofflimmern, weswegen der Patient mit einem Herzschrittmacher versorgt worden war. Als Dauermedikation wurden Acetylsalicylsäure (ASS) 100 mg sowie das Antidepressivum Citalopram 20 mg eingenommen.

Therapie und Verlauf

Ein spastisches Entropium kann durch eine operative Therapie dauerhaft gebessert werden. Im hier vorliegenden Fall ergab sich jedoch aufgrund des Allgemeinzustands des an einer Demenz erkrankten Patienten eine besondere Situation. Eine typischerweise in Lokalanästhesie durchgeführte Operation wäre aufgrund der reduzierten Compliance nicht möglich gewesen und wurde auch von den betreuenden Angehörigen nicht gewünscht. Von der Entscheidung zur Operation in Vollnarkose wurde abgesehen, weil eine alternative und leicht durchführbare Therapiemöglichkeit mit Botulinumtoxin (BoNT) zur Behebung der Symptome bestand.

BoNT ist ein hochwirksames Protein, welches die Freisetzung von Acetylcholin an der neuromuskulären Endplatte verhindert und somit die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln hemmt. Es kommt zur Paralyse des behandelten Muskels. Über eine gezielte Injektion geringer Dosen BoNT kann eine übermäßige Muskelspannung des M. orbicularis oculi reduziert werden. Diese Behandlung stellt aufgrund der eingegrenzten Zulassungsindikation eine Off-Label-Behandlung dar. Wir haben den Patienten bzw. die betreuende Angehörige hierüber und über die möglichen Nebenwirkungen, wie z. B. Lagophthalmus oder Siccasymptomatik, aufgeklärt. Anschließend führten wir eine BoNT-Injektion von 2-mal 2,5 Einheiten des Präparats Botox® (Fa. Pharm Allergan GmbH) in den kaudalen, lidrandnahen M. orbicularis oculi des linken und des rechten Unterlids durch (Abb. 2). Die Injektion erfolgte punktförmig. Ein Auskehreffekt des Unterlids durch das injizierte Volumen war für kurze Zeit gegeben. Der therapeutische Effekt durch die Wirkung der Substanz stellte sich danach durch die Innervationsminderung ein.

Abb. 2
figure 2

Injektion von Botulinumtoxin an 2 Punkten lidrandnah. Wegen „Konzentration“ der Einwärtskehrung lateral, Fokussierung der 2 Injektionspunkte in der lateralen Unterlidregion (Kreise)

Die Kontrolluntersuchung 2 Wochen später zeigte eine deutliche „Entkrampfung“ im Bereich des linken Unterlids mit dessen Auswärtskehrung bei nach wie vor ausgeprägtem spastischem Entropium der rechten Seite (Abb. 3). Es erfolgte zur „Aufsättigung“ nun erneut die Behandlung des rechten Unterlids mit weiterer 2-maliger Gabe von 3,75 MU Botox®. In der Kontrolle, weitere 4 Wochen später, bestand nun beidseits eine subjektive Entspannung der Unterlider mit beidseitiger deutlicher Besserung der Einwärtskehrung und normalisierter Position des Unterlids. Dieses ließ sich im Vergleich durch Vorher-nachher-Dokumentationsfotos auch objektivieren.

Abb. 3
figure 3

Nahaufnahme beim Wiedervorstellungstermin. Jetzt Auswärtskehrung des rechten Unterlids, auch Wimpern des Unterlids und Lidrand sichtbar (Pfeile)

Nach einem etwa 2-monatigen beschwerdefreien Intervall ohne Nebenwirkungen erfolgte die erneute, nun beidseitige Injektion von BoNT nach dem individuell angepassten Schema. Rechts wurden, verteilt auf 2 Punkte, 7,5 Einheiten Botox® verabreicht und links, ebenfalls auf 2 Injektionsstellen verteilt und bei wesentlich geringerem Beschwerdebild, nur noch 5 Einheiten Botox®. Im Rahmen der letztmaligen Vorstellung weitere 2 Monate später wurde dieses identische Behandlungsschema wiederholt, da sich anamnestisch in der Zwischenzeit die Symptomatik zur vollen Zufriedenheit gebessert hatte.

Diskussion

Veränderungen der Augenlider durch Funktionsänderungen der vom N. facialis innervierten mimischen Muskulatur (hier: M. oricularis oculi) können vielfältig sein. Hier sind u. a. faziale Hyper- und Hypokinesien zu nennen wie der Blepharospasmus, der Spasmus facialis, Synkinesien nach Fazialisdefektheilung oder auch das paralytische Ektropium des Unterlids.

Im höheren Lebensalter kommt es häufig zu einer „Lockerung“ des periorbitalen Bindegewebes. Hierdurch kann sich die ursprüngliche Position des M. orbicularis oculi ändern. Statt als flächiger Muskel kann er dann gebündelt bzw. strangförmig an der Lidkante vorliegen. Zusätzlich nimmt die progrediente Atrophie des Tarsus und der Lidbändchen im Alter zu. Es kommt so zur horizontalen „Erschlaffung“, insbesondere des Unterlids. Beim Lidschluss zieht der M. orbicularis oculi dann die Lidkante einwärts und bedingt die Verlagerung der Wimpernstellung in Richtung Hornhaut. Folglich kommt es durch Scheuerbewegungen der Wimpern zur Reizungserscheinungen der Binde- und Hornhaut, was als Trichiasis bezeichnet wird. Das weitere klinische Bild eines solchen auch für HNO-Ärzte interessanten spastischen Entropiums (Abb. 1) wird bestimmt durch konsekutive, zunächst oberflächliche, im Verlauf jedoch auch tiefergreifende Keratitiden mit möglichen Hornhauttrübungen und Gefäßeinsprossungen. Typisch ist auch eine reflektorische Hyperlakrimation, die von den Patienten als sehr störend empfunden wird.

Als Differenzialdiagnose gilt es auch für den HNO-Arzt, neben den genannten muskulär bedingten fazialen Funktionsänderungen (inklusive spastischem Entropium), das durch Traumen wie Verätzungen oder Verbrennungen oder z. B. durch eine Herpes-Zoster-Infektion verursachte Narbenentropium abzugrenzen. Auch kann es im Rahmen eines Blepharospasmus zu einem spastischen Entropium kommen [5].

Zur Diagnosesicherung ist neben der Erhebung der Beschwerden der klinische Befund maßgeblich. Die Einwärtsdrehung des Unterlids kann häufig schon über das Öffnen und Schließen des Auges festgestellt werden.

Therapieansätze

Die Therapiemöglichkeiten lassen sich prinzipiell in konservative und operative Formen unterteilen.

Ein kurativer Ansatz durch chirurgische Lidkorrektur kann bei hinreichender Compliance des Patienten als ambulanter, primär ophthalmologischer Eingriff in Lokalanästhesie erfolgen. Es werden hierbei sog. Eversionslidnähte gesetzt, wodurch ein Zusammenzug der Lidretraktoren geschaffen wird. Eine häufige Operation ist die horizontale Lidspaltungsoperation nach Wies oder die Operation nach Quickert [7, 10]. Als einfachste konservative Therapie ergeben sich die selbstständige Verwendung von benetzenden Augentropfen oder -salben und das Anbringen auswärtsziehender Heftpflaster [8]. Eine weitere, wenig invasive Therapie stellt die Injektion geringer Dosen von BoNT in den kaudalen M. orbicularis oculi dar. Die Ansprechrate auf die Behandlung mit BoNT ist individuell unterschiedlich und sollte der Intensität der Involution des Augenlids angepasst werden. Es ist folglich empfehlenswert, zunächst zurückhaltend zu dosieren und evtl. erst später eine Dosissteigerung vorzunehmen. Als Injektionsloci haben sich nasale und temporale Areale des kaudalen M. orbicularis oculi bewährt. Somit gleichen die Injektionsstellen in gewisser Weise denen bei der Behandlung des Spasmus facialis, des Blepharospasmus und von Fazialissynkinesien [9], werden aber „lidrandbetonter“ durchgeführt.

Die Dosierungensempfehlungen schwanken in der Literatur zwischen 5 und 12,5 Einheiten BoNT, bezogen auf das hier verwendete Präparat, je Unterlid [1, 2, 3, 4, 6, 8].

Eine Injektionswiederholung nach weniger als 6 Wochen sollte wegen der anzunehmenden Antikörperbildung vermieden werden. Auch bei der geringen Dosis am Auge sollte dies weitestgehend Berücksichtigung finden.

Zwar lässt sich über die Gabe von Botulinumtoxin kein dauerhafter Effekt erzielen, jedoch kann eine regelmäßige, bekanntermaßen wenig invasive Injektion das Beschwerdebild derjenigen Patienten deutlich lindern, welche eine Operation nicht durchführen lassen können oder wollen.

Fazit für die Praxis

  • Dieses Fallbeispiel zeigt die Einsatzmöglichkeit von Botulinumtoxin in der Behandlung des spastischen Entropiums als Alternative zu einem invasiveren operativen Lideingriff auf.

  • In der Regel müssen die Injektionen alle 3–4 Monate wiederholt werden.

  • Für Patienten mit einem erhöhten Risikoprofil für einen operativen Eingriff sollte diese Behandlungsmethode bei Vorliegen eines spastischen Entropiums in Betracht gezogen werden.