1 Einleitung

Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Wanderungsmustern von jungen Frauen und Männern beeinflussen die demographischen Strukturen Europas. Insbesondere in dünn besiedelten, ländlich-peripheren Gebieten und schrumpfenden Wirtschaftsräumen liegt der Männeranteil in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen häufig erheblich über dem EU-Durchschnitt von 97 Frauen pro 100 Männer. In urbanen Zentren und prosperierenden Verdichtungsräumen sind dagegen häufig die jungen Frauen in der Überzahl (vgl. ESPON/IfL 2013a). Vor allem der ländliche Raum Ostdeutschlands ist im Zuge der intensiven Wanderungsbewegungen nach der deutschen Wiedervereinigung von einem auffälligen „Frauenmangel“ betroffen. In der betrachteten Altersgruppe kommen in manchen Landkreisen nur 80 Frauen auf 100 Männer. Verzerrte Geschlechterproportionen in diesem Ausmaß sind auch im europäischen Vergleich eine Besonderheit (vgl. Leibert/Wiest 2010; Leibert/Wiest 2011).Footnote 1 Ein Frauendefizit in den jüngeren Altersgruppen ist in der Regel eine spezifische Facette einer generellen sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Schrumpfungsproblematik, die mit negativen Auswirkungen auf das regionale Image und die Identifikation mit der Region verbunden ist. Ein unterdurchschnittlicher Anteil junger Frauen an der Bevölkerung kann die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen und zu einem Fachkräftemangel in traditionellen „Frauenberufen“ im Dienstleistungsbereich führen. Neben einer Beschleunigung demographischer Schrumpfungs- und Alterungsprozesse ist außerdem eine Ausdünnung sozialer Netze und eine Verarmung des öffentlichen Lebens in ländlichen Gemeinden zu befürchten.

Hauptanliegen dieses Beitrags ist es, sich den gesellschaftlichen Wirklichkeiten hinter den beschriebenen Wanderungsmustern und Geschlechterproportionen anzunähern, zu zeigen, welcher Logik Mobilitätsbiographien im ländlichen Ostdeutschland folgen, und dieses Wissen im Sinne von Handlungskonzepten für den ländlichen Raum nutzbar zu machen. Auf der Grundlage einer Analyse der Geschlechterproportionen in der Altersgruppe 18 bis 35 Jahre wird im Folgenden zunächst aufgezeigt, welche demographischen Besonderheiten und Regelhaftigkeiten das Beispiel Sachsen-Anhalt im europäischen und nationalen Vergleich erkennen lässt. Im Anschluss werden der Transformationsprozess, die regionale Wirtschaftsstruktur und die Herausbildung einer Abwanderungskultur als wesentliche Ursachen für den Frauenmangel in Sachsen-Anhalt beleuchtet. Die Frage, welche soziokulturellen und ökonomischen Voraussetzungen gegeben sein müssten, um ländliche Räume für junge Frauen (und Männer) attraktiv zu machen, wird auf der Grundlage eines integrierten und zielgruppenorientierten Ansatzes diskutiert. Die dargestellten Ergebnisse beruhen auf dem ESPON-Projekt „Selective migration and unbalanced sex ratio structures in rural regions“ (SEMIGRA).Footnote 2 In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der regionalen Fallstudie Sachsen-Anhalt.

2 Unausgewogene Geschlechterproportionen: Eine Annäherung an ein demographisches Phänomen

Da biologisch bedingt etwas mehr Jungen als Mädchen geboren werden, entsprechen leichte Männerüberschüsse bei den jungen Erwachsenen einer statistischen Normalverteilung. Die in Deutschland und Europa zum Teil sehr ausgeprägten regionalen Unterschiede im Verhältnis von Frauen und Männern im jüngeren Erwachsenenalter sind dagegen eine Folge geschlechtsspezifischer Mobilitätsmuster. In der internationalen Literatur werden in diesem Zusammenhang die wachsende Attraktivität städtischer Arbeits- und Ausbildungsmärkte im Zuge des Übergangs zu einer Informations- und Wissensgesellschaft sowie die höheren Qualifikationen und Studierabsichten junger Frauen hervorgehoben (Thissen/Droogleever Fortuijn/Strijker et al. 2010: 434). Urbane Arbeitsmarktstrukturen bieten Frauen häufig vorteilhaftere Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch die Verbindung von Beruf, Familie und privaten Interessen lässt sich oft leichter in den Städten verwirklichen (Geppert/Gornig 2010: 6). Ländliche Gesellschaften gelten demgegenüber eher als männerdominiert. Das heißt, dass sowohl die Arbeitsmarktstrukturen und Rollenverteilung innerhalb der Familie als auch das öffentliche Leben, die Kommunalpolitik und die Vereinskultur stärker auf traditionell männliche Rollenbilder und Bedürfnisse ausgerichtet sind (Oedl-Wieser 2007: 286; Seiser 2009: 158 ff.). Frauen finden in diesen Kontexten zum Teil weniger Spielraum, um Lebenspläne jenseits althergebrachter Geschlechterrollenbilder zu verwirklichen (Dahlström 1996: 262). Dass diese in der Fachliteratur diskutierten Thesen im Einzelfall jedoch nur eine bedingte Erklärungskraft haben, lässt das hier betrachtete Beispiel Sachsen-Anhalt erkennen. Die Teilhabe an bezahlter Erwerbsarbeit kann in diesem Zusammenhang als ein Indikator herangezogen werden, um vorherrschende Geschlechterverhältnisse zu beschreiben. Die – verglichen mit westdeutschen Strukturen – starke weibliche Erwerbsbeteiligung im ländlichen Raum Ostdeutschlands bzw. Sachsen-Anhalts ist auch auf die Frauen- und Familienpolitik der DDR-Zeit zurückzuführen und impliziert ein relativ egalitäres Familienmodell. Auch im Hinblick auf die Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen sind – vor allem im Vergleich mit westdeutschen Regionen – Strukturen vorhanden, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eher begünstigen. Vor diesem Hintergrund drängt sich im besonderen Maße die Frage auf, warum der Frauenmangel in den ostdeutschen Bundesländern so stark ausgeprägt ist. Die Analyse der Geschlechterproportionen im europäischen Kontext und differenziert nach Lebensphasen soll im Folgenden dazu beitragen, die Besonderheiten und die Struktur des Frauenmangels in Sachsen-Anhalt genauer zu spezifizieren.

2.1 Geschlechtsselektive Wanderungsmuster und Lebensphasen: Sachsen-Anhalt im europäischen Vergleich

Betrachtet man die Geschlechterproportionen nach unterschiedlichen Altersgruppen, zeigen sich auf regionaler Ebene charakteristische Unterschiede in der Verteilung der Frauen- und Männeranteile (vgl. Abb. 1a und b). Diese Verteilung ist darauf zurückzuführen, dass die Wanderungsbiographien im jungen Erwachsenenalter in unmittelbarem Zusammenhang mit genderspezifischen Bildungs-, Berufs- und Familienkarrieren stehen. In der Altersgruppe 20 bis 24 Jahre beeinflussen vor allem die Ausbildung und der Einstieg ins Berufsleben das Wanderungsverhalten. Unausgewogene Geschlechterproportionen in dieser Altersgruppe spiegeln sowohl regionale Disparitäten auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssektor als auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bildungs- und Erwerbsorientierung wider. So nehmen junge Frauen fast überall in Europa häufiger ein Studium auf als gleichaltrige Männer. Gleichzeitig haben sie oft größere Schwierigkeiten, auf ländlichen Arbeitsmärkten Fuß zu fassen (Machold/Dax/Meisinger 2005: 189 ff.). Dies äußert sich in den Städten tendenziell in erhöhten Frauenanteilen, in ländlichen Räumen herrschen dagegen eher Männerüberschüsse vor (vgl. Abb. 1a). Im europäischen Vergleich fällt insbesondere das stark ausgeprägte Frauendefizit in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands auf.

Abb. 1
figure 1

a Geschlechterproportionen in der Altersgruppe 20 bis 24 Jahre. b Geschlechterproportionen in der Altersgruppe 30 bis 34 Jahre. (Quelle: ESPON/IfL (2013a: 26); ESPON/IfL (2013a: 42))

In der Altersgruppe 30 bis 34 Jahre gleichen sich die Geschlechterungleichgewichte zwischen höheren Frauenanteilen in den Städten und höheren Männeranteilen in ländlichen Räumen zumeist wieder aus (vgl. Abb. 1b). Dieses Muster lässt sich mit veränderten Wohnpräferenzen im Lebenszyklus erklären: Mit dem Leben auf dem Land werden häufig traditionelle Familienwerte wie die Vorstellung von Ruhe, Sicherheit und Nachbarschaftlichkeit verbunden (Pettersson 2001: 162 f.; Leyshon 2008: 8 f.) – Aspekte, die von (potenziellen) Eltern als Standortvorteile wahrgenommen werden können. Daneben gewinnen in dieser Altersgruppe, oft im Kontext der Familiengründung, neben der Arbeitsplatzsituation auch soziale Beziehungen und familiäre Netzwerke an Bedeutung. Dadurch kann eine Rückkehr der Frauen in ländliche Herkunftsräume zum Teil erklärt werden. Vielfach wird der Wohnstandort in diesem Lebensabschnitt jedoch nicht in die Heimatregion, sondern in die suburbanen Räume verlegt, in denen die gut bezahlten städtischen Arbeitsplätze weiterhin gut erreichbar sind (Hjort/Malmberg 2006: 70). Maßgeblich für den Ausgleich der Geschlechterungleichgewichte in der Familiengründungsphase ist allerdings auch ein günstiges Zusammenspiel auf dem Arbeitsmarkt für junge Frauen und Männer. In vielen peripheren Räumen mit unvorteilhafteren Wirtschaftsstrukturen, wie etwa im ländlichen Raum Sachsen-Anhalts, bleibt daher der Frauenmangel auch bei den 30- bis 34-Jährigen weiter bestehen.

Die europaweite Analyse demographischer Daten zeigt, dass die unausgewogenen Geschlechterproportionen in Sachsen-Anhalt in den betrachteten Altersgruppen sowohl auf eine überdurchschnittlich starke Abwanderung als auch auf eine unterdurchschnittliche Rück- und Zuwanderung junger Frauen zurückzuführen sind. Arbeitsmarktstrukturen, aber auch das ausgeprägte Einkommensgefälle gegenüber Westdeutschland spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Dass ökonomische Faktoren allein jedoch noch keine hinreichende Erklärung für das Entstehen des ausgeprägten Männerüberschusses in Sachen-Anhalt sein können, verdeutlicht wiederum der Blick auf andere europäische Länder. So sind zum Beispiel innerhalb Italiens und der Slowakei trotz massiver wirtschaftlicher Disparitäten keine ausgeprägten regionalen Ungleichgewichte der Geschlechterproportionen zu identifizieren (vgl. Abb. 1a und b). Der europäische Vergleich macht in diesem Zusammenhang vielmehr deutlich, dass unausgewogene Geschlechterproportionen das Ergebnis eines spezifischen Zusammenspiels vielfältiger sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Einflussgrößen sind, die einen differenzierten Blick auf nationale Rahmenbedingungen und territoriale Besonderheiten erforderlich machen. Vor diesem Hintergrund soll das Fallbeispiel Sachsen-Anhalt einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.

2.2 Differenzierte demographische Problemlagen innerhalb Sachsen-Anhalts

Die in den ostdeutschen Bundesländern zu beobachtenden Frauendefizite sind historisch ein relativ junges Phänomen. So lag auch in Sachsen-Anhalt unmittelbar nach der Wiedervereinigung die Zahl der Frauen pro 100 Männer in den meisten ländlichen Regionen in der Altersgruppe 20 bis 29 Jahre nur leicht unter dem ‚natürlichen Mittelwert‘ von 97.Footnote 3 Bis 2010 hat sich dieses Bild dramatisch gewandelt. Im Zuge der intensiven Wanderungsbewegungen der 1990er und frühen 2000er Jahre entstanden durch die überproportionale Abwanderung junger Frauen in allen Landkreisen ausgeprägte ‚Männerüberschüsse‘. Betrachtet man neben den Geschlechterproportionen auch die Altersstrukturen und den Wanderungssaldo, werden kleinräumig demographische Problemlagen erkennbar, die auf unterschiedliche bevölkerungspolitische Herausforderungen verweisen (vgl. Abb. 2 und Tab. 1). Zwar ist Sachsen-Anhalt im bundesweiten Vergleich generell von ausgeprägten Abwanderungs-, Schrumpfungs- und Überalterungstendenzen sowie einen Frauenmangel geprägt. Die Kombination von Frauendefizit, Abwanderung junger Erwachsener und überdurchschnittlichen Bevölkerungsrückgängen ist jedoch insbesondere für Teilräume charakteristisch, die durch eine ungünstige Erreichbarkeit gekennzeichnet sind, wie z. B. der Nordosten des Kreises Stendal, oder für Regionen mit besonders ausgeprägten wirtschaftlichen Strukturproblemen, wie etwa im Mansfelder Land (vgl. Abb. 2)Footnote 4. In den Mittel- und Oberzentren ist die demographische Situation dagegen tendenziell günstiger.

Abb. 2
figure 2

Demographische Problemlagen in Sachsen-Anhalt. (Quelle: Leibert (2013: 40))

Tab. 1 Altersspezifische Wanderungssalden pro 1.000 Einwohner in Sachsen-Anhalt nach Kreisen (2010). (Quelle: Leibert (2013: 24); verändert)

Betrachtet man die Geschlechtsselektivität der Wanderung wiederum nach Altersgruppen, zeigt sich, dass in der Gruppe der 18- bis unter 25-Jährigen nur die beiden größeren Hochschulstädte Halle und Magdeburg Wanderungsgewinne aufweisen. Auf der anderen Seite wandern in dieser Altersgruppe insbesondere in ländlich-peripheren Kreisen (z. B. Altmarkkreis Salzwedel) und strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit (z. B. Kreis Mansfeld-Südharz) besonders viele junge Frauen ab. In der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ist bei den Frauen dagegen in keinem Kreis Sachsen-Anhalts ein positiver Wanderungssaldo erkennbar. Auch aus den größeren städtischen Zentren wandern nun offensichtlich wieder viele Frauen ab. Dieses Phänomen ist typisch für Hochschulstädte mit einem hohen Frauenanteil unter den Studierenden, da die lokalen Arbeitsmärkte nur einen Teil der Absolventinnen nach Abschluss ihres Studiums oder ihrer Ausbildung aufnehmen können. Im Gegensatz zur Gruppe der unter 25-Jährigen ist nun aber in vielen ländlichen Kreisen die Abwanderung bei den Männern ausgeprägter als bei den Frauen (vgl. Tab. 1). Für diese Entwicklung sind zwei Erklärungen denkbar: Zum einen ist durch die starke weibliche Migration in der jüngeren Altersgruppe bereits ein Großteil der mobilitätsbereiten Frauen weggezogen, zum anderen haben die Männer Berufserfahrung gesammelt und sind damit für Arbeitgeber außerhalb Sachsen-Anhalts, die höhere Löhne zahlen und bessere Karrieremöglichkeiten bieten, attraktiv.

Um sich den gesellschaftlichen Wirklichkeiten hinter den beschriebenen Wanderungsmustern anzunähern, stehen im Folgenden die Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Abwanderungsgemeinden Sachsen-Anhalts im Mittelpunkt der Betrachtung.

3 Erklärungsansätze für den Frauenmangel in Sachsen-Anhalt

Ein zentrales Anliegen des ESPON-Projekts SEMIGRA war es, die Sichtweise junger Frauen ausdrücklich in Regionalentwicklungsstrategien einzubeziehen. Um das Spektrum unterschiedlicher Handlungs- und Entscheidungssituationen junger Frauen in Abwanderungsgebieten zu thematisieren und zentrale Phasen im Lebenslauf zu erfassen, die mit spezifischen Wanderungsmotiven in Zusammenhang stehen können, kamen in den Fallstudienregionen ein weitgehend einheitlicher und international vergleichbarer standardisierter Fragebogen (Schülerinnen- und Schülerbefragung) sowie qualitative Gesprächsleitfäden (Tiefen- und Experteninterviews) zum EinsatzFootnote 5. Die empirischen Erhebungen stellen sich für die Fallstudienregion Sachsen-Anhalt wie folgt dar:

Eine Befragung von Schülerinnen und Schülern in ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts zielte darauf ab, geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich Abwanderungsbereitschaft, Zukunftsplänen und der Einstellung zum Leben im ländlichen Raum bereits in einer sehr frühen Lebensphase zu erfassen und zu quantifizieren. Insgesamt nahmen im Sommer 2011 499 Schülerinnen und Schüler an je neun Sekundarschulen (Klassenstufen 9/10) und Gymnasien (Klassenstufe 11) an der Befragung teil.

Um mehr über die sozialen und biographischen Kontexte zu erfahren, in denen Wanderungsentscheidungen im jungen Erwachsenenalter getroffen werden, wurden – im Sinn eines qualitativen Forschungsverständnisses – Tiefeninterviews mit 16 jungen Frauen und vier jungen Männern geführt, die aus ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts stammen. Im Mittelpunkt der Gespräche standen unterschiedliche Lebenssituationen wie Sesshaftigkeit, Wegzugsbereitschaft, Abwanderung sowie die Rückkehr in die Heimatregion.

Neben der Perspektive der betroffenen jungen Frauen und Männer geben 13 Gespräche mit Experten aus den Bereichen Politik, Bildungswesen und Arbeitsmarkt Aufschluss über die Ursachen und die Wahrnehmung des Frauenmangels in Sachsen-Anhalt.

Auf der Basis dieser qualitativen und quantitativen Erhebungen wird im Folgenden aufgezeigt, wie sich die gesellschaftlichen Nachwirkungen der Transformationskrise durch die Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern, der Übergang von fordistischen zu postfordistischen Arbeitsmarktstrukturen und die Herausbildung einer Abwanderungskultur zu einem spezifischen demographischen Entwicklungspfad verdichtet haben, der durch einen ausgeprägten Frauenmangel gekennzeichnet ist. Während zur Erklärung der Migrationsentscheidungen im ländlichen Sachsen-Anhalt vor allem auf die Ergebnisse der Schülerbefragung und der Tiefeninterviews mit jungen Frauen zurückgegriffen wird, sind die Erkenntnisse aus den Experteninterviews zum Teil in die dargestellten Strategien zum Umgang mit selektiven Wanderungsprozessen eingeflossen.

3.1 Regionale Arbeitsmarktstrukturen und weibliche Erwerbsorientierung

Untersuchungen zur Abwanderung junger Frauen aus Ostdeutschland verweisen in erster Linie auf die geringeren Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen, insbesondere für Hochqualifizierte. So hat Sachsen-Anhalt im bundesdeutschen Vergleich über viele Jahre eine der höchsten Arbeitslosenquoten (Juni 2013: Sachsen-Anhalt: 10,7 %, Westdeutschland: 5,8 %, Ostdeutschland: 9,9 %Footnote 6). Vor diesem Hintergrund ist eine wichtige Ursache für die hohe Mobilität in den besonderen soziodemographischen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes in den neuen Ländern in den Jahren nach der Wende zu sehen. Ein ‚Geburtenberg‘ – die geburtenstarken Jahrgänge der 1970er und 1980er Jahre – traf auf ein ‚Beschäftigungstal‘, das durch den massiven Arbeitsplatzabbau im Zuge des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft entstanden war. Da die vorhandenen Arbeitsplätze durch die Elterngeneration besetzt waren, war der Generationenaustausch auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt über Jahre blockiert. Vielen jungen Menschen blieb in dieser Situation nur die Wahl zwischen Abwanderung und Arbeitslosigkeit. Dies galt und gilt vor allem für junge Frauen, die bis heute nicht nur geringere Chancen haben, vom Ausbildungsbetrieb übernommen zu werden, sondern auch häufig unattraktivere Beschäftigungsverhältnisse angeboten bekommen (Ketzmerick 2009: 65 ff.). Eine weitere Erklärung für die stärkere weibliche Abwanderung kann auch in der beruflichen Orientierung der Frauen begründet liegen. So streben junge Frauen in Sachsen-Anhalt heute – anders als zu DDR-Zeiten – häufig typische „Frauenberufe” im Dienstleistungssektor an. Tabelle 2 Footnote 7 zeigt darüber hinaus für den Ausbildungsbereich, dass das Berufswahlverhalten der Mädchen nur geringe regionale Unterschiede aufweist, während die männlichen Schulabgänger ihre Berufswünsche stärker an die regionale Wirtschaftsstruktur anpassen. Die jungen Männer binden sich folglich durch ihre Ausbildungswahl tendenziell stärker an den regionalen Arbeitsmarkt als die jungen Frauen, die vorrangig Berufe lernen, mit denen sie prinzipiell bundesweit, insbesondere aber in den Ballungsräumen, einsatzfähig sind. Schultz (2008: 54 f.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei jungen Frauen im Gegensatz zu ihren männlichen Altersgenossen ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Schulabschluss und der Abwanderung aus Sachsen-Anhalt besteht. Bei den Männern hat die Abwanderung dagegen eher den Charakter einer (verzögerten) Berufseinstiegswanderung, der vielfach eine längere Phase des Fernpendelns vorausgeht.

Tab. 2 Rangliste der Ausbildungsberufe 2010/2011 nach Geschlecht und Arbeitsagenturbezirken (Vollerhebung der abgeschlossenen Ausbildungsverträge). (Quelle: ESPON/IfL (2013b: 53), verändert)

Im Unterschied zur Annäherung weiblicher Berufswünsche an westdeutsche Muster zeigt sich hinsichtlich der traditionell hohen Erwerbsbeteiligung ostdeutscher Frauen eine auffällige Persistenz. So scheinen sich die gesellschaftlichen Erwartungen an die weibliche Berufstätigkeit in der DDR, die sich charakteristischerweise durch alle Berufsschichten zog, bis in die Gegenwart fortzusetzen. Auf dem Arbeitsmarkt liegt die weibliche Partizipationsquote in den neuen Bundesländern trotz hoher Arbeitslosigkeit weiterhin deutlich über dem westdeutschen Niveau (Geyer/Steiner 2010: 170). Die berufliche Orientierung der Frauen und die damit im Zusammenhang stehende Bereitschaft zur arbeitsplatzbezogenen Migration spiegelt sich unter anderem in der Tatsache wider, dass die Wanderungssalden bei den jungen Frauen in Sachsen-Anhalt trotz einer gewissen Entspannung bis heute negativer sind als in den strukturschwachen ländlichen Regionen Westdeutschlands. Darüber hinaus beeinflussen die kollektiven Erfahrungen des ökonomischen Umbruchs und der Massenarbeitslosigkeit im Zuge der Wiedervereinigung bis heute im starken Maß die Wanderungsentscheidungen junger Menschen im ländlichen Sachsen-Anhalt.

3.2 Wahrgenommene Berufschancen

Dass die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage durch die Bewohner die Haupttriebfeder für die Abwanderung junger Erwachsener aus ländlichen Regionen ist (Kirkpatrick Johnson/Elder/Stern 2005: 121; Chilla/Morhardt/Braun 2008: 266), findet ihren Niederschlag sehr deutlich in den Ergebnissen der Schülerbefragung und in den Tiefeninterviews. Wie das folgende Zitat beispielhaft illustrieren kann, spielen Lohnunterschiede und bessere Arbeitsmöglichkeiten in den alten Ländern und den größeren ostdeutschen Städten in den Gesprächen mit jungen Frauen eine zentrale Rolle, um die eigene Wanderungsentscheidung zu beurteilen:

Also das Gehalt ist glaube ich ein großes Ding. Warum soll ich mich unter Wert verkaufen, wenn ich in München wie gesagt 1.000 Euro mehr bekomme. Dann natürlich die Anzahl an adäquaten Stellen, im ländlichen Bereich sind natürlich nicht so viele Firmen ansässig wie in irgendwelchen Ballungsgebieten. (Remigrantin, Wittenberg)

Die Einkommensunterschiede werden aber in der Regel kaum zu regionalen Lebenshaltungskosten ins Verhältnis gesetzt. Die ökonomischen Vorteile durch den Wegzug stellen sich somit oft umfangreicher dar, als sie es dann ‚netto‘ tatsächlich sind. Auch die Bewertung von Statements, die den Schülerinnen und Schülern im Rahmen der standardisierten Befragung vorgelegt wurden, zeigt die auffällig pessimistische Beurteilung der regionalen Arbeitsmarktchancen (vgl. Abb. 3). Das Gefühl, keine Zukunftsperspektive zu haben und zur Abwanderung gezwungen zu sein, wenn man beruflich erfolgreich sein will, ist sehr weit verbreitet (Statements a, b, d). Viele der befragten Schülerinnen und Schüler glauben, dass es sehr schwierig ist, in ihrer Heimatregion einen Job zu finden und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Mädchen sind in diesem Zusammenhang generell etwas kritischer und zeigen auch eine größere Bereitschaft, der Herkunftsregion den Rücken zu kehren. Im Vergleich zu ihren Klassenkameradinnen scheinen die Jungen dagegen etwas stärker am Wohnort verwurzelt zu sein (Statements c, e).

Abb. 3
figure 3

Schülerbefragung 2011: Bewertung von Aussagen über die Heimatregion. (Quelle: Eigene Erhebung 2011)

Die pessimistische Haltung bezüglich zukünftiger Berufschancen ist zum Teil auf die Tatsache zurückzuführen, dass viele Jugendliche in der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis mit (Langzeit-)Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert waren oder sind. Bleiben ist daher häufig mit der Befürchtung von sozialem Abstieg und dauerhaftem Ausschluss vom Arbeitsmarkt verbunden (Beetz 2009: 148 ff.; Rolfes/Mohring 2009: 85 ff.). Ein Teil der Jugendlichen reagiert auf die als problematisch erlebte Lage auf dem Arbeitsmarkt mit verstärkten Investitionen in Bildung und berufliche Qualifikation, ein anderer dagegen mit Resignation und Bildungsverweigerung. Oft fehlen den Jugendlichen jedoch hinreichende Informationen über die beruflichen Möglichkeiten vor Ort. So wird die regionale Wirtschaftskraft in Sachsen-Anhalt, wie in den Experteninterviews betont wurde, mittlerweile durch die jahrelange Abwanderung von einem Nachwuchs- und Fachkräftemangel bedroht. Die Frage, inwieweit Schulen im ländlichen Raum Jugendliche eher auf städtische Arbeitsmarktstrukturen vorbereiten, muss in diesem Kontext als mögliche Mitursache für die Herausbildung einer Abwanderungskultur in den Blick genommen werden. So bezieht sich die These eines „learning to leave“ darauf, dass die Verwertbarkeit des schulisch vermittelten Wissens in ländlichen Arbeitskontexten begrenzt ist und Schülerinnen und Schüler vor diesem Hintergrund verinnerlichen, dass Bildungserfolg mit Abwanderung gleichzusetzen ist (Bye 2009: 279; Corbett 2009: 1 ff.). Auf der anderen Seite könnte auch ein Festhalten der Bildungs- und Arbeitsmarktinstitutionen an den überholten Erfordernissen und – tendenziell bildungsfernen – Rollenbildern der Industriegesellschaft als Grund für eine strukturelle Benachteiligung der männlichen Jugendlichen im Sinne eines „learning to stay“ verstanden werden (Kröhnert 2009: 109 f.). Im Rahmen der Schüler- und Expertenbefragungen konnte diese These für Sachsen-Anhalt jedoch nicht bestätigt werden.

3.3 Entwicklung einer Abwanderungskultur

Neben den tatsächlichen Strukturen des Arbeitsmarktes und den wahrgenommenen Berufsaussichten lassen sowohl die alltagsweltlichen Diskurse vor Ort als auch die Berichterstattung in den Medien erkennen, dass dem ländlichen Raum in Sachsen-Anhalt häufig ganz allgemein die Zukunftsfähigkeit abgesprochen wird. In diesem Zusammenhang wird der ‚ostdeutsche Frauenmangel‘ vor allem von der überregionalen Presse als Ausdruck fehlender regionaler Zukunftschancen thematisiert (Rolfes/Mohring 2009: 78). Unter plakativen Schlagzeilen wie „Die klugen Mädchen nehmen Reißaus“ (Mallwitz 2003) oder „Männer allein zu Hause“ (Sylvester 2007) fällt in der Regel eine besonders negative Darstellung der zurückbleibenden Bevölkerungsgruppen auf. Insbesondere die jungen Männer werden als antriebslose Bildungsversager und Verlierer dargestellt. Die Konstruktion entsprechender Negativbilder wirkt sich besonders ungünstig auf regionale und lokale Image- und Identitätsbildungsprozess aus. Neben derartigen Fremdzuschreibungen durch die Medien kommt der Alltagskommunikation über lokale bzw. regionale Zukunftschancen und Lebenssituationen im Kontext von Wanderungsentscheidungen wohl eine noch entscheidendere Bedeutung zu. Die Untersuchungsergebnisse lassen erkennen, dass vor allem der Einfluss der Eltern, die den Transformationsprozess miterlebt haben, ausschlaggebend ist. Auch die Schulart spielt eine wichtige Rolle. Besuchen die Kinder das Gymnasium, raten ihnen die Eltern mehrheitlich, nach dem Schulabschluss aus ihren ländlichen Heimatgemeinden wegzuziehen (vgl. Abb. 4a). Bei Eltern von Sekundarschülern zeigen sich dagegen geschlechtsspezifische Unterschiede. Töchtern wird eher die Abwanderung empfohlen, während einem relativ hohen Anteil der männlichen Sekundarschüler von den Eltern zum Bleiben geraten wird. Dass die Handlungsoptionen nach dem Schulabschluss auch von Seiten der Schulen thematisiert werden, bestätigte insgesamt nur etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler. Bei der Abwanderungsempfehlung lassen sich hier keine geschlechts- und schulartspezifischen Unterschiede feststellen. Es fällt jedoch auf, dass Gymnasiastinnen seltener von ihren Lehrern geraten wird zu bleiben als ihren männlichen Klassenkameraden und den Sekundarschülerinnen und -schülern (vgl. Abb. 4b).

Abb. 4
figure 4

a, b Schülerbefragung 2011: Wozu raten Dir Deine Eltern und Deine Lehrer nach dem Schulabschluss? (Quelle: Eigene Erhebung 2011)

Dass das Thema „Abwanderung“ für die Jugendlichen alltäglich ist, spiegelt sich auch darin wider, dass knapp 40 % der Befragten angeben, dass enge Freunde oder nahe Verwandte in ihrem Alter die Region bereits verlassen haben. Als Gründe für den Wegzug werden überwiegend Arbeit und berufliche Perspektiven (44 %) sowie Ausbildung und Studium (42 %) angeführt. Hier ist davon auszugehen, dass die Erfahrungen der Abgewanderten die Entscheidungen der Zurückgebliebenen in der Ausbildungs- und Berufseinstiegsphase beeinflussen. Die Frage, ob sie selbst planen, nach dem Schulabschluss aus ihrem Heimatort wegzuziehen, konnte oder wollte rund ein Drittel der Schüler und Schülerinnen (noch) nicht beantworten. Von denjenigen, die sich bereits eine Meinung gebildet hatten, planen drei Viertel abzuwandern. Dabei tendieren die Jungen mehrheitlich dazu, innerhalb des Landes Sachsen-Anhalt umzuziehen, während die Mädchen eine stärkere Bereitschaft zeigen, in andere Bundesländer oder ins Ausland zu gehen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der das Thema Abwanderung kommuniziert und gelebt wird, lässt dabei soziale Strukturen erkennen, in denen das Verlassen der Heimatregion ein Bestandteil der Normalbiographie im jungen Erwachsenenalter geworden ist (Horváth 2008: 773 ff.). Migration wird nicht nur akzeptiert, sondern von jungen Menschen gesellschaftlich geradezu erwartet. Wenn ein Verbleib in der Heimatregion von jungen Menschen überhaupt nicht mehr in Erwägung gezogen wird, kann man davon ausgehen, dass sich eine ‚Abwanderungskultur‘ herausgebildet hat, die die zukünftige demographische, ökonomische und soziale Entwicklung der betreffenden Räume entscheidend beeinflusst (Beetz 2009: 148 ff.; Rolfes/Mohring 2009: 85 ff.).

4 Zielgruppen- und querschnittsorientierte Strategien für die Regionalentwicklung Sachsen-Anhalts

Strategien zum Umgang mit selektiven Abwanderungsprozessen sollten eine Kombination von Maßnahmenbündeln darstellen, die einerseits den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Zielgruppen Rechnung tragen und andererseits relevante Handlungsfelder im Sinn eines querschnittsorientierten Ansatzes in den Blick nehmen. Einige wesentliche Elemente eines entsprechenden integrierten Ansatzes, der sowohl auf individuelle Zielgruppen als auch auf unterschiedliche Politikfelder abzielt, werden im Folgenden vorgestellt.

4.1 Die Heterogenität von Migrationsentscheidungen und Wanderungsbiographien

Ein wesentliches Interesse der im Rahmen des Projekts durchgeführten Analysen war die Auseinandersetzung mit den Erfolgsaussichten von demographischen Strategien, die darauf abzielen, einerseits alters- und geschlechtsselektive Abwanderungen zu vermindern und andererseits Zu- und Rückwanderung zu fördern. Letztendlich gilt es in diesem Zusammenhang, eine Vielzahl zum Teil sehr individueller Handlungssituationen von Wegzugsbereitschaft über Sesshaftigkeit bis hin zu potenziellen und tatsächlichen Rück- und Zuwanderungen zu beachten. Tabelle 3 veranschaulicht, dass je nach Lebensphase unterschiedliche Strategien an Bedeutung gewinnen. Bereits in der jüngsten Altersgruppe, in der noch keine Wanderung stattgefunden hat, werden die Rahmenbedingungen für spätere Ab-, Rückwanderungs- oder Bleibeentscheidungen geschaffen. Um insbesondere junge Frauen in dieser Lebensphase dabei zu unterstützen, eine positive Bindung an die Heimatregion zu entwickeln, ist nicht zuletzt ein Freizeitangebot von Bedeutung, das deren spezifischen Interessen Rechnung trägt. Organisationsformen in ländlichen Gemeinden sind traditionell eher männerspezifisch ausgerichtet. Treffpunkte, Anlaufstellen und Vereine, die speziell Mädchen ansprechen, fehlen in der Regel (Wotha 2010). Alle aktiven Beteiligungsmöglichkeiten stärken dagegen die Identifikation junger Menschen mit ihrer Heimatgemeinde und können eine bedeutende Bindungswirkung entfalten, selbst wenn im Rahmen der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche ein Wohnortwechsel unumgänglich wird. Als identitätsstiftend sind besonders auch die Effekte bürgerschaftlichen Engagements hervorzuheben. Auf der Grundlage einer positiven Identifikation können letztendlich auch die abgewanderten Jugendlichen dazu beitragen, ein bejahendes Bild ihrer Herkunftsregion in die Zielgebiete der Wanderung zu vermitteln und auf diese Weise die Außenwahrnehmung verbessern.

Tab. 3 Handlungsstrategien und Lebensphasen. (Quelle: Eigener Entwurf)

Abwanderung mit dem Ziel, sich weiter zu qualifizieren und Wissen zu erwerben, ist in der Phase nach dem Schulabschluss aufgrund der raumstrukturellen Gegebenheiten in Sachsen-Anhalt vielfach ein Muss. Bei den 18- bis 30-Jährigen handelt es sich daher um jene Altersjahrgänge, die ländlichen Gemeinden im besonders starken Maß verloren gehen. Da für viele ländliche Gebiete attraktive Arbeits- und Ausbildungsmärkte häufig weit entfernt liegen und/oder schlecht erreichbar sind, kommt oft nur ein Umzug an den Arbeits- oder Studienort infrage. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Wanderung zum Zweck der Ausbildung oder mit dem Ziel, mehr von der Welt kennenzulernen, für die sozioökonomische Entwicklung ländlicher Räume nicht per se negativ zu bewerten ist. Zur echten Chance für die Regionalentwicklung kann Migration dann werden, wenn ein Teil der Abgewanderten zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehrt und die gewonnenen Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse in der Heimatregion investiert (Stockdale 2006: 363 f.). Um für die Gruppe der 18- bis 30-Jährigen die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Rückkehr zu erhöhen, stehen Strategien im Fokus, die es den Abgewanderten ermöglichen, den Kontakt und die Bindung in die Heimatregion weiterhin aufrechtzuerhalten. Auch der Aufbau von Netzwerken und Kooperationen zwischen lokalen Arbeitgebern und Universitäten in den Zielregionen der Abwanderung sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Das Problem Sachsen-Anhalts liegt vor allem in der Tatsache, dass relativ wenig junge Erwachsene nach dem Abschluss des Studiums oder der Berufsausbildung zurückkommen und ihr erworbenes Wissen in der Herkunftsregion als Unternehmens- und Existenzgründer bzw. als hoch qualifizierte Arbeitskräfte in Wert setzen. Die Rückwanderung von gut ausgebildeten, kreativen und innovativen jungen Menschen muss als besonders zentral betrachtet werden, denn der Anteil der Hochqualifizierten an der Erwerbsbevölkerung liegt hier deutschlandweit am niedrigsten (Kröhnert/Morgenstern/Klingholz 2007: 10). Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die Wandernden keine homogene Gruppe bilden, sondern vielfältige Lebenssituationen repräsentieren, die mit ganz unterschiedlichen Motiven und Bedürfnissen in Zusammenhang stehen. So können sich die Motivationslagen und Lebenskontexte von Remigrantinnen, die nach Ausbildungsabschluss ein Unternehmen in der Heimatregion gründen wollen, unter Umständen stark von Rückkehrerinnen unterscheiden, die aufgrund des Familienerbes zurückkehren, die der Entscheidung ihres Partners folgen oder in der Heimatregion sehr stark verwurzelt sind. Während Regionalentwicklungsstrategien vor allem jene Remigranten im Blick haben, die sich weiterqualifiziert haben oder bereits erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert waren, findet die Rückkehr jener Personen in die Heimat, die in der Zielregion nicht Fuß fassen konnten, oft wenig Beachtung. Im Rahmen der Untersuchung hat sich darüber hinaus gezeigt, dass für die befragten jungen Frauen soziale Bindungen ein wesentliches Motiv für eine Rückkehr in die Heimatregion waren. Die folgenden Zitate können dies beispielhaft veranschaulichen:

Als ich dann wieder hier war, fand ich es erst ganz toll. Dass ich die Familie wieder hier hatte, ich bin ein sehr familienverbundener Mensch, als es dann um die Jobsuche ging, war es eher deprimierend. Also da war dann schon noch mal, dass man es realisiert hat, dass wenn man woanders wäre, würde man sicherlich viel, viel schneller einen Job kriegen. (Remigrantin, verheiratet, zwei Kinder, Wernigerode)

Ich brauche eine Wurzel, (…) und wollte deswegen wahrscheinlich auch wieder zurück. Ich habe eine sehr enge Bindung an meine Eltern, (…) und da fühle ich mich einfach verbunden. Und wenn ich sehe, wie meine Tochter jetzt so aufwächst. Also egal wie schlimm manches hier ist, schon deswegen würde ich das immer wieder so machen. Damit Kinder mehrere Generationen erleben. Und eine Wurzel erleben, wa? (Remigrantin, verheiratet, ein Kind, Annaburg)

Auch wenn berufliche Karriere und Ausbildung für die befragten Frauen zentral sind, gaben letztendlich häufig private Gründe, wie der Wunsch, näher bei Verwandten zu leben, oder die Unterstützung der Großeltern bei der Kindererziehung, den Ausschlag für die Entscheidung, in die Heimat zurückzukehren. Besonders für Alleinerziehende werden soziale und familiäre Netze oft zu einem wichtigen Standortfaktor. Grundsätzlich richtet sich die Förderung der Rückkehrwanderung im starken Maße auf einen Lebensabschnitt, in dem die Ausbildung abgeschlossen ist und bereits erste Berufserfahrungen gemacht wurden. Die Integration in den Arbeitsmarkt und die Familiengründung sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stehen häufig als große Themen im Vordergrund. Lange Wege und schlechte Erreichbarkeiten im ländlichen Raum erschweren in dieser Lebensphase insbesondere die Alltagsorganisation junger Mütter bzw. junger Familien. Zu beachten ist außerdem, dass auch Rückwanderer Eingliederungsschwierigkeiten haben können. Die fehlende Offenheit der lokalen Bevölkerung gegenüber Zu-, aber auch Rückwanderern ist als Problem wahrzunehmen und durch geeignete Maßnahmen anzugehen.

4.2 Identifikation, Image und berufliche Perspektiven für Frauen als zentrale Handlungsfelder

Die Auswertung des empirischen Materials hat deutlich gemacht, dass die über viele Jahre angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt, die wahrgenommenen Berufsperspektiven und das Image des ländlichen Sachsen-Anhalts die zentralen Faktoren im Abwanderungsprozess junger Frauen darstellen. Die Wahrnehmung ländlichen Lebens in Sachsen-Anhalt wird vielfach durch das von den Medien verbreitete Bild entleerter, trister und zurückbleibender Landstriche mitbestimmt. Aber auch die Kommunikation im Elternhaus, in den Schulen und im Freundeskreis ist häufig von der Vorstellung geprägt, in einer nicht zukunftsfähigen Region zu leben. Wie oben gezeigt wurde, bilden diese Alltagserfahrungen wesentliche Rahmenbedingungen für die Ausbildung einer Abwanderungskultur, der durch ein gezieltes Identitätsmanagement entgegengewirkt werden müsste. Hier können beispielsweise schulische Projekte ansetzen, um einerseits das vermittelte Bild der Medien kritisch zu hinterfragen, aber andererseits auch gezielte Informationen über berufliche Optionen vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Fachkräftemangels bereitzustellen. Das Ziel, das Image Sachsen-Anhalts insbesondere im Hinblick auf die Zielgruppe der jungen Frauen zu verbessern, kann vor allem bei den frauenfreundlichen Seiten des Landes ansetzen: Das Bewusstsein, in einer Region zu leben, in der weibliche Berufstätigkeit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bereits verankert sind, und die Tatsache, dass eine kostengünstige Kinderbetreuung relativ gesichert ist, können als wichtige Standortvorteile für junge Frauen wirken. Zum anderen könnte auch eine stärkere Präsenz weiblicher Vorbilder in der Öffentlichkeit wie erfolgreicher Unternehmerinnen, Politikerinnen, Künstlerinnen zur positiven Identifikation beitragen und dem Eindruck, dass die ambitionierten Frauen die Region verlassen, etwas entgegensetzen.

Im Hinblick auf Ortsbezogenheit und lokale Identifikationsprozesse ist es darüber hinaus wichtig, Jugendliche und besonders die Mädchen stärker in die lokalen Entscheidungsprozesse einzubinden. Die Schülerbefragung hat jedoch gezeigt, dass Vertreter der Kommunalpolitik häufig eher als Blockierer statt als aufgeschlossene Partner wahrgenommen werden. Auch das Image des ländlichen Raumes der neuen Bundesländern, eine Hochburg Rechtsradikaler zu sein, lässt negative Einflüsse auf die Wanderungsentscheidungen junger, gut ausgebildeter Frauen erwarten und übt vermutlich eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Zuwanderer und Investoren aus. Ein offener Umgang mit dieser Thematik und klare Signale auch auf lokaler Ebene, dass entsprechende Tendenzen keine Akzeptanz finden, wäre auch für die Zielsetzung, junge, gut gebildete Frauen zu halten bzw. anzuziehen, von entscheidender Bedeutung. Daraus leitet sich unter anderem die Forderung ab, im ländlichen Raum Strukturen der Jugendarbeit aufzubauen bzw. weiterzuentwickeln, um der Strategie rechtsextremistischer Parteien und Organisationen, durch die Unterwanderung der lokalen Vereinslandschaft Neumitglieder zu rekrutieren und an (kommunal-)politischem Einfluss zu gewinnen, entgegenzuwirken (Simon 2007: 279).

Die regionalen Fachhochschul- und Hochschulstandorte sind hinsichtlich ihres Bildungsangebots und der günstigen Lebenshaltungskosten wichtige Magneten, um junge Menschen nach Sachsen-Anhalt zu ziehen bzw. in der Region zu halten. Investitionen in ein attraktives Hochschulwesen, das sich auch durch enge Kooperationen mit regionalen Unternehmen auszeichnet, sind daher zentrale Voraussetzungen, um dem demographischen Wandel entgegenzuwirken. Diese Forderungen stehen allerdings zum Teil im Widerspruch zu den aktuellen Kürzungsplänen im Hochschulbereich. Um speziell junge Frauen als Zielgruppe anzusprechen, wäre neben einer stärkeren Unterstützung des Interesses junger Frauen an naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen auch eine stärkere Ausrichtung auf typisch ‚weibliche‘ Studiengänge denkbar. Damit sich derartige Bildungsinvestitionen auch langfristig für die wirtschaftliche Entwicklung Sachsen-Anhalts auszahlen, ist es weiterhin grundlegend, entsprechende berufliche Perspektiven nach dem Abschluss der Ausbildung zu schaffen.

Der regionale Arbeitsmarkt und fehlende Karrieremöglichkeiten werden grundsätzlich als wichtigster Abwanderungsgrund bzw. als Ursache für fehlende Zu- und Rückwanderung ausgemacht. Da das ausgeprägte Lohngefälle zwischen Ost- und Westdeutschland sehr häufig als Wegzugsgrund und Rückkehrhemmnis thematisiert wird, könnten konkretere Vergleiche zwischen Lohn-und Lebenshaltungskosten Ost- und Westdeutschland dazu beitragen, die kritische Sicht auf die Verdienstmöglichkeiten zu relativieren. Der oft mangelnden Kenntnis der tatsächlichen Lage auf dem Arbeitsmarkt kann durch intensivere Zusammenarbeit zwischen Arbeitsagenturen, Schulen, Hochschulen, Betrieben und Kammern entgegengewirkt werden. Ansätze dafür sind bereits in verschiedenen Projekten wie Schülerfirmen und Berufspraktika vorhanden. Ziel sollte es hier sein, bestehende Initiativen und Projekte noch besser zu vernetzen.

In strukturschwachen ländlichen Regionen sind die Förderung einer Unternehmerkultur und selbstständige Erwerbsformen wesentlich, um endogene Entwicklungen erfolgreich in Gang zu setzen. Der Unterstützung von Existenzgründungen und innovativen Geschäftsideen, aber auch allgemein einer Kultur der Eigenverantwortung muss daher eine hohe Priorität eingeräumt werden. Dieser Aspekt ist nicht zuletzt auch im Kontext des bevorstehenden Generationswechsels in vielen klein- und mittelständischen Unternehmen von großer Bedeutung. Auch hier sind speziell Frauen als potenzielle Betriebsnachfolgerinnen anzusprechen und entsprechend zu unterstützen. Darüber hinaus könnte sich aufgrund qualifizierter Jobangebote im ländlichen Sachsen-Anhalt die gezielte Förderung von unterschiedlichen Formen der Telearbeit zu einem positiven Standortfaktor entwickeln. Die Möglichkeiten des Internets sind gerade für dünn besiedelte und schlecht erreichbare Räume als echte Chance zu begreifen – allerdings ist das Bewusstsein für die vorhandenen Möglichkeiten im ländlichen Raum in der Regel noch geringer ausgeprägt als in den Städten. Eine entsprechende Bewusstseinsbildung bei Unternehmern und Arbeitnehmern sowie die Schaffung entsprechender arbeitsrechtlicher und technischer Voraussetzungen wären diesbezüglich wesentliche Maßnahmen. Insbesondere im Hinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie dem Wunsch junger Frauen und Männer nach größerer Flexibilität könnten sich Bemühungen in diese Richtung als wichtige Potenziale beim Wettbewerb um Fachkräfte erweisen. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass Sachsen-Anhalt, was die Verfügbarkeit von leistungsfähigen Breitbandnetzen mit einer Bandbreite ≥ 16 Mbit/s angeht, mit einer Versorgungsquote von knapp 42 % deutlich hinter den anderen Bundesländern zurückbleibt. Der Anteil der Haushalte, die im „digitalen Abseits“ leben, ist nur in Brandenburg noch höher (TÜV Rheinland/BMWi 2011: 11 ff.). Aus Expertensicht fördert das Fehlen leistungsfähiger Internetverbindungen die Abwanderung und hemmt die Zu- bzw. Rückwanderung, nicht nur von jungen, gut ausgebildeten Menschen, sondern auch von Unternehmen. Es besteht folglich die Gefahr, dass ländliche, dünn besiedelte Regionen durch mangelnde Infrastrukturausstattung und einen verstärkten Wegzug der Talente („brain drain“) von der allgemeinen Entwicklung der Wissensgesellschaft abgekoppelt werden (Spellerberg 2008 : 27 f.).

Neben der technischen Infrastruktur ist die Versorgung mit sozialen Infrastrukturen in Sachsen-Anhalt zwiespältig zu beurteilen: Während das Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten zumindest im nationalem Vergleich quantitativ (und häufig auch qualitativ) als überdurchschnittlich gut bewertet werden kann, sind Freizeit- und Kulturangebote insbesondere für Mädchen und junge Frauen oft unzureichend. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die Tatsache zu bewerten, dass viele Grund- und Mittelzentren in Sachsen-Anhalt bereits seit Jahrzehnten schrumpfen und durch erhebliche Substanzverluste gekennzeichnet sind. Versuche, Versorgungsangebote im Bereich der Kinderbetreuung, Einkaufsmöglichkeiten, der ärztliche Versorgung oder im schulischen Bereich im Hinblick auf eine schwindende Auslastung und Überalterung im ländlichen Sachsen-Anhalt aufrechtzuerhalten, existieren unter anderem in Form von Eltern-Kind-Zentren, verschiedenen Kooperationen (z. B. Bürger-Dorfladen), soziokulturellen Projekten und mobilen Diensten. Allerdings handelt es sich bei diesen Angeboten häufig um Einzelprojekte, die von engagierten Bewohnern ins Leben gerufen werden und die nicht flächendeckend verfügbar sind.

5 Genderorientierte Regionalentwicklung und die Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen

Bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Frauenmangels geht es nicht nur um das tatsächliche Ausmaß der unausgewogenen Geschlechterproportionen, sondern vielmehr um die Frage, inwieweit genderorientierte Konzepte dazu beitragen können, Regionalentwicklungsstrategien effizienter und sozial gerechter zu gestalten. Der weibliche Teil der Bevölkerung gerät hier nicht nur bezüglich des sich im Kontext des demographischen Wandels in vielen Regionen abzeichnenden Fachkräftemangels in den Blick. Wichtig ist auch, dass gerade Frauen als Trägerinnen sozialer Kohäsion und Initiatorinnen kultureller Neuerungen oft eine bedeutende Rolle im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung ländlicher Räume zugeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund repräsentiert die Diskussion um die geschlechtsselektive Abwanderung oft nur eine Facette des allgemeinen Schrumpfungsdiskurses. Die Auseinandersetzung mit der Lebenssituation junger Frauen in ländlichen Räumen zielt demgegenüber stärker auf Fragen der Geschlechter(un)gleichheit ab.

Die Untersuchungen im Rahmen des ESPON-Projekts „SEMIGRA“ haben gezeigt, dass für die jungen Frauen im ländlichen Sachsen-Anhalt Berufsorientierung und Familienorientierung gleichermaßen eine große Bedeutung haben. Diesbezüglich sind alle Bemühungen, die junge Frauen gezielt dabei unterstützen, ihre beruflichen und privaten Lebenskonzepte zu verwirklichen und auch bewusst unkonventionelle Lösungswege zu fördern, zu begrüßen. Innovative Geschäftsideen, alternative oder nachhaltigere Lebens- und Arbeitsformen sowie Projekte, die die volle Ausschöpfung der Möglichkeiten des Internets für den ländlich-peripheren Raum zum Ziel haben, sind als Beispiele zu nennen. Die Abwanderungsregionen bieten hier zum Teil besondere Gestaltungsfreiheiten, die unter anderem im Zusammenhang mit dem Begriff der „Raumpioniere“ (vgl. z. B. Faber/Oswalt 2013) diskutiert werden. Auch wenn es sich hierbei in der Regel um punktuelle Lösungen handelt, sind die positiven Ausstrahlungseffekte entsprechender Projekte nicht zu unterschätzen. Hinsichtlich der Lebenssituation junger Frauen sind Kultur- und Freizeitangebote für Mädchen und Orte zum Austausch von Frauen grundlegend, um die lokale Identifikation zu stärken. Weiterhin sind höhere Frauenanteile in entscheidenden Gremien eine wesentliche Voraussetzung, um die Interessen junger Frauen in Verbänden und der Politik gezielter zu repräsentieren. Hinsichtlich der Lebensqualität und Zukunftsperspektiven in ländlich-peripheren Regionen ist es letztendlich jedoch entscheidend, die Erfordernisse ganz verschiedener Bedürfnisgruppen und Lebenssituationen im Blick zu behalten. Zielgruppenorientierte Strategien bergen hier häufig die Gefahr, vor allem sozioökonomisch leistungsfähigere Kreise anzusprechen. Gruppen mit geringem ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital, Personenkreise, die keine Lobby haben oder kein politisches Interesse auf sich ziehen können, werden dann häufig aus dem Blick verloren. Auch den jungen Männern im ländlichen Raum wird in diesem Zusammenhang kaum Beachtung geschenkt.

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen unausgewogener Geschlechterproportionen berührt neben der Aufmerksamkeit für geschlechtsspezifische Lebenswelten immer auch die Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse und raumbezogener Diskurse. So finden im Unterschied zu urbanen Kontexten ländliche Lebenswelten in der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskussion oft (zu) wenig Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Polarisierung der Regionalentwicklung werden dünn besiedelte und periphere Räume oft nur mehr als Rest-, Schrumpfungs- oder Problemräume gedacht. Dennoch sind die Lebensbedingungen in ländlich-peripheren Regionen besonders auch im Hinblick auf die Schattenseiten der starken Verdichtungsprozesse in Ballungsräumen von großer gesellschaftlicher Relevanz. Die Frage nach der Abwanderung junger Frauen aus ländlich peripheren Regionen fordert somit einerseits zur kritischen Auseinandersetzung mit Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und andererseits mit Fragen ungleicher räumlicher Entwicklungschancen heraus.