1 Einleitung

Wissenschaft und Politik beobachten Migration auf unterschiedliche Weise: Während Wissenschaftler sich überwiegend mit den Ursachen, Motiven und Anlässen, aber auch Komplexitäten von Migration auf verschiedenen Skalen­ebenen auseinandersetzen (z. B. Speck/Schubarth 2009), dominiert in der Politik der Bedarf nach Mechanismen, mit denen insbesondere auf die ökonomischen und demographischen Implikationen von (Ab-)Wanderungsprozessen reagiert werden kann. Beide sprechen über Wanderungsentscheidungen, die immer eine subjektive Dimension haben: Biographische Aspekte haben beispielsweise nachgewiesenermaßen entscheidenden Einfluss auf die individuellen Einstellungen zu Wanderungen (z. B. Beetz 2009: 150; Kley 2009: 105 ff.). Trotz gesunkener Abwanderungsraten sehen sich immer noch viele Menschen mit der Frage konfrontiert, ob sie bleiben oder weggehen. Beobachten, Deuten und Interpretieren individueller Wanderungsentscheidungen, die in der Summe ein kollektives Phänomen bilden, spielen vor allem im politischen Handeln eine zentrale Rolle.

Innerhalb dieses Feldes des Beobachtens und Deutens von Migration befasst sich dieser Beitrag mit zwei Fragen: Erstens soll beleuchtet werden, wie das Verhältnis der von Seiten der Politik als abwanderungs- bzw. bleiberelevant erachteten Faktoren „Infrastruktur“ und „Kultur“ (z. B. jüngst Petersen 2014; o. V. 2014) und deren Verständnis in Bezug auf Wanderungsentscheidungen durch verschiedene Berufsgruppen verhandelt wird. Zweitens nutzen wir die empirisch unterlegte Darstellung dessen zur Thematisierung verschiedener komplexer Dimensionen der Beforschung von Wanderung und Wanderungsentscheidungen, die über die bisherigen Thematisierungen der ‚subjektiven Aspekte‘ von Migration hinausgehen. Ziel des Beitrags ist es, die (unaufhebbaren) Unsicherheiten professioneller Deutungen von Migration herauszuarbeiten.

Das verwendete empirische Material entstammt Interviews und Gruppendiskussionen, die wir 2013 und 2014 im Altenburger Land (Ostthüringen) durchgeführt haben.Footnote 1 Sie sind Teil eines Projekts zu „Diskurs und Praktiken in schrumpfenden Regionen“Footnote 2, das die Einflüsse raumbezogener Semantiken im Kontext von Schrumpfung auf die adressierten Regionen und Menschen untersucht. Ausgangspunkt ist die These, dass Peripherisierung ein sozialer Prozess ist, der nur dann adäquat verstanden werden kann, wenn kommunikative Zuschreibungen sowie die subjektive Wahrnehmung und Bedeutung dieser Zuschreibungen berücksichtigt werden (vgl. insbesondere Beetz 2008; Meyer/Miggelbrink 2013).

In Kap. 2 erarbeiten wir auf der Basis der auf Schrumpfung und Peripherisierung bezogenen Literatur die Relevanz der Betrachtung des Subjekts und seiner Wahrnehmungen und Handlungen. Basierend auf unserem empirischen Material folgt in Kap. 3 die Diskussion der Frage, inwiefern die häufig von Seiten politischer Akteure als wanderungs- und bleiberelevant wahrgenommenen Faktoren „Infrastruktur“ und „Kultur“ als relevant für die Wanderungserwägungen von Individuen angesehen werden. Darauf aufbauend benennen wir in Kap. 4 eine Reihe von Konsequenzen für eine subjektzentrierte Migrationsforschung und enden mit einer Bilanz zum dezentrierten Subjekt in der Beobachtung von Migration.

2 Peripherisierung, Schrumpfung und Subjektivierung

2.1 Zum Verhältnis von Peripherisierung und Schrumpfung

Unsere Forschungen sind innerhalb der deutschsprachigen Peripherisierungsdebatte verortet, die in den 1970er Jahren ihren Anfang hatte (z. B. Göb 1977), in den 1980er Jahren im Rahmen der Debatte um ein Nord-Süd-Gefälle (Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986) bzw. aus stadtsoziologischer Sicht (Häußermann/Siebel 1988) fortgesetzt wurde und gegenwärtig im Zusammenhang mit der Schrumpfungsforschung (vgl. Lang 2010) geführt wird. Seit den 1990er Jahren gingen diese Debatten zudem mit einem intensiven Nachdenken über die Folgen der impliziten Wachstumslogik in Politik und Verwaltung (z. B. Grossmann 2007) sowie einer Auseinandersetzung mit der Utopie der „Blühenden Landschaften“ (vgl. Kollmorgen 2010) einher. Schrumpfungsprozesse, die erst seit ca. fünfzehn Jahren explizit thematisiert werden (z. B. Ganser 2002), wurden zunächst vorrangig im Kontext der „Angleichung der Lebensverhältnisse“ (vgl. Ragnitz 2005) debattiert. Im Anschluss an die Analyse von Umfang, Dynamik und Folgen dieser Prozesse (vgl. Spellerberg/Huschka/Habich 2007; Kroll/Kabisch 2012) stehen aktuell Fragen des strategischen politischen, planerischen und administrativen Umgangs mit den Folgen dieser Prozesse sowie Fragen der damit verbundenen normativen Implikationen im Mittelpunkt (z. B. Pallagst 2010; Aring 2012; Wiechmann/Pallagst 2012). Der Schrumpfungsbegriff wird häufig auf urbane Verhältnisse bezogen (z. B. Siedentop/Kausch 2003), allerdings wurden auch schon früh rurale und kleinstädtische Kontexte in den Forschungen berücksichtigt (z. B. Müller/Siedentop 2004). Zumeist bezeichnet er in deskriptiver Weise Phänomene im Kontext demographischer Veränderungen (unter anderem Abwanderung und Alterung), ökonomischer Stagnation (unter anderem geringere Wertschöpfung und Arbeitslosigkeit) und deren infrastrukturelle Folgen (unter anderem Ausdünnung des ÖPNV-Netzes, Diskussionen um Schulschließungen und -zusammenlegungen, Schließung von Geschäften und anderen Dienstleistungsbetrieben).Footnote 3 Aktuell dominieren Arbeiten, deren sektoraler Fokus vor allem auf die Wasserwirtschaft (z. B. Lux 2009; Naumann 2009; Schiller 2010), Bevölkerungs- bzw. Migrationsaspekte (z. B. Herfert 2007; Burdack 2007; Föbker 2009; Schubarth/Speck 2009) und den Wohnungsmarkt (z. B. Schnur 2010) gerichtet ist und ein symptomorientiertes Bild eines mittlerweile auch politisch und medial reflektierten Themas (Lang 2010: 95) darstellen.

In der gegenwärtigen Schrumpfungsdebatte ist der ältere Begriff der Peripherisierung wieder präsent (z. B. Keim 2006). Damit wird zwar ein ähnlicher Bereich angesprochen wie mit dem Begriff der „Schrumpfung“, „Peripherisierung“ schließt jedoch – beispielsweise bei Beetz (2008) – Verhältnisse asymmetrischer Abhängigkeit von Agglomerationsräumen bzw. ungleiche Entwicklungschancen als Symptom räumlicher und sozialer Randständigkeit ein, weswegen wir auf „Peripherisierung“ im Folgenden näher eingehen. Forschungspraktisch werden in aktuellen Untersuchungen jedoch sowohl Kenngrößen zur Beschreibung asymmetrischer Beziehungen herangezogen als auch Indikatoren räumlicher Ungleichheiten, die im Kontext der Schrumpfungsforschung relevant sind (z. B. Fischer-Tahir/Naumann 2013).

2.2 Peripherisierung: Sozialstruktureller und diskursiver Prozess

Der Begriff Peripherie ist primär verankert in der entwicklungstheoretischen Analyse internationaler ökonomischer und politischer Abhängigkeits- und Dominanzbeziehungen (vgl. Menzel 1994: 29 ff.), die durch ungleiche Geschäftsbedingungen (terms of trade), Wertschöpfungsverluste und ein einseitiges Setzen von Normen, Regeln und (Wert-)Maßstäben durch Zentren gekennzeichnet sind. Zumeist wird von sich wechselseitig verstärkenden ökonomischen und politischen Prozessen ausgegangen, die zu kumulativen Effekten der Peripherisierung führen. Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie(n) werden zumeist in Kategorien von Markt und Politik gedacht, äußern sich aber auch in kommunikativen Beziehungen, denn für „die Ausprägung räumlicher Disparitäten ist (…) von entscheidender Bedeutung, dass Zentren interpretative Normen setzen“ (Schwarze 1995: 7), Peripherien hätten dagegen „keine Kontrolle über die Inwertsetzung der eigenen Handlungen und Normen“ (Schwarze 1995: 7). Zwar mag die These, dass „Zentrum-Peripherie-Strukturen (…) in erster Linie Kommunikations- und Interpretationsstrukturen“ (Schwarze 1995: 7; eigene Hervorhebung) sind, auf den ersten Blick überzogen erscheinen, aber die aktuelle Diskussion über Peripherisierung bezieht gerade diesen Aspekt mit ein und betont die Bedeutung von Praktiken der Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie von Wahrnehmungs- und Etikettierungsprozessen (z. B. Bernt/Bürk/Kühn et al. 2010: 12; Beetz 2008: 11).

Die Unterscheidung zwischen sozialstruktureller und kommunikativ-interpretativer Dimension in der Entstehung und Erklärung von Peripherisierung deutet eine epistemologische Trennung an, die zwischen „harten“, „objektiven“ bzw. „objektivierten“ sozialstrukturellen Entwicklungen auf der einen Seite und einer sprachlichen Dimension auf der anderen unterscheidet. In forschungspraktischer Hinsicht ist diese Unterscheidung nachvollziehbar, da Semantiken wie die Bezeichnung einer Region als „schrumpfend“ zumeist auf Befunden beruhen, die aus der Interpretation offizieller Statistiken abgeleitet werden. Diese Interpretationen wiederum werden von hegemonialen Deutungsschemata geprägt: Aus einer Verringerung von Quantitäten bzw. einem entsprechenden Sinken von Indikatoren der Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung wird beinahe automatisch auf eine Verringerung von Qualität geschlossen. Sozialstrukturelle Entwicklung und Semantiken sind also eng aufeinander bezogen: Bestimmte Entwicklungen werden mittels bestimmter Indikatoren gemessen und damit oftmals erst sicht- und nachvollziehbar. Allerdings werden Semantiken oftmals lediglich als begriffliche Repräsentation sozialstruktureller Entwicklungen verstanden, die nur a posteriori begrifflich fassen, was ‚ohnehin‘ geschieht. Die historisch vollzogene Unterscheidung zwischen sozialstrukturellem ‚Geschehen‘ und semantischer ‚Deutung‘ ist theoretisch problematisch: In systemtheoretischer Perspektive werden Semantiken vielmehr als Momente der Entstehung und Durchsetzung funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung verstanden (vgl. Stichweh 2000: 245 f.; Stichweh 2006). Das heißt, neue Semantiken, die gegenüber älteren ausdifferenziert und durch Wiederholung etabliert werden, ermöglichen eine weitere sozialstrukturelle Differenzierung. Diskurstheoretische Arbeiten stellen die Möglichkeit der Trennung von bedingender Struktur und bedingtem Sein generell in Abrede (z. B. Laclau/Mouffe 1987: 105; Foucault 2002: 74). Gerade weil Semantiken unaufhebbar mit der sozialstrukturellen Entwicklung verbunden sind, haben sie nicht nur eine Aussagefunktion, sie sind stets auch produktiv. Vor diesem Hintergrund verstehen wir Schrumpfungsdiskurse – Diskurse, die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen als „Schrumpfung“ und deswegen als ein zu bearbeitendes gesellschaftliches und individuelles Problem identifizieren – als ein „System verselbständigter semantischer Produktion“ (Stichweh 2000: 242).

Das hat für uns zwei Konsequenzen: Erstens ist die Analyse von Funktion und Wirkung von Semantiken unabdingbar. Zweitens muss aber berücksichtigt werden, dass in den alltäglichen Praktiken die Unterscheidung von objektivierter sozialstruktureller Entwicklung und Etikettierung faktisch relevant ist. Dies ist notwendig, weil weder hegemoniale Deutungsschemata noch konkrete hegemoniale Deutungen auf der Ebene eines objektivierenden Diskurses zwangsläufig eine ‚subjektive‘ Entsprechung haben müssen. Das heißt auch, dass die Subjekte, die durch einen objektivierenden Diskurs in einen bestimmten räumlichen, beispielsweise regionalen Rahmen gesetzt und daher als regional bzw. als regionale Akteure betrachtet werden, diese hegemoniale räumliche Ordnung nicht notwendigerweise teilen müssen. Dennoch können sich ihre Handlungen und Entscheidungen wiederum in politisch relevanten Befunden zur regionalen Entwicklung niederschlagen. Wenn individuelles Handeln und Entscheiden einen objektivierten Diskurs bestätigt (oder widerlegt), bedeutet dies folglich nicht, dass dem eine subjektive Relevanz des Regionalen zu Grunde liegen muss. Inwiefern und auf welche Weise die subjektive Wahrnehmung einer Region relevant ist bzw. werden kann, indem sie handlungs- und entscheidungsrelevant wird, muss also notwendigerweise in methodischer Hinsicht offengehalten werden. Die subjektive Wahrnehmung einer Region war zwar bereits Gegenstand sozial- und wirtschaftsgeographischer Arbeiten (z. B. Aring/Butzin/Danielzyk et al. 1989), wies jedoch nicht die methodische Offenheit gegenüber jenen den Subjekten eigenen Raumverweisen auf. Methodologisch wichtig ist, dass aufgrund des Befundes, dass ‚Schrumpfung‘ Auswirkungen auf die Lebensqualität, Lebenschancen und Lebensentwürfe und damit auf Entscheidungen von Subjekten hat (vgl. Bürk/Kühn/Sommer 2012) und umgekehrt die Beobachtbarkeit von Schrumpfung (das heißt der Schrumpfungssymptome) letztlich auf Handeln und Entscheiden von Subjekten beruht, ein komplexer Praxiszusammenhang unterstellt werden kann, der die subjektive Relevanz von Schrumpfungsdiskursen stärker in den Fokus rückt.

2.3 Praktiken, Schrumpfungsdiskurs und die räumliche Dimension – eine Standortbestimmung

Der theoretische Kontext, in den wir unsere Arbeit zur Schrumpfungs- und Peripherisierungsforschung einordnen, ist in diskurs-, subjekt- und praxiszentrierten Ansätzen verankert, die seit Längerem in der Sozialgeographie präsent sind (z. B. Glasze/Mattissek 2009; Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011; Dzudzek/Strüver 2013). Darin wurde – teils in Fortführung der vor Längerem vollzogenen handlungstheoretischen Wende der Sozialgeographie (vgl. Werlen 1995; Werlen 1997; Meusburger 1999) und vor dem Hintergrund des practice turn der Sozialwissenschaften, das heißt einer zunehmenden forschungsseitigen Fokussierung auf konkrete körperliche Handlungen und Äußerungen von Subjekten (vgl. Reckwitz 2000; Schatzki 2001) – ein konstruktivistisches, nicht-deterministisches und relationales Raumverständnis in der Geographie etabliert (vgl. z. B. Hard 2010; Miggelbrink 2002a; Lossau 2008; Miggelbrink 2009; Paasi 2010). In jüngster Zeit wurde vor allem in der Flat-ontology-Debatte (Marston/Jones/Woodward 2005; Marston/Woodward/Jones 2007), in der Territorialisierungsdebatte (vgl. Painter 2010) sowie von Seiten der kritischen Geographie (vgl. Belina 2013) betont, dass Skalen, Territorien und allgemein „Räume“ nicht per se relevant sind, sondern ihre Relevanz immer nur in Bezug auf Praktiken entfalten und folglich nicht losgelöst von diesen sinnvoll analysiert werden können.

Unter Praktiken verstehen wir ein temporäres und dynamisches Arrangement aus Handlungen und Äußerungen, das aus dem notwendigen Wissen zur Ausführung der Handlung, aus den dabei kollektiv geltenden, handlungsnormierenden Regeln und dem dabei zu erreichenden Nutzen geknüpft wird (Schatzki 2002: 87; vgl. Everts/Lahr-Kurten/Watson 2011). Praktiken sind zwar grundsätzlich in dem Sinne räumlich, dass sie stets aus konkreten und daher verorteten Handlungen bestehen. Dennoch ist es notwendig, die ‚räumliche‘ Dimension von Schrumpfung genauer zu betrachten, weil Schrumpfungsphänomene zwar an bestimmten räumlichen Kategorien festgemacht und für diese beobachtet werden können, die dahinter stehenden Prozesse, Handlungen und Entscheidungen sind jedoch durch diese räumlichen Kategorien nur bedingt, nicht jedoch determiniert (Werlen 1997: 208 ff.; Reuber 2000).

Mit unserer Definition von Schrumpfungsdiskurs als einem zeitlichen und akteursbezogen dynamischen linguistischen Sinnsystem (angelehnt an Foucault 2002) beziehen wir uns auf die semiologische Bearbeitung des Diskurskonzeptes (vgl. Strüver 2009) nach Laclau/Mouffe (2006) sowie deren politisch-theoretische Weiterentwicklung durch Howarth (2000) (vgl. für die Geographie z. B. Glasze/Mattissek 2009), die signifizierende Praktiken sowie die Wahrnehmung dieser Praktiken als analytisch bedeutsam ansieht. Der Schrumpfungsdiskurs stellt mithin „ein differentielles und strukturiertes System von Positionen“ (Laclau/Mouffe 2006: 145) dar, in dem mittels des Signifikanten „Schrumpfung“ bezogen auf Einzelphänomene (Abwanderung etc.) oder Orte bedeutungsgebend artikuliert wird. Im Sinne von Laclau/Mouffe (2006: 141) bedeutet dies, dass im Zuge der Artikulation von Zusammenhängen dieses Sinnsystem als etwas Dynamisches und durchaus Änderungen Unterworfenes erhalten wird und geändert werden kann. Das heißt, dass eine Verknüpfung einer bestimmten Ausprägung von Phänomenen (z. B. Abwanderung, Arbeitslosigkeit) in einer bestimmten Raumeinheit mit dem Signifikanten „Schrumpfung“ nicht als zwangsläufig, sondern als kontingent angenommen werden muss (vgl. Laclau 1990: 28). Die Kontingenz des Diskurses resultiert aus der Rolle des zugleich unterworfenen wie subversiven Subjekts (Davies/Harré 1990): Einerseits sind sie Hervorbringungen des Diskurses, der ihnen Positionen zuweist und dessen Deutungsanspruch sie artikulieren, andererseits bedeuten diskursiv gesetzte, hegemoniale Deutungs- und Steuerungsansprüche keine vollständige Determinierung des Subjekts (vgl. Butler 2001).

Zentral ist für uns die Annahme, dass auch im Schrumpfungsdiskurs Deutungen vorgenommen und Positionen – vor allem die des Gegensatzes von Zentralität und Peripheralität, von (positiv besetztem) Wachstum und (negativ besetzter) Schrumpfung – erzeugt und vorgehalten werden, die hypothetisch für Subjekte wirksam werden. Ein weiterer zentraler Topos des Schrumpfungsdiskurses ist die implizite räumliche Konnotation: Schrumpfung wird sicht- und wahrnehmbar als ein räumliches Phänomen. In Bezug auf die gesellschaftliche, kommunikative Verhandelbarkeit des Problems ist zu konstatieren, dass dieses mittlerweile relativ fest mit bestimmten sozialräumlichen Kategorien verbunden wird und der Topos der „schrumpfenden Stadt“ sich weitgehend verselbstständigt hat. So stellt beispielsweise Lang (2010: 95) fest, dass die öffentlichen Schrumpfungsdiskurse meist zwischen Untergangs- und Vorreiterszenarien oszillieren, und es scheint, dass „der Begriff der schrumpfenden Stadt im wissenschaftlichen Kontext oft nur noch als Schlagwort aufzutauchen“ vermag. Es ist anzunehmen, dass nicht nur die Bedingungen der sozialstatistischen Erfassung von Schrumpfung dazu führen, dass über Schrumpfung (auch) in räumlichen Kategorien nachgedacht und verhandelt wird, sondern dass - nicht zuletzt aufgrund des territorial-administrativen Mehrebenensystems (Flint 2003) – die auf Schrumpfung reagierenden Programme neben einem sektoralen auch einen räumlichen Zuschnitt haben. Der theoretische Rahmen, der diese handlungs- bzw. praxisrelevante Verräumlichung konzeptionell fassen kann, entstammt vor allem den Untersuchungen zur raumbezogenen Sprache (vgl. Schlottmann 2005), zum raumbezogenen Argumentieren (vgl. Felgenhauer 2007) sowie zur raumbezogenen Semantik (vgl. Miggelbrink/Redepenning 2004; Meyer zu Schwabedissen/Miggelbrink 2005; Redepenning 2006 Footnote 4).

Raumbezogene Semantiken geben demzufolge dem sozialen Geschehen eine auf Räume bezogene semantische Gestalt, die einerseits das Geschehen bezeichnet, zusammenfasst und ordnet, andererseits aber auch für zukünftiges Handeln wirksam werden kann. Bisherige Untersuchungen haben unter anderem auf empirischer Ebene aufgezeigt, dass zwischen soziostruktureller und semantischer Dimension eine Interdependenz dahingehend besteht, dass Stigmata als negativ konnotierte Semantiken nicht nur deskriptiven Charakter haben, sondern (handlungsrelevante) Erwartungen produzieren (Lang 2010: 105). Stigmatisierung, so stellen Bernt/Bürk/Kühn et al. (2010: 12) fest, „kann (…) Ursache und Folge sozialer Randständigkeit sein“, da die Objekte der Stigmatisierung im Kontext einer „crisis of collective identities“ (vgl. Bürk/Kühn/Sommer 2012) auf diese Fremdzuschreibungen reagieren (vgl. auch Kreckel 2004). Dass politisch-programmatische und massenmediale Zuschreibungen eines „peripheren“ oder „schrumpfenden“ Status im konstruktivistischen Sinne eine soziale Klassifikation darstellt, die allein dadurch handlungsrelevant werden kann, weil so adressierte Personen und Organisationen auf sie reagieren,Footnote 5 ist ein bislang kaum beachteter Aspekt in der Peripherieforschung. Eine Diskussion, die berücksichtigt, dass (erstens) Schrumpfung unter bestimmten sozialen Verhältnissen produziert wird, dass (zweitens) die darin involvierten räumlichen Dimensionen sozialen Handelns nicht vorausgesetzt werden können, sondern Teil der Analyse selbst sein müssen, und dass (drittens) die Konzepte, mit denen die Akteure selbst – auch die wissenschaftlichen – diese Prozesse beschreiben, interpretieren und steuern, als deren diskursives Moment betrachtet werden müssen, ist allenfalls in Ansätzen erkennbar.

Zusammenfassend bedeutet das: Wenn die Bedeutung des Schrumpfungsdiskurses in den und für die Praktiken von Subjekten rekonstruiert werden soll, dann ist konzeptionell die Funktion räumlicher Etikettierungen für das Subjekt als durch den Diskurs hervorgebrachte eigene Instanz der Sinngebung zu berücksichtigen und zugleich die Möglichkeit nicht-hegemonialer, gegen-hegemonialer, alternativer, differenzierter, kompensatorischer Positionen, aber auch vollständiges Negieren in Bezug auf die diskursiv dominante Deutung der räumlichen bzw. räumlich-sozialen Verhältnisse als mögliche empirische Befunde in Rechnung zu stellen. Neben der jüngst aufkommenden Wertschätzung des Ländlichen als relativ neuem Deutungsangebot (vgl. Redepenning 2009; im Gegensatz zum sogenannten Landflucht-Diskurs vgl. Beetz 2013) und „Heimat“ als tradiertem und immer wieder aktualisiertem Schema (vgl. Schlink 2000) ist der individuell gesuchte Kontrast zur Metropole, die ‚Leere‘ als Ort der Inspiration, die Suche nach einem nicht-entfremdeten Leben, der ländliche Raum als Ort des preiswerten Lebens usw. eine mögliche weitere Deutung. Eine vom diskursiv produzierten wie produzierenden Subjekt ausgehende Untersuchung zielt darauf ab aufzuzeigen, ob und wie ein bestimmter Diskurs zu einer subjektiv bedeutsamen Rationalität geworden ist bzw. welcher Aspekt von ‚Schrumpfung‘ auf welche Weise für das Subjekt bzw. dessen Lebenszusammenhang bedeutsam ist. Dazu wird ein qualitativer Ansatz benötigt, mit dem sich die konkreten, von den Subjekten zur Deutung ihrer Lebenswirklichkeit verwendeten soziale Kategorisierungen und Wissensordnungen nachzeichnen lassen.

3 Kultur und Infrastruktur, Kultur versus Infrastruktur: Befunde der empirischen Untersuchung

3.1 Zur Interviewführung und zur Auswahl der Gesprächspartner

Die von uns untersuchte Frage – Inwiefern sind die häufig von Seiten politischer Akteure als wanderungs- und bleiberelevanten Faktoren „Infrastruktur“ und „Kultur“ relevant für die Wanderungserwägungen von Individuen? – erfordert ein offenes Vorgehen, bei dem von Seiten der Wissenschaftler weder vordefiniert wird, was Infrastruktur und Kultur sind, noch wie sie sich unterscheiden. Ebenso geht es nicht darum, dass die Entscheidungsrelevanz der beiden Faktoren vorab festgestellt wird. Vielmehr soll die Kommunikation unserer bisherigen Gesprächspartner Aufschluss darüber geben, welche Erklärungen vor Ort vorliegen bzw. unter den Menschen zirkulieren. In den Interviews wurde daher darauf geachtet, dass der vermeintliche Dualismus zwischen Infrastruktur und Kultur nicht von den Interviewenden eingeführt oder ein kausaler Zusammenhang zwischen ihnen und möglichen Wanderungsentscheidungen behauptet wurde. Vielmehr wurde aus den Interviews herausgearbeitet, an welchen Stellen unsere Gesprächspartner selbst ihre Aussagen – z. B. auf die Frage „Wie geht es Ihnen hier in Altenburg?“ – in dieses Raster eingebettet haben.

In der ersten Phase des Forschungsprojektes haben wir vor allem mit Personen gesprochen, die aufgrund ihrer beruflichen Position (u. a. Sozialarbeiter, Streetworker, Wirtschaftsentwickler, Pfarrer, Kreis- und Lokalpolitiker) aus unterschiedlicher Perspektive Auskunft über die Situation im Altenburger Land geben konnten. Zudem konnten sie – ebenfalls aufgrund ihrer jeweiligen beruflichen Position – neue Kontakte in unterschiedliche Milieus vermitteln.

3.2 Kultur, Infrastruktur und ihre Wertigkeit

Eine zentrale Referenz, die von vielen Gesprächspartnern geteilt wird, ist die Beschreibung der „gegenwärtigen Situation“ im Altenburger Land. Sie dient uns als Einstieg in die Darstellung der Interviews: Die Situation im Landkreis Altenburger Land ist wie in vielen anderen deutschen Landkreisen von Mittelknappheit und den daraus resultierenden Verteilungskämpfen geprägt. Neben Diskussionen um hohe Arbeitslosigkeit, selektive Abwanderung und den demographisch bedingten Aspekten der Bevölkerungsstruktur sowie niedrigen Löhnen wird die Sicht auf das Altenburger Land stark von seinen Kultureinrichtungen wie beispielsweise dem Lindenau-Museum und dem Residenzschloss Altenburg geprägt. Den klassisch obligatorischen Aufgaben von Landkreisen wie der Bereitstellung von öffentlichem Regionalverkehr, dem Natur- und Katastrophenschutz und der Abfallbeseitigung wird dabei die sogenannte „Liste der Grausamkeiten“ gegenübergestellt, die laut einem Mitglied des Kreistages im Altenburger Land all jene Posten beinhaltet, die „dem Bürger Spaß machen, die aber, wenn es nötig ist, die einzigen sind, die ich streichen kann, wenn ich streichen muss“. Kultureinrichtungen werden, je nach Position, unter Kürzungszwängen als erste Opfer oder als einzige Streichungsoption verhandelt.

In der Lokalpolitik gilt Kultur als ein zentrales Feld und als vorrangige Aufgabe politischen Handelns, weil Kultur – im Gegensatz zu anderen Themen der Lokalpolitik – als unmittelbar identitätsrelevant angesehen wird. Diese Sonderstellung von „Kultur“, die sich im Stadtmarketing beispielsweise in der Fokussierung der geschichtlichen Bedeutung Altenburgs niederschlägt, verdeutlicht ein Lokalpolitiker im Altenburger Land, für den die Kulturförderung vorrangig ist, indem er den Wert kultureller Einrichtungen für die wirtschaftliche Entwicklung hervorhebt: „Weil Kultur ist identitätsstiftend, dann wohnen Menschen gern hier und dann siedelt sich vielleicht auch Wirtschaft an, die entsprechend Steuereinnahmen sprudeln lassen, weil (…) auch ein Unternehmer ist jemand, der dort wohnen will und arbeiten will und Unternehmen gründen will, wo Menschen gern sind. Und da ist eine schöne Straße irgendwo in Magdeburg (…) bestimmt nicht das, wo der sich gerne niederlässt.“

Ausgehend von der Prämisse, dass ein Unternehmer „mehr“ ist als ein zweckrational kalkulierender Investor, leitet er ab, dass den mit diesem „Mehr“ verbundenen Bedürfnissen durch kulturpolitische Maßnahmen entsprochen werden könne und sollte. Diese Annahme unternehmerischer Handlungsrationalität, mit der ein Vorrang bzw. eine hohe Priorität kulturpolitischer Maßnahmen begründet wird, wird jedoch auch von Lokalpolitikern gleicher parteipolitischer Herkunft nicht notwendigerweise geteilt: Im vorliegenden Fall wird zum Abwägungsprozess zwischen Infrastruktur- bzw. Kulturinvestitionen erörtert: „Und wenn ich denn abwägen muss, dann muss ich sagen, mir sind am Ende die Straßen wichtiger, weil die Straßen dienen dazu, dass sich Unternehmen hier ansiedeln, die dienen dazu, dass Unternehmen Steuern in den Landkreis bringen, dass der Landkreis für junge Leute, die hier ihr Geld verdienen, attraktiver wird, dass wir also wieder mehr Geld in die Kassen bekommen und uns dann von dem mehr Geld, was wir haben, vielleicht auch wieder mehr Kultur leisten können.“

Kultur sei etwas, das sich die öffentliche Hand erst mal leisten können müsse; Kultur kostet Geld und dafür sind Steuereinnahmen notwendig. Der Hinweis auf die „Kassen“ zeigt zudem, dass Lokalpolitiker sich dem Zwang ausgesetzt sehen, „Kultur“ in der Logik finanzpolitischer Abwägung zu denken und Prioritäten zu setzen. Der Zwang zur Abwägung bringt zweierlei mit sich: Zum einen erfordert es Kategorien, in die finanzrelevante Entscheidungen eingeordnet werden können – also beispielsweise eine dichotomische Entscheidung von „Hier: Kultur“ und „Dort: Infrastruktur“. Zum anderen werden Gründe benötigt, warum dem einen gegenüber dem anderen der Vorzug zu geben sei. In den beiden Zitaten liefert die Annahme, welche Faktoren die Investitionsentscheidung „des Unternehmers“ beeinflussen (könnten), die Begründung für die jeweilige Priorisierung. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass diese Begründung im Moment der konkreten Entscheidung – z. B. im Moment der Abstimmung – tatsächlich der ausschlaggebende Grund war. Die Zitate geben aber Hinweise darauf, wie eigene Entscheidungsoptionen durch Projektionen von Entscheidungserwartungen rationalisiert werden.

Von den Interviewpartnern wurde dieser Abwägungsprozess als (scheinbar selbstverständliche) Dichotomie präsentiert. Der Antagonismus zwischen dem, was „der Kultur“ zugerechnet wird, und dem, was „der Infrastruktur“ zugerechnet wird, steht in direktem Zusammenhang mit dem Entweder-Oder der Logik des Kampfes um die Verteilung beschränkter finanzieller Mittel. Der (vermeintliche oder tatsächliche) Zwang zur Dichotomisierung führt schließlich zu fragilen Argumentationen: Der behauptete Zusammenhang von Kultur und Identität im ersten Zitat basiert nicht nur auf einer Essentialisierung von Kultur und Identität, sie wird auch in politischen Verteilungskämpfen brüchig, wenn Fragen beantwortet werden müssen, um wessen Kultur es geht, welche Kultur für welche Zielgruppen zu fördern und wessen lokale/regionale Identität damit zu festigen oder überhaupt erst herzustellen sei. Die prekäre Basis dieser Argumentation zeigt, in welchem Geflecht von Unsicherheiten, Variablen und Mutmaßungen sich lokalpolitische Akteure bewegen, wenn sie Annahmen über Wanderungsentscheidungen anderer als Voraussetzung ihrer Entscheidungen einkalkulieren (müssen). Unter prinzipiell unsicheren Bedingungen schafft die Dichotomie rhetorisch Sicherheit: Im ersten Fall mit dem Bild des Unternehmers als eine Art Gegenentwurf zum homo oeconomicus, der „dort wohnen will und arbeiten will und Unternehmen gründen will, wo Menschen gern sind“. Damit wird die selektive Entscheidung zu Gunsten von klassischen weichen Standorteigenschaften wie Image und Lebensqualität getroffen, ohne jedoch kalkulatorisch-betriebswirtschaftliche harte Standorteigenschaften wie Steuern, verkehrsin­frastrukturelle Anbindung sowie Fördermittelverfügbarkeit zu berücksichtigen. Folglich wird der Nutzen von Straßen auf ihre ‚Schönheit‘ beschränkt. Im zweiten Fall geschieht genau das Gegenteil: Anbindungs- und flächenerschließende Aspekte von Verkehrsinfrastruktur und die daraufhin steigenden Vermietungs-, Verkaufs- und Steuereinkünfte werden fokussiert, alles andere ist dann nachfolgender Effekt.

3.3 Personenbezogene Generalisierung sprachlicher Konzepte

Die Dichotomisierung von Kultur und Infrastruktur ist nicht auf die politische Sphäre beschränkt. Sowohl die Topoi selbst wie auch der ihnen unterstellte Antagonismus tauchen auf, wenn Menschen begründen, warum sie oder andere an einem Ort bleiben wollen bzw. geblieben sind. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Generalisierung und Essentialisierung von Kultur, die offensichtlich zunächst keiner genaueren Definition bedarf. Ähnlich wie im ersten Zitat der Lokalpolitiker die subjektive Relevanz von „Kultur“ für die Standortentscheidung eines Unternehmers hervorhebt, äußert sich eine Sozialberaterin bezüglich des Falles einer alleinerziehenden Mutter von vier Kindern. Diese Frau ist als Kinderpflegerin ausgebildet, findet aber keine Arbeit in der Region Altenburg. Trotz wiederholter Empfehlungen, sich in Westdeutschland eine Stelle zu suchen, weigerte diese sich wegzuziehen. Die Sozialberaterin – so suggerierte ihre Wortwahl – verknüpft dies mit der Kulturausstattung der Stadt Altenburg, war sich jedoch nicht so sicher, was den Interviewer zum Nachhaken bewegte:

Interviewer: :

„Das heißt, wenn jetzt lokale Politiker betonen, dass die Menschen vor allen Dingen deswegen (…) hier bleiben, weil Altenburg ein kulturelles Zentrum ist.“

A: :

„Ja, würde ich bekräftigen.“

Interviewer: :

„Aber in diesem Fall würde das keine Rolle spielen.“

A: :

„Also bei der Frau (…) die Angst, die Beziehung, die sie jetzt hat, wieder zu verlieren, also mehr dieser Sozialkontakt. (…) Die meisten, die noch hier sind, sind aufgrund ihrer familiären, freundschaftlichen Kontakte hier.“

Interviewer: :

„Und wieso kommen Sie dann zu dem Urteil, dass das Kulturelle so einen großen Ausschlag noch gibt?“

A: :

„Das ist für mich mehr das Persönliche, dass ich persönlich denke, dass Altenburg wirklich viel zu bieten hat, alles gut erreichbar ist.“

Ausgelöst durch die Nachfragen des Interviewers offenbart die Sozialarbeiterin zwei Aspekte. Erstens gibt es ein generalisierendes Moment in ihrer Argumentation: Der für das Bleiben der alleinerziehenden Mutter als ausschlaggebend angenommene Grund – „die soziale Beziehung“ – wird erst auf Nachfrage benannt, aber sofort wieder überlagert vom „Kulturellen“. Erst durch die zweite Nachfrage wird der Sozialberaterin die konstruierende Dimension ihrer Argumentation bewusst. Sie kennzeichnet dann zwar die Bedeutung des Kulturellen als persönliche Meinung, gleichzeitig wird im Begriff der Kultur jedoch zusammengefasst, was Allgemeingültigkeit beanspruchen darf („viel zu bieten, alles gut erreichbar“). Diese Äußerung steht exemplarisch für ähnliche Interviewaussagen – ob nun bezogen auf eine Präferenz für „Kultur“ oder für „Infrastruktur“ – und beinhaltet eine wiederkehrende Logik: Die Missachtung der Kontext- bzw. biographischen Abhängigkeit von Ortsgebundenheit, Wanderungsentscheidungen und der Wahrnehmung von ortsbezogenen Dienstleistungen. Diese Generalisierung der eigenen Meinung ohne Abgleich mit anderen speziellen Positionen als – unbewusstes – Mittel der Validierung eigener Argumente ist eine komplexe rhetorische Dimension der vorgefundenen Debatte. Obwohl es faktisch in der Wissenschaft eine Diskussion um die entsprechenden Begriffe gibt und insbesondere Kultur durchaus zu Infrastruktur gerechnet wird, orientieren sich die Debatten im Alltag und in Politik und Verwaltung nicht zwingend daran. Vielmehr verbleiben die Interviewten in einem institutionell, rechtlich und finanziell fixierten Rahmen, innerhalb dessen sie entsprechend ihrer professionellen Erfahrung (aber auch hinsichtlich ihrer persönlichen Präferenzen) auf entgegengesetzten Enden einer angenommenen Dichotomie zwischen Kultur und Infrastruktur argumentieren.

Zweitens legt ihre Interpretation nahe, dass (Nicht-)Migrationsentscheidungen von Faktoren abhängig sind, die durch Sozialarbeit und Politik wenig oder gar nicht beeinflussbar sind, nämlich „persönliche Kontakte“. Unter Bedingungen politisch erwünschter oder erwarteter Migration ist Nicht-Migration damit das eigentlich aufschlussreiche Ereignis, weil es die Grenzen der jeweiligen Kausalitätsvermutungen aufzeigt. Die wissenschaftliche Reflexion argumentiert hier verstärkt mit Konzepten sozialer Netzwerke bzw. des sozialen Kapitals (z. B. Haug/Sauer 2006), die die Bedeutung sozialer Interaktionen und des sozialen Verhaftet-Seins von Individuen in den Vordergrund der Untersuchungen rücken.

Bisher lag der Schwerpunkt auf der Frage, wie Kultur und Infrastruktur als relevante und dichotomische Faktoren in Migrationsentscheidungen konstruiert werden. Die von den Inhabern politischer Ämter eingenommenen und zumeist normativ vertretenen Positionen folgen – bis auf eine Ausnahme, auf die wir im folgenden Abschnitt noch einmal zurückkommen – der Logik, dass ein Infrastrukturausbau zwar den Wegzug nicht verhindern kann, jedoch den Zuzug von Unternehmen und Personen fördern würde. In unseren Gesprächen wurde zudem deutlich, dass besonders von Mitarbeitern aus dem sozialen Bereich eine eher differenzierende Position eingenommen wurde. Hierbei wurde mehrfach bestätigt, dass vor allem persönliche Lebensumstände individuelle – nach außen gelegentlich auch als nicht rational empfundene – Migrationsentscheidungen beeinflussen.

Zwar lässt sich vermuten, dass die Interviewpartner sich in der künstlichen Situation des Interviews einem gewissen Zwang zur Rationalisierung ausgesetzt sehen und daher konsistente (Kleinst-)Erzählungen formulieren, es wird aber dennoch deutlich, wie schwierig es ist, das zu erfassen, was die ‚subjektive Präferenz‘ konfiguriert. Im Folgenden werden wir daher auch nicht eine konsistente Erzählung über Gründe von Weg- und Zuzug konstruieren, sondern vielmehr aus dem empirischen Material Hinweise zusammenstellen, wie konkrete Kausalitäten konstruiert werden, um uns der subjektiven Dimension von Migrationsentscheidungen weiter anzunähern.

3.4 Subjektivität in Interpretationen von Migrationspraktiken

Unter den von uns interviewten Politikern, Verwaltungsangestellten sowie ehrenamtlich in stadtentwicklungspolitischen Initiativen Engagierten gab es nur eine – bereits oben zitierte – Person, die der Kulturförderung den Vorzug vor der Infrastrukturförderung (konkret: dem Straßenbau) gab. Stets wurde dieses Spannungsfeld als Dichotomie dargestellt, mal die Entscheidung als eindeutig, mal als dialektisch orientiert argumentiert. Heute ehrenamtlich in Stadtentwicklungs- und weiteren Initiativen engagiert, verdeutlichte diese Person anhand der eigenen Jugend, warum Kultur und Kulturförderung eines mit die wichtigsten stadtentwicklungsbezogenen Ziele seien. Seine Position zielte vor allem auf das Herstellen von Lebensqualität im Hinblick auf jene Merkmale ab, die das Altenburger Land entscheidend von anderen Regionen abhöben. Im Interview legte er daher mehrere engagierte Plädoyers ab, die vor allem die Qualität der Schulen, geringe Kosten beispielsweise für die Musikschule sowie die Kulturausstattung – das Lindenau-Museum und das Theater – betrafen. Auf die Frage, von welcher Bedeutung dieses Kulturangebot für die Menschen vor Ort als auch für potenzielle Zuzügler sei, äußerte er sich wie folgt: „Und das kriegen die Kinder einfach so mit. (...) Und das ist die Hoffnung, die wir damit verbinden, dass dieses Angebot die zu besonderen Menschen macht. (…) Also das ist das, was das Theater für mich ausmacht. Und dann merkt man das erst, das Kinderzimmer war auf der anderen Seite des Hauses. Das heißt, ich habe nachts, wenn ich schlafen sollte, manchmal rüber geguckt. Da war das Licht an, da waren die Menschen mit ihren Sektgläsern in der Pause.“

Statt einer bereits vollzogenen Abstraktion von „Kultur“ präsentiert dieser Gesprächspartner eine persönliche Geschichte des eigenen kindlichen Beeindruckt-Seins. Daraus wird aber kein allgemeines Prinzip von Wanderungs- (bzw. hier:) Bleibeentscheidungen abgeleitet; vielmehr wird deutlich, dass Präferenzen in biographischen Zusammenhängen geformt werden, wofür dieser Interviewpartner offensichtlich in besonderer Weise sensibilisiert war. Aus diesem Zitat lässt sich zweierlei ableiten: Zum einen, dass sich Entscheidungen, die (immer) in biographische Zusammenhänge eingebettet sind, nur bedingt in Übereinstimmung bringen lassen mit durchrationalisierten Vermutungen über Gründe, Wirkungen und Einflussmöglichkeiten. Zum anderen, dass die eigene individuelle Erfahrung als verlängerbar und wiederholbar verstanden wird, was in der Aussage „Und das ist die Hoffnung, die wir damit verbinden“ zum Ausdruck kommt.

Während dieser Gesprächspartner aus der Verknüpfung von Emotion, Kultur und Ort ein strategisches Argument für ein Kultur priorisierendes lokalpolitisches Engagement und für eine entsprechende Finanzpolitik gewinnt, gilt eine emotionale Ortsgebundenheit bei anderen Gesprächspartnern als problematisch, weil sie daran hindern könnte, vernünftige Entscheidungen zu treffen. In ihrer täglichen Arbeit immer wieder konfrontiert mit der Aussage von Jugendlichen, dass sie nicht wegziehen möchten, weil sie hier ihre Familie und ihren Freundeskreis haben, äußert sich eine Sozialarbeiterin: „Fast alle Jugendlichen sagen: ‚Ich möchte in Altenburg bleiben, weil ich mich hier wohlfühle.‘ (…) Ich denke, Wohlfühlen hat in dem Sinne etwas damit zu tun: ‚Ich kenne mich hier aus, ich habe hier alles was ich brauche, meine Familie lebt hier, meine Freunde leben hier und mir gefällt es hier einfach zu wohnen.‘ (…) Auch Jugendliche, die sich nicht auf Berufsausbildungssuche befinden, könnten ja theoretisch wegziehen. Aber die bleiben halt auch hier.“

Anders als die professionell oder ehrenamtlich in der Stadtpolitik tätigen Interviewpartner orientieren sich die Gesprächspartner aus dem Bereich der Sozialarbeit weniger an Kategorien von Kultur und Infrastruktur, sondern schreiben den individuellen Erfahrungskontexten eine hohe Bedeutung zu. Der vorliegende Fall entstammt einem Gespräch mit einer Sozialberaterin, die für ihr persönliches Umfeld beschreibt, welche Einflussfaktoren und -pfade bei Karriere- bzw. ausbildungsbezogenen Wanderungen von Jugendlichen eine Rolle spielen: „Die hören das aber. Die hören das. Also zum Beispiel mein Neffe, der ist noch ein bisschen jünger als mein Sohn, der hört das von meinem Sohn. (...) Dann hat er von meinem Sohn das gehört, jetzt hat er gesagt, er guckt sich mal um, das gefällt mir. Und dann kennen die sich schon, dann hat man auch schon wieder ein Netzwerk, das sind dann so Sachen, wo ich denke, ja, das spricht sich schon rum“ (eigene Hervorhebung).

Dieses Beispiel steht stellvertretend für ähnliche Äußerungen über die Rolle der Familie und des Freundeskreises hinsichtlich der Herausbildung von Wanderungsentscheidungen; diese decken sich mit Befunden zur Bedeutung, die die Mikro-Ebene des Sozialen bei Jugendlichen für kommende Entscheidungen hat (vgl. Schubarth/Speck 2009). Existierende Vertrauensbindungen und ein intensiver Kontakt schaffen, so legen es die Interviews nahe, diesbezüglich Sicherheit. Abschließend sollen diese Befunde nun in den Kontext der Migrationsforschung eingeordnet werden, um herauszuarbeiten, an welchen Punkten bisherige Perspektiven erweitert werden sollten.

4 Komplexität in der Migration(sforschung)

Die Sozialarbeiter auf der einen Seite und die in die Stadt-, Regional- und Wirtschaftsentwicklung involvierten Berufsgruppen auf der anderen Seite haben es mit unterschiedlichen Formen von Migration und Akteuren zu tun. Zudem haben sie professionell bedingt eine unterschiedliche Perspektive auf die Funktion von Mobilität. In ihren Interpretationen des erlebten Migrationsgeschehens tauchen dementsprechend aus dem jeweiligen professionellen Kontext hervorgehende Annahmen über sozialweltliche Kausalitäten auf, die Begründungen dafür geben, warum in A, nicht aber in B investiert werden sollte. Ob aus diesen Konstruktionen wiederum erfolgreiche Maßnahmen der Beeinflussung von Migrationen entstehen, bleibt hypothetisch. Darüber hinaus zeigen die Interpretationen im Bereich der Sozialarbeit, wie subjektive Präferenzen herausgebildet und stabilisiert werden und an welchen Stellen Einflüsse zu vermuten sind. Daraus resultieren wiederum Einsichten in die (Un-)Möglichkeit, professionell auf das Migrationsverhalten einwirken zu können. In beiden Fällen, so kann angenommen werden, sind die Interpretationen von Migrationsverhalten und entsprechende Verhaltenserwartungen relevant für die Begründung des eigenen Handelns innerhalb eines zirkulären Geschehens.

Daraus leiten wir zwei Muster der Konstruktion von Migration ab: Beim ersten Muster steht die Attraktivität eines Ortes bzw. einer Region nach außen und im Hinblick auf potenzielle Zuwanderung im Vordergrund; es verläuft weitgehend entlang einer dichotomisierenden Unterscheidung von Kultur und Infrastruktur als entscheidungsrelevanten, objektivierten Faktoren. Zuwanderung könne dann erreicht werden, wenn der richtige Faktor – und das ist nahezu durchgehend die Infrastruktur – bedient wird. Dieses Muster ist eng verbunden mit dem finanzpolitischen Dilemma des Entweder-Oder. Das zweite Muster ist emotions- und bedürfnisorientiert und bezieht sich insbesondere auf diejenigen, die nicht wegziehen. Für diese Form der Nicht-Migration werden Infrastruktur und Kultur nicht als relevante Faktoren angenommen. Vielmehr werden die Gründe für das Bleiben der Existenz von (persönlichen) Netzwerken zugeschrieben.

Zweifellos sind weder die tatsächlichen Rationalitäten von migrations(un)willigen Personen widerspruchsfrei, noch sind es die Deutungen ihrer Handlungen und Entscheidungen durch andere (vgl. Bourdieu 2002). Daher betonen Migrationsstudien die Komplexität von Migration, die „den Endpunkt eines Zusammenspiels von demographischen (…), soziokulturellen (…), politischen (…), wirtschaftsstrukturellen (…) und produktionstechnischen (…) Faktoren“ bildet (Han 2000: 21). Dennoch würden methodologisch „allgemeine und umfassende strukturelle Bedingungen jeweiliger Gesellschaften“ anstelle von Kausalanalysen dominieren (Han 2000: 22). Als Folge müsse konstatiert werden, dass keine allgemeingültigen Erklärungen existieren, die skalenübergreifend darlegen, warum einige Menschen in bestimmten Regionen migrieren und andere nicht (Han 2000: 22; vgl. Massey/Arango/Hugo et al. 1993). Die mittlerweile vielfach kritisierten „Push-Pull-Modelle“ (z. B. Lee 1966) konnten weniger eine theoretische Verallgemeinerung der Gründe bieten als vielmehr eine Beschreibung von Migrationsmechaniken (vgl. de Haas 2008: 9).

Einen vielversprechenden Weg, sich der „Vielzahl zum Teil sehr individueller Handlungssituationen von Wegzugsbereitschaft über Sesshaftigkeit bis hin zu potenziellen und tatsächlichen Rück- und Zuwanderungen“ anzunähern, sehen Wiest und Leibert (2013: 464) darin, sich auf den Zusammenhang zwischen migrationsbezogenen Handlungsstrategien und Lebensphasen zu konzentrieren, um auf induktivem Weg zu Generalisierungen zu gelangen (Wiest/Leibert 2013: 465). Nicht gelöst wird damit das Problem, wie gruppen- und skalenbezogene Postulate (z. B. regional unterschiedliche Lohnniveaus), Aussagen und Befunde plausibel mit individuellen Rationalitäten des Handelns in Verbindung gesetzt werden können. So stellt de Haas (2008: 9) zum Beispiel bezogen auf eine oftmals angenommene kausale Beziehung zwischen unterschiedlichen regionalen Lohnniveaus und einer dadurch induzierten Migrationsneigung fest, dass dies auf der Maßstabsebene des Individuums so nicht als wahr bezeichnet werden könne. Er kommt zu der auf den ersten Blick simpel klingenden Aussage, dass Menschen migrieren, weil sie erwarten „to make a more satisfying living elsewhere“ (de Haas 2008: 9). Damit werden (individuelle) Migrationsorientierungen in den Mittelpunkt gestellt, ohne gruppen- und skalenbezogene Postulate per se zu negieren. Sie bilden allerdings keine Ex-post-Erklärungen für ein beobachtbares Verhalten, sondern werden als „Rahmensetzungen“ verstehbar, „in denen Erfahrungen kommuniziert werden“ (Beetz 2009: 150). Das heißt, sie werden nur durch individuelles Handeln relevant, sind aber „nicht abgelöst von sozialen Erfahrungen und repräsentieren die soziale Dynamik“ (Beetz 2009: 150). Aus dieser Debatte kann gefolgert werden, dass ein Verstehen von Migration die Bedeutung der sozialen Dynamik und die darauf bezogenen kollektiven, medial präsenten Orientierungen innerhalb der jeweiligen biographischen Spezifik einbeziehen muss (Speck/Schubarth/Pilarcyk 2009: 166). Ein solcher Ansatz müsste die Analyse einzelner Komponenten wie der Verwandtschaft und der Freundeskreise (vgl. Schwarz/Kannwischer 2005: 49 f.; vgl. auch Haug 2000; Haug/Pointner 2007) oder, allgemeiner, des sozialen Kapitals (vgl. Haug/Sauer 2006) ebenso in Rechnung stellen wie die Ausformung der biographisch relevanten Orientierungen – vor allem bei Jugendlichen und ihren noch offenen Biographien (Beetz 2009: 150).

Lassen sich mit einem derart individualisierten und fallrekonstruierenden Ansatz überhaupt noch verallgemeinerbare Aussagen treffen? Wir werden diese Frage hier nicht abschließend beantworten können, möchten aber eine Reihe von Punkten hervorheben, die die Bedingungen der Generalisierung umreißen. Gerade weil Wanderungsentscheidungen kontextuell sind, gehen wir davon aus, dass sich die Rekonstruktion der subjektiven Perspektive nicht auf die (potenziell) migrierende Person allein richtet, sondern die individuellen Einstellungen, Erwartungen, Annahmen und Orientierungen der die Wanderungsdynamik verhandelnden - das heißt beispielsweise der migrierenden und über Migration sprechenden - Akteure berücksichtigen muss. Zu den Bedingungen gehören:

Die Rekonstruktion der Bedeutung sozialer Netzwerke für die ‚alltägliche‘ Verhandlung von Migration: Individuelle Wanderungsentscheidungen werden auf der Basis von Informations- und Bedürfniskonstellationen getroffen, die nicht gegeben sind, sondern kommunikativ und interaktiv herausgebildet werden. Bedürfniskonstellationen und ihre Veränderungen im Lebensverlauf sind bereits mehrfach untersucht worden (z. B. Kley 2009; Wiest/Leibert 2013). Informationskonstellationen – an welchen sozialen Orten, mit welchen Personen und unter welchen Bedingungen „Migration“ als Handlungsoption auf welche Weise thematisiert wird – sind dagegen nach wie vor kaum untersucht. Das liegt sicherlich nicht zuletzt an den methodischen Schwierigkeiten der „Nachverfolgung“ von Kommunikation (z. B. Wirksamkeit von Ratschlägen, Gerüchten) und der individuellen, entscheidungs(prä)figurierenden Bewertung von „Information“ (z. B. zum Verhältnis von Lohnniveau und Lebenserhaltungskosten am hypothetischen Zielort). Ihre Rekonstruktion könnte wichtige Anhaltspunkte dafür liefern, in welchen sozialen Konstellationen Migrationsentscheidungen zustande kommen.

Die Annahme nichtlinearer Entscheidungsprozesse: Gerade das Eingebundensein in kollektive Strukturen (Verwandtschaft, Freundeskreis, Schulklasse, Verein, Fahrgemeinschaft etc.) führt dazu, dass Individuen sich verschiedenen Begründungen für Migration ausgesetzt sehen. Unterschiedliche Deutungen der Situationen vor Ort können zum Abgleich, zur Schärfung und zur Revision der eigenen Position führen. Dies beinhaltet auch die mögliche Überprägung der ursprünglichen Faktorenkonstellation zur Migrationsentscheidung.

Die Bedeutung von Vorbildern: Im Zusammenhang mit sogenannten Kettenmigrationen (vgl. z. B. Haug 2000) ist auf die Funktion von Vorbildern für die eigene Migrationsentscheidung aufmerksam gemacht worden. Jenseits dessen, was bereits für die Verhandlung von Migration in persönlichen sozialen Netzwerken gesagt wurde, steht hier die Rolle der Narrationen – des Wissens über jemanden, der Kolportage, des Gerüchts, der Vermutung – im Zentrum, die zur Basis der eigenen Entscheidung(sbegründung) werden können.

Das Sprechen über Migration: Wenn auf diese Weise dem (alltäglichen) Sprechen über und Wahrnehmen von Migration eine zentrale Rolle für Entscheidungshandeln eingeräumt wird, dann kann dies nicht ohne Konsequenzen für die Art und Weise bleiben, wie Migrationsforscher Migration in ihren jeweiligen Untersuchungsmethoden thematisieren. Zu erwarten ist eine längere Begleitung und Beobachtung der Interaktionen des Individuums, der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, welches durchaus persönlichere Entscheidungsfaktoren zu Tage fördern kann (z. B. das Verhältnis zu einer bestimmten Person, tiefgreifende Erlebnisse an bestimmten Orten, soziale Ausgrenzungen). Diese Verfahren sind zwar zeitintensiver, jedoch geeigneter, um konkrete Entscheidungskonstellationen herauszuarbeiten.

Ein reflexives Beforschen von Migration: Über Migration zu forschen setzt – wie die Beforschung aller sozialen Zusammenhänge – Selbstreflexivität von Wissenschaft voraus, nicht zuletzt, weil die beforschten Personen Erwartungen an sich wahrnehmen und sich unter Umständen darum bemühen, vermeintlich erwartete rationale Erklärungsmuster aus Wissenschaft und Politik auf sich selbst anzuwenden. Gleichzeitig werden aber Migrationsforscher als eigene Handlungsinstanz angesprochen – und zwar dann, wenn Erwartungen an sie artikuliert werden, bestimmte Beobachtungen doch an bestimmte Stellen weiterzuleiten, um die Dinge zu beeinflussen.

5 Fazit: Zur De-Zentrierung des migrierenden Subjekts

In unserem Fazit möchten wir, beginnend mit einem Widerspruch, drei Punkte hervorheben: Einerseits scheint es im Sinne eines Verstehens notwendig, die Blackbox des migrierenden Subjekts durch Modellierungen von Migrationsentscheidungen zu öffnen (wie z. B. bei Beetz 2006) und insbesondere auf Ex-ante-Pauschalierungen und Kausalitätsannahmen zu verzichten. Andererseits scheint es methodisch unmöglich, die individuelle und situative Gewichtung bestimmter als relevant erkannter Faktoren im Kontext einer konkreten Wanderungsentscheidung, die zudem noch durch Looping-Effekte gebrochen wird, nachzuvollziehen. Darüber hinaus ist ein solcher durchrationalisierter Ansatz individueller Entscheidungsfindung auch theoretisch problematisch. Die Vorstellung eines Subjekts, das über klare Prinzipien verfügt, stets in nachvollziehbaren Mechanismen handelt und sich (seiner selbst) bewusst und rational verhält – das zentrierte Subjekt –, gilt vielfach als theoretisch überholt, darauf basierende modelltheoretische Annahmen als obsolet. Dennoch sind modelltheoretische Annahmen praktisch relevant.

Denn zweitens basieren politisch-administrative Praktiken wesentlich auf Annahmen über die Gründe und Mechanismen von Migration sowie auf der Annahme bestimmter kausaler Zusammenhänge, die beeinflusst (oder eben nicht beeinflusst) werden können. Die Annahme von Migrationsmechaniken ist also essenziell für die Möglichkeit (regional-)politischen Kontrollierens und Steuerns. Eine Möglichkeit, dem obigen Widerspruch näher zu kommen, könnte darin bestehen, die dem (regional-) politischen Steuerungsimpuls – der im Fall der Migration ja ein biopolitischer Steuerungsimpuls ist (vgl. z. B. Painter 2012) – inhärente Subjektkonstruktion zu rekonstruieren. Damit würde die Perspektive vom Individuum verschoben auf das diskursiv (politisch-administrativ-programmatisch) geformte Subjekt. Der Fokus liegt damit auf den praktisch vollzogenen Abstraktions- und damit Konstruktionsprozessen zur Reduktion der komplexen Natur menschlicher Subjekte, die die soziale Wirklichkeit in vereinfachender Weise nachzubilden versuchen und nicht fähig sind, auf individueller Ebene Migrationsentscheidungen in ihrer Komplexität vollständig nachzuvollziehen, zu erklären bzw. gesichert vorherzusagen.

Folglich muss drittens der Widerspruch zwischen einer theoretischen Subjektkonzeption, die die Unabgeschlossenheit und Dynamik eines permanenten Werdens von Subjekten berücksichtigt (z. B. Butler 2001; Butler 2006; Laclau/Mouffe 2006), und dem praktisch relevanten Menschenbild eines rationalen Akteurs im Rahmen (finanz-)politischen Agierens von der Migrationsforschung immer mit reflektiert werden. Daraus ergeben sich unter anderem analytische Unsicherheiten für die Bestimmung von Handlungsgründen und deren Verallgemeinerung. Damit wird aber nicht automatisch jede Analyse und jede Verallgemeinerung obsolet. Vielmehr sind Fragen erforderlich, die auf die individuell spezifischen Situationen von Subjekten fokussieren. Gleichzeitig erfordert es Analysen, wie Subjektivität als Verhaltenserwartung in komplexen Handlungszusammenhängen von den Beteiligten konstruiert wird. Vagheiten und Unsicherheiten, mit denen alle Beteiligten im Migrationsgeschehen notwendigerweise umgehen müssen, sollte nicht durch modelltheoretische Annahmen kaschiert, sondern produktiv aufgegriffen werden, indem untersucht wird, wie mit diesen Vagheiten in Situationen umgegangen wird, in denen Entscheidungen aufgrund generalisierter Annahmen getroffen werden (müssen), wie Generalisierungen zu Stande kommen (und welche Folgen sie haben) und in welchen Situationen und unter welchen Bedingungen konkrete Migrationsentscheidungen getroffen werden.