Zusammenfassung
Trotz ihres konstitutiven Charakters erfahren Translationsprozesse weder in den zunehmend mehrsprachigen Handlungszusammenhängen der Kinder- und Jugendhilfe noch in ihrer sozialwissenschaftlichen Erschließung besondere Aufmerksamkeit. Doch gerade wenn Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen sowohl den Forschungsgegenstand als auch einen zentralen Bestandteil des Forschungsprozesses selbst bilden, kommt der reflexiven Auseinandersetzung damit eine wesentliche Bedeutung zu. Dem geht der Beitrag auf der Basis eines Forschungsprojekts über gedolmetschte Hilfeplangespräche nach. Er erhellt die bislang kaum beleuchtete Schnittmenge zwischen Translationsprozessen als Forschungsgegenstand und als Teil der eigenen Forschungspraxis, um für die (Un)Möglichkeiten eines forschungspraktischen Zugangs zu sensibilisieren und ihr erkenntnistheoretisches Potenzial offenzulegen.
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Notes
- 1.
Der Begriff Translation (lateinisch Übertragung, Versetzung, Übersetzung) bildet im wissenschaftlichen Diskurs den Oberbegriff für Dolmetschen (mündliche Translation) und Übersetzen (schriftliche Translation). Grundsätzlich lässt sich darunter jede Art von Transfer kommunikativer Einheiten verstehen (vgl. Kvam et al. 2018, S. 13).
- 2.
Wenngleich sich der translatorische Prozess des Dolmetschens nicht von dem des Sprachmittelns unterscheidet, wird hier auf den feldspezifischen Terminus der Sprachmittelnden zurückgegriffen. Er markiert die Differenz zwischen akademisch ausgebildeten Dolmetscher_innen und – in der Kinder- und Jugendhilfe primär eingesetzten – gering qualifizierten Sprachmittler_innen, die diese Tätigkeit trotz gleicher Anforderungen nicht selten ehrenamtlich und ohne Aufwandsentschädigung leisten.
- 3.
In dem Konzept des Translanguaging, einer speziellen multilingualen Perspektive, heben sich die Grenzen zwischen einzelnen Sprachen auf. Stattdessen verfügen mehrsprachige Menschen über ein sprachliches Repertoire, das sie strategisch einsetzen, um erfolgreich zu kommunizieren (vgl. Garcia 2011).
- 4.
Darunter etwa Lexik (Wortschatz), Idiomatik (Eigenheiten wie Redewendungen), Satzbau und Grammatik.
- 5.
VJ(B) = Jugendamtsfachkraft, SM(B) = Sprachmittlerin, JU(B) = junger Mensch.
- 6.
Dolmetschende, die ehrenamtlich in einem Verein arbeiten bzw. Community Interpreter bekommen zum Teil eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 10–30 € pro Stunde.
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