Schwer verletzte Traumapatienten erreichen die Zielklinik bereits oft mit deutlichen Einschränkungen der Gerinnung, und Standardgerinnungstests sind für eine Früherkennung der traumaassoziierten Gerinnungsstörung im Schockraum wenig hilfreich. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob ein rasch verfügbarer Surrogatparameter in Form der Hämoglobin(Hb)-Bestimmung als initialer Marker für die Gerinnungstherapie des kreislaufinstabilen, blutenden Traumapatienten sinnvoll eingesetzt werden kann.

Hintergrund

Die Versorgung von schwer verletzten Patienten stellt hohe Anforderungen an die Kliniken der Traumanetzwerke in Deutschland und sollte entsprechend dem Verletzungsmuster des jeweiligen Patienten von Beginn an in einem geeigneten Traumazentrum erfolgen [1], da dies die Prognose des Patienten entscheidend verbessert. Unabhängig hiervon stellen schwer verletzte, hämodynamisch instabile, blutende Traumapatienten noch höhere Anforderungen an die entsprechenden Traumazentren, sodass von Beginn an die Versorgung in dem geeigneten Traumazentrum entscheidend ist. Schwer verletzte Patienten erreichen die Zielklinik bereits oft mit deutlichen Einschränkungen der Gerinnung, und schwerwiegende Blutungen stellen eine häufige Todesursache in den ersten Stunden nach Klinikaufnahme dar [2]. Vor dem Hintergrund der letalen Trias, bestehend aus Koagulopathie, Acidose und Hypothermie, ist daher eine rasche und aggressive Therapie der Gerinnung aus pathophysiologischer und klinischer Sicht entscheidend [3].

Aus Daten des TraumaRegisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) ist bekannt, dass rund ein Drittel aller polytraumatisierten Patienten den Schockraum mit einer Gerinnungsstörung erreichen [4]. Standardgerinnungstests [Quick-Wert, Prothrombinzeit („prothrombin time“, PT), International Normalized Ratio (INR), aktivierte partielle Prothrombinzeit („activated partial thromboplastin time“, aPTT)] im Zentrallabor, die ursprünglich entwickelt wurden, um Effekte von Antikoagulanzien (Marcumar/Heparin) zu messen, benötigen jedoch für die entsprechenden Ergebnisse 30–45 min, sodass diese Parameter zur Früherkennung der traumaassoziierten Gerinnungsstörung im Schockraum wenig hilfreich sind. Selbst „Point-of-care“-Geräte wie ROTEM®/TEG® benötigen einige Zeit, bis die ersten Ergebnisse vorliegen, und sind nicht in der Lage, jede Veränderung der traumaassoziierten Gerinnungsstörung zu detektieren. Der minimale Zeitaufwand dieser Geräte beträgt bei optimalem Setting 10–15 min und ist mit entsprechendem personellem Aufwand im Schockraum verbunden, den auch überregionale Traumazentren nicht flächendeckend und rund um die Uhr gewährleisten können.

In der verfügbaren Literatur zum Trauma ist ein Zusammenhang zwischen dem initial erhobenen Hb-Wert und den Gerinnungsparametern erkennbar [4, 5, 6, 7, 8, 9]. So zeigt sich in den Arbeiten von Hussmann et al. [5, 6] ein nahezu linearer Zusammenhang zwischen Hb-Wert und zum selben Zeitpunkt evaluierten Quick-Wert. Einen identischen Zusammenhang konnten die Autoren des vorliegenden Beitrags im eigenen Patientenkollektiv feststellen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Zusammenhang zwischen Hämoglobin(Hb) und Quick-Wert. Grau eigene Daten mit Trendlinie, rote Kreise Daten aus Hussmann et al. [5], gelbe Raute Daten aus Hussmann et al. [6]. Die vorliegende Abbildung zeigt eine hochgradige Übereinstimmung der Daten von Hussmann et al. aus dem TraumaRegister der DGU und der Trendlinie, die sich aus der Analyse der eigenen Patienten ergibt

Vor dem Hintergrund der demonstrierten Datenlage in der Literatur stellt sich die Frage, ob der erste im Schockraum bei Aufnahme bestimmte Hb-Wert zur Steuerung der initialen „blinden“ Gerinnungstherapie im Rahmen einer Hb-basierten „standard operating procedure“ (SOP) zum Gerinnungsmanagement bei kreislaufinstabilen Patienten als Surrogatparameter genutzt werden kann.

Methode

Durch eine Zunahme von Traumapatienten Anfang 2011, die aufgrund ihrer Verletzungsmuster und -schwere einer Massivtransfusion bedurften und dem Fehlen einer schnellen POC-Gerinnungsdiagnostik, wurde ein Konzept erarbeitet, das diesem Patientengut gerecht wird.

Das im Traumazentrum der BG-Kliniken Bergmannstrost genutzte Ganzkörper-CT-basierte Schockraummanagement mit schneller initialer CT-Diagnostik und kurzen Schockraumzeiten erlaubt die frühe Detektion von potenziellen Blutungsquellen [10] und versetzt damit in die Lage, schnell auf chirurgische Blutungen zu reagieren. Zusätzlich wurde nun eine SOP zum initialen Gerinnungsmanagement entwickelt, die den ersten im Schockraum gemessenen Hb-Wert als Grundlage einer abgestuften Gerinnungstherapie nutzt, um auch aus anästhesiologischer Sicht schnell reagieren zu können. Der oben beschriebene Zusammenhang zwischen Hb-Wert und Gerinnung diente als Grundlage der SOP, und aufgrund der beobachteten Korrelation wurden je 2 Hb-Werte als Schwellenwerte für je 3 unterschiedlich „aggressive“ Gerinnungstherapien definiert (Abb. 2), die auf dem frühen Einsatz von Gerinnungsfaktoren und gerinnungsaktiven Medikamenten basiert (Tab. 1).

Abb. 2
figure 2

Gerinnungsmanagement anhand einer „standard operating procedure“. EK Erythrozytenkonzentrat, FFP „fresh frozen plasma“, Hb Hämoglobin, PPSB Prothrombinkonzentrat, TK Thrombozytenkonzentrat, ZVK zentraler Venenkatheter. aBei weiterbestehender Blutung nach ca. 30 min noch mal 2 g Fibrinogen und 3 mg Faktor VIIa (FVIIa). Alternativ, wenn auf PPSB verzichtet werden soll: 4–6 g Fibrinogen und Gabe von 6–8 mg FVIIa (90 µg/kgKG)

Tab. 1 Inhalt der „Gerinnungskiste“

Nach Überarbeitung der SOP im innerklinischen Qualitätszirkel „Traumamanagement“ wurde diese offiziell in der Klinik eingeführt, und die ursprünglichen Schwellenwerte wurden um 0,5 mmol/l (≈0,8 g/dl) nach oben korrigiert [11].

Damit die in der SOP verwendeten gerinnungsaktiven Substanzen auch entsprechend wirken können, sollten folgende Voraussetzungen gegeben sein:

  • pH-Wert > 7,2,

  • Körpertemperatur > 35°C,

  • ausreichende zelluläre Gerinnungsbestandteile und

  • freies Kalzium.

Cave: Folgende Situationen müssen daher unbedingt verhindert, oder wenn doch aufgetreten, konsequent therapiert werden:

  • Acidose,

  • Hypothermie und

  • Hypokalziämie.

Um dies zu erreichen, sollte Folgendes umgesetzt werden:

- Infusionstherapie mit warmen balancierten Kristalloiden (z. B. Ringer-Acetat-Lösung, Elektrolytlösung 153/E 153),

- Verwendung einer Heizmatte sowie

- Verwendung von Infusions- und Transfusionswärmer.

Zur raschen Verfügbarkeit der genutzten Substrate wurde eine „Gerinnungskiste“ für die Initialtherapie des hämodynamisch instabilen, schwer verletzten Patienten mit dem in Tab. 1 aufgeführten Inhalt, einschließlich eines Chargendokumentationsbogens, zusammengestellt. Die Klinik verfügt über 3 dieser Kisten, um eine adäquate Versorgung von mehreren Verletzten in kurzer Zeit zu gewährleisten.

Um den Einsatz der neu entwickelten SOP im innerklinischen Kontext zu evaluieren, wurden prospektiv Gerinnungsparameter, Risiko-Scores und das Ergebnis auf das Überleben der Patienten im Rahmen der standardisierten Traumadokumentation, teilweise parallel zur Dokumentation für das DGU-TraumaRegister, erfasst:

  • Laborparameter:

    • Hb-Wert,

    • Thrombozytenzahl,

    • Gerinnungswerte (Quick-Wert, PTT),

    • Laktatkonzentration,

    • Basenüberschuss („base excess“).

  • Scoring-Systeme:

    • Revised Injury Severity Classification (RISC),

    • Trauma Associated Severe Hemorrhage (TASH) Score,

    • Injury Severity Score (ISS).

  • Verbrauch an:

    • Volumenersatzmitteln,

    • Erythrozytenkonzentraten (EK),

    • „fresh frozen plasma (FFP)“,

    • Apherese-Thrombozytenkonzentrate (Apherese-TK),

    • Fibrinogen,

    • PPSB,

    • FVIIa,

    • Tranexamsäure,

    • Desmopressin.

Ergebnisse

Im Folgenden wird in übersichtlicher Form auf die erarbeitete SOP und die entsprechenden Inhalte eingegangen.

Stabil vs. instabiler Kreislauf

Ist der Patient unter Volumentherapie kreislaufstabil (Abb. 2, grüne SOP-Spalte; systolischer Blutdruck > 100 mmHg ohne Katecholamingabe, Responder auf „volume challenge“ nach dem Konzept Advanced Trauma Life Support, ATLS®), richtet sich das weitere Vorgehen nach den Laborwerten und den klinischen Symptomen. Beachte: Grundsätzlich werden 6 Erythrozytenkonzentrate (EK) eingekreuzt.

Ist der Patient trotz Volumentherapie kreislaufinstabil (Abb. 2 rote SOP-Spalte; transienter Responder/Nonresponder nach ATLS®, Notwendigkeit der Katecholamintherapie) richtet sich das weitere Vorgehen nach dem initialen Hb-Wert. Beachte: Grundsätzlich werden immer 10 EK und 10 FFP eingekreuzt.

Hämoglobinorientiertes, gestaffeltes Vorgehen

Hb > 5,5 mmol/l

Bei einem Hb-Wert von > 5,5 mmol/l (≈8,8 g/dl) verfügt der größte Teil der Patienten zwar über eine eingeschränkte, aber noch ausreichendes Gerinnung. Daher wird die Gerinnungstherapie nach den entsprechenden Laborwerten gesteuert, und im Zweifelsfall werden bis zum Vorliegen der Laborwerte 2 g Fibrinogen verabreicht.

4 mmol/l<Hb< 5,5 mmol/l

Bei einem Hb-Wert von < 5,5 mmol/l (≈8,8 g/dl) und > 4 mmol/l (≈6,5 g/dl) ist bereits mit einer deutlichen Einschränkung der Gerinnung zu rechnen. Daher werden 2–4 g Fibrinogen und 2000–3000 I.E. PPSB verabreicht und weiter 10 EK/10 FFP sowie 4 TK nachgekreuzt. Bei Verdacht auf Hyperfibrinolyse sollten frühzeitig 1–2 g Tranexamsäure als Bolus und weiter 1–2 g kontinuierlich über 12 h infundiert werden. Hat der Patient kolloidalen Volumenersatz erhalten oder steht unter Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern erfolgt die Gabe von 0,3–0,4 µg/kgKG (≈24–32 µg) Desmopressin. Auf die Entwicklung und Therapie einer Hypokalziämie ist grundsätzlich zu achten.

Hb-Wert < 4 mmol/l

Bei einem Hb-Wert von < 4 mmol/l (≈6,5 g/dl) ist bereits von einer massiven Einschränkung der Gerinnung auszugehen und eine aggressive sowie frühe Therapie entscheidend. Daher werden 6–8 g Fibrinogen, 3000–4000 I.E. PPSB und 1 mg FVIIa verabreicht sowie weitere 15 EK/15 FFP und 6 TK nachgekreuzt. Alternativ, wenn auf PPSB verzichtet werden soll (da in der aktuellen europäischen Leitlinie nicht empfohlen), werden 4–6 g Fibrinogen, gefolgt von 6–8 mg FVIIa (90 µg/kgKG) verabreicht. Bei Verdacht auf Hyperfibrinolyse sollten frühzeitig 1–2 g Tranexamsäure als Bolus und weiter 1–2 g kontinuierlich über 12 h infundiert werden. Hat der Patient kolloidalen Volumenersatz erhalten oder steht unter Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern erfolgt die Gabe von 0,3–0,4 µg/kgKG (≈24–32 µg) Desmopressin. Auf die Entwicklung und Therapie einer Hypokalzämie ist grundsätzlich zu achten. Sollte trotz chirurgischer Blutstillung und der bisher ergriffenen Maßnahmen nach 30–60 min weiterhin eine diffuse Blutungsneigung bestehen, werden erneut 2 g Fibrinogen und jetzt 3 mg FVIIa als Bolus, gefolgt von 1 mg FVIIa kontinuierlich über 12 h verabreicht.

Zielwerte bei Verlegung auf die Intensivstation

Folgende Werte sollten vor der Verlegung erreicht sein:

  • Hb-Wert ≥ 6 mmol/l (≈9,7 g/dl),

  • Thrombozytenzahl ≥ 75.000–100.000,

  • Fibrinogenkonzentration ≥ 2 g/l,

  • Quick-Wert ≥ 80% jedoch ≤ 120%,

  • aPTT ≤ 40 s.

Unabhängig von den oben aufgeführten Faktorkonzentraten und Medikamenten wird versucht, ein Verhältnis von EK zu FFP von 2:1 bis 1:1 zu erreichen.

Versorgung des eigenen Patientenguts

Im 6-monatigen Evaluierungszeitraum wurden 71 konsekutive Traumapatienten [Durchschnittsalter 48 Jahre, mittlerer Injury Severity Score (ISS) 32, 72% männlich] versorgt. Von diesen 71 Patienten waren 40 kreislaufstabil und fielen somit in die „grüne“ Spalte der SOP aus Abb. 2; sie bedurften keiner Intervention hinsichtlich der Gerinnung. Einunddreißig Patienten waren kreislaufinstabil und waren damit der „roten“ Spalte der SOP aus Abb. 2 zuzuordnen. Von diesen 31 Patienten benötigten 12 keine Gabe von Gerinnungsfaktoren; dagegen kam bei 19 Patienten (Durchschnittsalter 53,4 Jahre; mittlerer ISS 53; 68% männlich) aufgrund der SOP die Gerinnungskiste zum Einsatz. Bei diesen 19 Patienten verbesserten sich die Gerinnungsparameter vom Schockraum bis zur Verlegung auf die Intensivstation deutlich, und die oben als Zielwert definierten Bereiche wurden, außer bei der PTT, erreicht, wie Tab. 2 verdeutlicht. Die beobachtete Letalität der so behandelten Patienten lag mit 42% deutlich unter den nach der RISC prognostizierten 60%.

Tab. 2 Laborparameter bei Schockraum- und ICU-Aufnahme

Aus Abb. 3 ist die Verteilung der 71 Polytraumapatienten auf die einzelnen SOP-Spalten ersichtlich.

Abb. 3
figure 3

Verteilung der 71 Patienten auf die verschiedenen Spalten der „standard operating procedure“. Hb Hämoglobin. aPatienten (n= 19), die mit der Gerinnungskiste behandelt wurden

Die Patienten erhielten durchschnittlich 16,6 EK, 12,5 FFP und 2,7 TK sowie die in Tab. 3 aufgeführten Mengen an „Gerinnungsmitteln“.

Tab. 3 Mittlere Menge der verwendeten Substanzen

Diskussion

Effektivität

Die oben gezeigten Ergebnisse hinsichtlich der verbesserten Gerinnungsparameter und Letalität, die deutlich niedriger als prognostiziert war, können als Hinweis auf die Effektivität der vorgestellten SOP gewertet werden. Unabhängig von den paraklinisch erhobenen Parametern und deren Verbesserung durch die Gerinnungskiste mit der SOP wurde das hier beschriebene Vorgehen von allen im Haus an der Traumaversorgung beteiligten Kollegen als praktikabel, schnell und einfach zu handhaben empfunden.

Die vorgestellte SOP und die ersten Ergebnisse dürfen nicht vergessen lassen, dass die Grundlage jedes sinnvollen Gerinnungsmanagements eine schnell und konsequente chirurgische Blutstillung ist, da kein Hämostatikum und keine hämostaseologische Intervention in der Lage sind, eine chirurgische Blutung zu stillen.

Der hier vorgestellte Ansatz einer initialen und frühen Gerinnungstherapie unter Berücksichtigung des ersten im Schockraum bestimmten Hb-Werts stellt einen pragmatischen und einfachen Ansatz zur hämostaseologischen Optimierung des kreislaufinstabilen blutenden Schwerstverletzten dar. Der Hb-Wert ist ein innerhalb von 1–2 min nach Blutabnahme verfügbarer Parameter, der mittlerweile auch via entsprechendem Pulsoxymeter „online“ gemessen werden kann. Die schnelle, einfache und fast überall verfügbare Möglichkeit der Hb-Wert-Bestimmung macht diesen Ansatz für das beschriebene Vorgehen extrem interessant. Nach Kenntnis der Autoren ist das beschriebene Verfahren noch in keiner verfügbaren Leitlinie zum Management beim Traumapatienten erwähnt [12, 13]. In der Literatur findet sich jedoch eine deutliche Korrelation zwischen Gerinnungsparametern (z. B. Quick-Wert) und dem Hb-Wert bei traumatisch induzierter Koagulopathie. Diese Korrelation wurde ebenfalls bei den eigenen Traumapatienten gefunden. Auch wenn die Globalgerinnungstests das wirkliche Problem der traumaassoziierten Gerinnungsstörung nur unzureichend widerspiegeln [3], geben diese doch gewisse Hinweise auf das mögliche Ausmaß der Koagulopathie.

Ein Hb-orientiertes bzw. -abgestuftes Vorgehen stellt einen neuen, zielgerichteten und pragmatischen Ansatz zur Optimierung der Gerinnung dar. Konstatiert werden muss aber, dass dieser Ansatz bisher nicht durch ausreichend „gepowerte“ oder gar randomisierte kontrollierte Studien belegt und unterstützt wird. Das gewählte Vorgehen erscheint auch unter Berücksichtigung der in der vorliegenden Untersuchung präsentierten ersten Ergebnisse pathophysiologisch nachvollziehbar. Ein abgestuftes Vorgehen und der damit einhergehende differenzierte Einsatz von gerinnungsaktiven Substanzen (Abb. 2) orientieren sich am dargestellten Zusammenhang zwischen Hb- und Quick-Wert (Abb. 1) und ermöglichen ein patientenorientiertes Gerinnungsmanagement. Einschränkend muss hier jedoch konstatiert werden, dass die exakte gewichtsbezogene Gabe von Gerinnungsfaktoren nicht möglich, jedoch auch in den Augen der Autoren nicht zwingend notwendig ist.

Mit Einführung der SOP und der Gerinnungskiste ist der Gesamtverbrauch an Fibrinogen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Ein Anstieg im Gesamtverbrauch von PPSB und aktiviertem FVII war nicht zu verzeichnen.

Evidenz

Neben der geringen Evidenz für das Hb-orientierte Vorgehen ist auch die Evidenz für die in der SOP aufgeführten gerinnungsaktiven Substanzen teilweise sehr gering. Jedoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein ausreichender Hb/Hämatokrit (HKT) eine Grundvoraussetzung für eine adäquate Gerinnung ist. Für Tranexamsäure und Fibrinogen ist die Evidenzlage noch am besten. So erhalten beide Substanzen in verschiedenen Empfehlungen einen „grade of recommendation“ (GoR) B [3, 12]. Prothrombinkomplexkonzentrate werden von den aktuellen europäischen Leitlinien nur für Patienten unter Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten empfohlen [13]. In anderen Arbeiten, den aktuellen S3-Leitlinien Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und der Querschnittleitlinie der Bundesärztekammer wird PPSB als mögliche Option erwähnt [3, 12, 14]. Für Tranexamsäure als potentes Antifibrinolytikum wurde im Rahmen des Clinical Randomisation of an Antifibrinolytic in Significant Haemorrhage (CRASH) 2 Trial ein hoher Nutzen bei traumatisch induzierter Blutung nachgewiesen [3, 15] und sollte bei Patienten mit Verdacht auf Fibrinolyse bereits initial vor der ersten Fibrinogengabe verabreicht werden. Lier et al. [3] sprachen der Tranexamsäure ein GoR B aus. Für das in der vorgestellten SOP empfohlene Desmopressin ist die Evidenzlage beim Trauma sehr schwach und erhält in aktuellen Empfehlungen einen GoR 0 [3]. Aber vor dem Hintergrund der Thrombozytenfunktionsverbesserung durch Desmopressin, insbesondere bei vorangegangener Gabe/Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern, Applikation von Kolloiden und im Rahmen der beim Trauma oft anzutreffenden Hypothermie und Acidose, erscheint der Einsatz von Desmopressin sinnvoll [16].

Die Evidenz der eingesetzten Gerinnungspräparate genau zu beleuchten und das „Für und Wider“ abzuwägen, würden den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem sprengen, sodass an dieser Stelle auf entsprechende Leitlinien und Übersichtsarbeiten verwiesen werden soll [3, 12, 13, 17]. Jedoch soll auf FVIIa, der regelmäßig als Ultima Ratio für die traumatisch induzierte Blutung in der Literatur diskutiert wird, eingegangen werden [3, 12, 13, 18]. In der hier aufgeführten SOP wird FVIIa eher sehr früh und in einer geringeren Dosierung als den üblich empfohlenen 90 µg/kgKG ([3, 12]; Spannweite 40 µg/kgKG–200 µg/kgKG, [18, 19]) eingesetzt. Dies wurde aus folgenden Gründen so gewählt: Die Wirksamkeit von FVIIa ist an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden (pH-Wert ≥ 7,2, Thrombozytenzahl ≥ 50.000–100.000, Körpertemperatur ≥ 34°C, Fibrinogenkonzentration ≥ 1 g/dl, Kalziumkonzentration ≥ 0,9 mmol/l, [3, 13, 14]), die im Rahmen von Massivinfusion/-transfusion, nichtrechtzeitigem „Bereitstellen/Transfundieren“ von Thrombozyten und eines ausgeprägten Blutungsschocks schnell verloren gehen und auch schwer wiederherzustellen sind. Daher ist in den Augen der Autoren ein früher Einsatz sinnvoller, als FVIIa erst als letzte „Geheimwaffe“ einzusetzen, wenn alles andere nicht funktioniert hat. Wenn FVIIa sehr spät nach Ausschöpfung aller anderen Optionen verabreicht wird, besteht die Gefahr, dass die oben genannten gewünschten Umgebungsbedingungen für einen erfolgversprechenden Einsatz nicht mehr erreicht werden können. Die in der vorgestellten SOP aufgeführte frühe Gabe von FVIIa wird auch durch die Studie von Perkins et al. [20] bestätigt, in der diese im Vergleich zu einer späteren Gabe mit einem geringeren Transfusionsbedarf einherging. Weiterhin ist die in der SOP aufgeführte Dosierung deutlich niedriger als die in der Literatur angegebene Spanne von 40–200 µg/kgKG [18, 19]. Dies hat den Grund, dass in der SOP FVIIa recht früh und nach der vorherigen Gabe von PPSB verabreicht wird. Durch das PPSB ist das FII/VII/IX/X-Potenzial bereits angehoben, und aus theoretischen Überlegungen sollte in dieser Situation eine deutlich niedrigere Dosis an FVIIa ausreichen. Das eigentliche Wirkprinzip von supranormalen FVIIa-Dosierungen besteht in der „Bypass“-Aktivierung von FX [21]. Weiterhin steigt mit hohen Dosen von FVIIa das Thromboembolierisiko deutlich an [22]. Der frühe und niedrig dosierte Einsatz von FVIIa kann sicherlich kritisch diskutiert werden und stellt ebenfalls einen neuen Ansatz dar. Die Autoren haben unter Berücksichtigung theoretischer Hintergründe und Daten aus der Literatur [20] dies bewusst so gewählt. Eine klare Evidenz hierfür gibt es bislang nicht. Die beschriebene SOP lässt jedoch allen Anwendern die Freiheit, auf PPSB zu verzichten und FVIIa in einer entsprechend hohen Dosierung von 90 µg/kgKG, wie in der Literatur empfohlen [3, 12], einzusetzen. Zusammenfassend sind in Tab. 4 die Empfehlungen für die oben beschriebenen Substanzen anhand AWMF-S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung [12] und der Übersichtsarbeit von Lier et al. [3] aufgeführt.

Tab. 4 Empfehlung der verwendeten Substanzen. (Nach [3, 12])

Kosten

Ein Aspekt, der Fragen aufwerfen kann, ist der Kostenfaktor des vorgestellten Vorgehens. Die ungefähren Preise der in der Gerinnungskiste enthaltenen Medikamente, bezogen auf ihre Menge, sind in Tab. 1 angegeben. Der initiale Einsatz von Faktorkonzentraten ist naturgemäß mit deutlichen Kosten verbunden und schlägt bei der hier vorgestellten SOP in der Therapiegruppe Hb < 4 mmol/l (≈6,5 g/dl) mit initial ca. EUR 4000 zu Buche. Diese Summe ist nicht unerheblich, jedoch erscheint sie vor dem Hintergrund einer deutlich verbesserten Gerinnung mit der theoretischen Möglichkeit einer Einsparung von EK, FFP und TK sowie einer möglicherweise höheren Überlebensrate sinnvoll investiert. Diese theoretische Überlegungen können momentan nicht durch eigene harte Fakten gestützt werden, jedoch konnten Schöchl et al. [23] mit einem Fibrinogen-PPSB-Regime in 29% der Fälle die Transfusion von EK und in 91% die Transfusion von TK vermeiden. Vor diesem Hintergrund und den ersten eigenen positiven Erfahrungen hinsichtlich der Letalität erscheint der initial höhere Preis durchaus gerechtfertigt.

Traumapatienten, die lebend die Klinik erreichen, versterben in den ersten 3 h insbesondere an nichtbeherrschbaren Blutungen und in den folgenden Stunden am schweren Schädel-Hirn-Trauma (SHT, [2]). Daher sollten Maßnahmen zur Optimierung der Gerinnung ganz im Sinne eines „hit hard and early“ so frühzeitig wie möglich eingeleitet werden [24].

Limitationen

Das vorgestellte Vorgehen weist zahlreiche Limitationen auf. Eine Evidenz der Hb-orientierten Gerinnungstherapie besteht bisher nicht, obgleich sich Rationalen aus der bestehenden Literatur und dem eigenen Patientengut sicher herleiten lassen. Vor diesem Hintergrund existieren für dieses Vorgehen auch keine Empfehlungen aus Leitlinien oder Handlungsempfehlungen. Aufgrund der rein empirischen Applikation von Gerinnungsfaktoren ist es möglich, dass das Faktorpotenzial je nach Patientenkonstitution und Ausmaß der Blutung evtl. nur unzureichend oder überschießend angehoben wird. Auch muss konstatiert werden, dass die hier verwendeten Globalgerinnungsteste das wirkliche Problem der traumaassoziierten Gerinnungsstörung nur unzureichend widerspiegeln und dass Parameter, die durch ROTEM®/TEG® gewonnen werden, besser geeignet scheinen [3, 13, 25]. Es gibt keine Vergleichsgruppe, um zu sehen, ob das beschriebene Vorgehen Vorteile hat oder nicht, da alle Patienten nach der oben beschriebenen SOP therapiert werden. Weiterhin muss erwähnt werden, dass die in der SOP angegebene Mengen von Gerinnungsfaktoren rein empirisch aufgrund des oben beschriebenen Zusammenhangs zwischen Schockraum-Hb-Wert und Globalgerinnungstest bestimmt wurden.

Fazit für die Praxis

Aus der Literatur und am eigenen Patientengut erhobenen Daten zeigen eine gute Korrelation zwischen initialem, im Schockraum bestimmtem Hb-Wert und den Globalgerinnungstests. Daher erscheint der im Schockraum bestimmte Hb-Wert ein nutzbarer Parameter für die initiale faktorgestützte Gerinnungstherapie zu sein. Das hier vorgestellte Stufenkonzept der Gerinnungstherapie mit dem frühen Einsatz von Faktorkonzentraten anhand definierter Hb-Werte ist sinnvoll sowie praktikabel und ermöglicht dem Anästhesisten, eine frühe und gezielte Gerinnungstherapie zu initiieren. Daten, die das beschriebene Vorgehen und die verwendeten Dosierungen prospektiv und randomisiert stützen, fehlen jedoch bislang, und weitere Studien sowie randomisierte kontrollierte Untersuchungen sind notwendig, um den Effekt des beschriebenen Vorgehens sicher nachzuweisen. Unabhängig hiervon sollten folgende Maßnahmen beim kreislaufinstabilen blutenden Polytraumapatienten so frühzeitig wie möglich eingeleitet werden:

  • schnelles Detektieren der Blutungsquelle(n) durch initiales Ganzkörper-CT,

  • frühe chirurgische Blutungskontrolle,

  • Vermeiden von Acidose und Hypothermie,

  • frühe (aggressive und zielgerichtete) Gerinnungstherapie und

  • strikte „damage control surgery/orthopedic“.