Der junge Student sieht sich am Beginn seines Studiums vor Probleme gestellt, die ihn in keinem Punkte mehr an die Dinge erinnern, mit denen er sich auf der Schule beschäftigt hat; […]. Tritt er aber nach Absolvierung des Studiums ins Lehramt über, so soll er plötzlich eben diese herkömmliche Elementarmathematik schulmäßig unterrichten; da er diese Aufgabe kaum selbständig mit seiner Hochschulmathematik in Zusammenhang bringen kann, so wird er bald die althergebrachte Unterrichtstradition aufnehmen. (Klein 1933, S. 1)

Vor über hundert Jahren brachte Klein das bis heute aktuelle Grundproblem der universitären Lehrerausbildung – die doppelten Diskontinuität – „so markant“ (Hefendehl-Hebeker 2013, S. 2) zum Ausdruck. Diese von Klein beschriebene Kluft existiert nach wie vor, obwohl oder gerade weil sich die Bildungslandschaft von Schule und Hochschule verändert hat (vgl. Hefendehl-Hebeker 2013, S. 2).Footnote 1 Sie ist insbesondere in Bezug auf die gymnasiale Lehramtsausbildung in den letzten Jahren in den Fokus der hochschuldidaktischen Diskussion gerückt. Davon zeugen unter anderem die Stellungnahmen und Empfehlungen der einschlägigen Fachverbände (vgl. aCampo, Weigand & Ziegler 2008), zahlreiche Veröffentlichungen (bspw. Ableitinger, Kramer & Prediger 2013; Bauer 2013; Beutelspacher, Danckwerts, Nickel, Spies & Wickel 2011) und Projekte, wie beispielsweise die von der Telekom-Stiftung geförderten Projekte Mathematik Neu Denken, Mathematik besser machen oder das Mercator- und Volkswagenstiftung geförderte Kompetenzzentrum Hochschuldidaktik Mathematik (khdm).

Kleins Vorlesung dient in diesen Initiativen meist als Anstoß für die Entwicklung aktueller Ideen und Konzepte. Ein Beispiel hierfür ist neben den zahlreichen Projekten zur Neuorientierung des Lehramtsstudiums auch das von der IMU und der ICMI angeregte internationale Klein-Projekt (www.klein-project.org), welches die Ideen von Felix Klein in moderner und aktueller Form aufgreift und diese weiterentwickelt. Die Ergebnisse werden in sogenannten Klein-Artikeln veröffentlicht (vgl. Weigand 2009). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Kleins Vorlage mit Blick auf den dort vermittelten höheren Standpunkt liegt bis jetzt nicht vor. In Allmendinger (2014a) befrage ich Kleins Vorlesungsreihe auf ihre Intention, ihre innere Struktur sowie ihren Beitrag zu einem lehramtsgerechten Hochschulstudium. Der vorliegende Artikel präsentiert einige markante Ergebnisse dieser Studie.

1 Kurze Einführung zu Hintergrund und Intention der Vorlesungsreihe

Mit der Vorlesungsreihe Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus, die erstmalig 1907 in Göttingen stattfand, richtete sich Felix Klein an „reifer[e] Studenten“ (Klein 1933, S. v) kurz vor Studienabschluss. Er setzte Grundkenntnisse der Algebra, Zahlentheorie, Funktionentheorie und weiterer Gebieten voraus (Klein 1933, S. 2). Die Vorlesungen stellen eine Fortsetzung seiner Vorträge über den mathematischen Unterricht an den höheren Schulen (Klein 1907) dar, die sich den Inhalten des Schulunterrichts in besonderer Weise widmeten. Insgesamt wurden drei Bände zur Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus veröffentlicht:

  • Arithmetik, Algebra und Analysis, ausgearbeitet von E. Hellinger und Fr. Seyfarth (1908, 4. Auflage 1933)

  • Geometrie, ausgearbeitet von E. Hellinger und Fr. Seyfarth (1909, 3. Auflage 1925)

  • Präzisions- und Approximationsmathematik, augearbeitet von C.H. Müller und Fr. Seyfarth (1928, 1. Auflage unter anderem Namen 1902)Footnote 2

Alle drei Überblicksvorlesungen richten sich an Studierende am Ende des Hauptstudiums. Klein setzt beim Hörer bzw. Leser ein großes Vorwissen voraus. Er verweist immer wieder auf vorangegangene Vorlesungen oder weiterführende Literatur (vgl. bspw. Klein 1933, S. 31f) und führt höchstens exemplarisch ausführlich die einzelnen mathematischen Gedankengänge aus. Stattdessen legt er seinen Schwerpunkt auf die Verbindung der einzelnen Teilgebiete, Themen und Darstellungen, die seiner Meinung nach in anderen Lehrbüchern und Vorlesungen zu kurz kommen (vgl. bspw. Klein 1933, S. 93).

Um Kleins Intention und die damit verbundenen Inhalte der Vorlesung angemessen zu interpretieren, ist es notwendig das Umfeld zu kennen, in dem Klein seine Vorlesung entworfen hat.

1.1 Das Umfeld: Schule und Lehrerbildung um die Jahrhundertwende

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war es nicht üblich, ein Universitätsdiplom im Fach Mathematik zu vergeben, der größte Teil der Studenten schloss die universitären Studien mit dem Staatsexamen ab (vgl. Toepell 2003, S. 178). Der Gymnasiallehrer galt bis Ende des 19. Jahrhunderts noch als Fachgelehrter und war aufgefordert engen Kontakt zur Universität zu halten und sich aktiv forschend zu betätigen (Mattheis 2000, S. 10). Dies ermöglichte es auch, dass man nach einer Lehrtätigkeit an einer höheren Schule als Hochschullehrer an die Universität zurückkehrte – Jacob Steiner ist ein bekanntes Beispiel hierfür (vgl. Toepell 2003, S. 178).

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden erste Stimmen laut, die die Entfremdung „bis zur gegenseitigen Nichtbeachtung“ (Klein 1902, S. 70) von Universität und Schule beklagten:

In einer langen Zeitperiode […] trieb man an den Universitäten ausschließlich hohe Wissenschaft ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was der Schule nottat, und ohne sich überhaupt um die Herstellung einer Verbindung mit der Schulmathematik zu sorgen. (Klein 1933, S. 1)

Die Kritik an der entstandenen Kluft beinhaltete zu großen Teilen eine wissenschaftliche Komponente. Die Mathematiklehrer an den höheren Schulen sollten sich wieder vermehrt mit aktuellen Forschungsfragen auseinandersetzen. Hinzu kam aber erstmals eine didaktische Komponente, da man auch die direkte Wirksamkeit des Studiums auf den Schulunterricht hinterfragte und als förderungswürdig ansah.

Klein berichtete, dass man begonnen hatte, diese „Kluft von beiden Seiten her aufzufüllen“ (Klein 1933, S. 1), einerseits durch eine Neuorientierung bezüglich des Schulstoffs, andererseits durch die Berücksichtigung der Bedürfnisse der zukünftigen Lehrer an der Universität. Letzteres äußerte sich besonders in den Anfängervorlesungen (vgl. hierzu bspw. Klein 1899) und in speziellen lehramtsspezifischen Vorlesungen zu Inhalten der Elementar- bzw. Schulmathematik (vgl. hierzu bspw. Klein 1933; Weber 1903; Stäckel 1905). Zur Behebung der Kluft von Seiten der Schule sollte maßgeblich die Meraner Reform beitragen, an der Klein mitwirkte.

1.2 Die Vorlesung im Spiegel der Meraner Reform

Die Anfänge bzw. Ausgangspunkte der Meraner Reform lassen sich bereits ab den 1890er Jahren ausmachen und reichen bis in die 1920er Jahre hinein (vgl. Biermann 2010, S. 287). Höhepunkt war die Entwicklung des Meraner Lehrplans von der 1904 in Breslau eingesetzten Unterrichtskommission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, der in darauffolgenden Jahren systematisch umgesetzt werden sollte (vgl. Biermann 2010, S. 294ff).

Im Meraner Lehrplan kommen dem Mathematikunterricht zwei wesentliche Aufgaben zu: die Stärkung des räumlichen Anschauungsvermögens und die Erziehung zur Gewohnheit des funktionalen Denkens (vgl. Meraner Lehrplan 1905, S. 104). Als Höhepunkt des funktionalen Denkens, ist damit die Forderung der Einführung in die Differential- und Integralrechnung verbunden (Klein 1905a, S. 38ff).

Mit Veröffentlichung des Lehrplans, wurden dessen Inhalte (insbesondere für die Mathematik) beispielsweise in Zeitschriftenaufsätzen, Fortbildungskursen und Direktorenversammlungen verbreitet und diskutiert. Kleins Vorlesung kann als ein weiteres Medium zur Verbreitung der Reformgedanken angesehen werden. Die Forderungen des Lehrplans werden in der Vorlesung explizit thematisiert und zu großen Teilen umgesetzt. Wenn Klein in seiner Vorlesung das Prinzip der Veranschaulichung hervorhebt, so trägt dies zu einer Stärkung des räumlichen Anschauungsvermögens bei. Die anderen drei der Vorlesung zugrundeliegenden Prinzipien (die in Abschnitt 3 vorgestellt werden) lassen sich in enge Verbindung mit den pädagogischen Prinzipien bringen, auf die sich der Meraner Lehrplan stützt. Und die Facetten der Erziehung zum funktionalen Denken, die Krüger (2000) herausgearbeitet hat, lassen sich in der Vorlesung zumindest implizit nachweisen. Eine Sonderrolle nimmt dabei das Kapitel zur Infinitesimalrechnung ein, in dem Klein konkret auf Mißstände im Unterricht eingeht und für eine Einführung der Infinitesimalrechnung wirbt.

Auf dem Gebiete der Infinitesimalrechnung gerade ist die Diskontinuität zwischen Schule und Universität […] am größten; ich hoffe, daß meine Darlegungen zu ihrer Beseitigung beitragen und Ihnen [den Studierenden, H.A.] für Ihre spätere Lehrpraxis ein nützliches Rüstzeug an die Hand geben. (Klein 1933, S. 255).

1.3 Die Überwindung der doppelten Diskontinuität

Es ist das erklärte Ziel der Vorlesungsreihe, „die mathematische Wissenschaft als ein zusammengehöriges Ganzes nach allen Seiten wieder zur Geltung zu bringen“ (Klein 1929, S. v). Dazu hebt Klein Zusammenhänge zwischen den mathematischen Einzeldisziplinen und ihre Beziehung zur Schulmathematik hervor:

Meine Aufgabe wird stets sein, Ihnen den gegenseitigen Zusammenhang der Fragen der Einzeldisziplinen vorzuführen, der in den Spezialvorlesungen nicht immer genügend zur Geltung kommt, sowie insbesondere ihre Beziehungen zu den Fragen der Schulmathematik zu betonen. (Klein 1933, S. 2)

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Kluft zwischen Schule und Hochschule in erster Linie inhaltlich verstanden, nämlich in der Trennung von algebraischer Analysis (Analysis des Endlichen) in der Schule und dem an den Universitäten gelehrten höheren Analysis (Analysis des Unendlichen). Grundlegend für diese Unterscheidung sind die Werke Introductio (vgl. Euler 1748) und Institutiones (vgl. Euler 1755), durch welche Euler selbst eine solche Unterteilung vornahm. Die Grenze zwischen den beiden Gebieten bildet der Begriff des unendlich Kleinen (vgl. Biermann 2010, S. 232f):

Tab. 1 Analysis des Endlichen und des Unendlichen (zitiert nach Biermann, 2010, S. 232)

Auch Klein habe vornehmlich diese Unterscheidung im Sinn gehabt, wenn er von der Kluft zwischen Schule und Hochschule sprach, so Biermann & Jahnke (2014). In seiner Vorlesung kritisiert Klein, dass in der Schule ausschließlich die algebraische Analysis unterrichtet werde (vgl. Klein 1933, S. 167). An den Universitäten werde umgekehrt ausschließlich die Analysis des Unendlichen behandelt. Der Übergang werde dabei „mit dem nicht immer zutreffenden Hinweis: ‚Das haben Sie auf der Schule schon gehabt‘ abgetan“ (Klein 1933, S. 167).

Meiner Einschätzung nach schreibt Klein der Diskontinuität aber auch eine methodische Dimension zu, die die Didaktik in Kleins Werk wesentlich prägt. Der Aufbau und die Inhalte der Vorlesung legen nahe, dass Klein nicht ausschließlich den inhaltlichen Unterschied zwischen systematisch-infinitesimaler und algebraischer Analysis im Sinn hat, wenn er von der Kluft zwischen Schule und Hochschule spricht. Besonders im ersten Teil der Vorlesung, der Arithmetik, beschäftigt er sich eingehend mit methodischen Unterschieden:

Die Art des Unterrichtsbetriebes, wie er auf diesem Gebiete heute überall bei uns gehandhabt wird, kann ich vielleicht am besten durch die Stichworte anschaulich und genetisch kennzeichnen, d.h. das ganze Lehrgebäude wird auf Grund bekannter anschaulicher Dinge ganz allmählich von unten aufgebaut; hierin liegt ein scharf ausgeprägter Gegensatz gegen den meist auf Hochschulen üblichen logischen und systematischen Unterrichtsbetrieb. (Klein 1933, S. 6)

Diese Diskrepanz gilt es zu überwinden. Einerseits scheint der Mathematikunterricht an den Gymnasien so stark auf die Anschauung fokussiert, dass sich Klein gezwungen fühlt, „die Notwendigkeit eingehender logischer Entwicklungen zu betonen“ (Klein 1921, S. 239), andererseits wirbt er für einen anschauungs- und anwendungsorientierteren Hochschulunterricht, da dieser die formale logische Seite der Mathematik überbetonte (vgl. bspw. Klein 1899). In seiner Elementarmathematik hebt Klein das „psychologische Moment“ (Klein 1933, S. 3) besonders hervor, das ein jeder Lehrer in der Schule bedienen können muss. Er wählt eine genetische Darstellung, stellt Bezüge zu möglichen Anwendungen her und vertritt das Primat der Anschauung. Er orientiert seine Vorlesung damit bewusst an Prinzipien, die die methodischen Unterschiede der beiden Institutionen überwinden sollen.

Die doppelte Diskontinuität hat damit zwei Komponenten, die in Kleins Vorlesungsreihe thematisiert werden – eine inhaltliche und eine methodische. Beide gilt es mit der Vorlesung zu überwinden.

2 Analyserahmen

In Allmendinger (2014a) wird die Vorlesungsreihe vor diesem Hintergrund auf ihre Intention, ihre innere Struktur sowie ihren Beitrag zu einem lehramtsgerechten Fachstudium befragt und im Kontext der damaligen Situation interpretiert. Zusätzlich habe ich mich im Rahmen der Analyse des aktuellen mathematikdidaktischen Instrumentariums bedient, mithilfe dessen das didaktische Interesse beschrieben werden kann, das in der Vorgehensweise und den Randbemerkungen Kleins sichtbar wird. Es geht nicht darum – um der Kritik des vorgreifenden Anachronismus vorzubeugen – zu behaupten, Klein habe bereits zu seiner Zeit heutige mathematikdidaktische Konzepte bewusst verwendet. Diese Konzepte erweisen sich aber als geeignetes Hilfsmittel, um die Kleinschen Ideen und seine Vorgehensweise besser zu verstehen, einzuordnen und von Alternativen abzugrenzen.

Dieser historisch hermeneutischen zum einen und der didaktischen Auslegung zum anderen habe ich explizit einen phänomenologischen Zugang voranstellt – verstanden als wissenschaftstheoretische Methode, wie sie etwa Seiffert (1970) in seiner Einführung in die Wissenschaftstheorie vorstellt:Footnote 3

[Der Phänomenologe] sagt: Meine Eindrücke als solche habe ich und lasse ich mir nicht wegargumentieren. Warum soll ich sie nicht auch zur Grundlage wissenschaftlicher Analysen machen? (Seiffert 1970, S. 42)

Bei einem solchen phänomenologischen Zugang werden zunächst alle rationalen, theoretischen und historisch bedingten Zugänge ausgespart, um die Eindrücke wertfrei und ohne Ableitung von Handlungsempfehlungen oder Normen zu beschreiben. Eine solche Methode kann vordergründig als unhistorisch bezeichnet werden, da die Phänomene zunächst so beschrieben werden, als ob sie überall und zu jeder Zeit auftreten könnten – auch wenn der ‚Phänomenologe‘ dies nicht explizit behauptet. Da aber eine jede Beobachtung zu einer bestimmten Zeit geschieht, stellt sich jede phänomenologische Analyse dennoch „stillschweigend in einen bestimmten historischen Horizont“ (vgl. Seiffert 1970, S. 53). Ein solcher Zugang erwies sich als angemessen, um Kleins Vorgehen und die charakteristischen Merkmale herauszuarbeiten, objektiv – also wertfrei und unabhängig vom Kontext – zu beschreiben und im Sinne einer taxonomischen Darstellung systematisch zu ordnen.

Dadurch ließen sich der Vorlesung zugrunde liegende Prinzipien einerseits und eingenommene Perspektiven andererseits herausarbeiten. Dass Klein diese bewusst einsetzt, lässt sich mit Hilfe zahlreicher Randbemerkungen sowie methodischen und programmatischen Exkursen – vor allem im ersten Band der Vorlesungsreihe – belegen. Durch die Prinzipien und Perspektiven wird der von Klein eingenommene höhere Standpunkt differenziert charakterisiert. Sie bilden gleichzeitig einen Analyserahmen für einen systematischen Vergleich mit alternativen Konzeptionen von elementarmathematischen Veranstaltungen.Footnote 4

Der Aufbau der einzelnen Bände unterscheidet sich grundlegend. Während Klein im ersten Band die hochschulmathematischen und schulmathematischen Inhalte fortlaufend in Relation zueinander setzt und Reformideen präsentiert, wählt er beim Thema Geometrie zunächst eine systematische Darstellung, der er erst im zweiten Teil des Bandes die Situation an der Schule gegenüberstellt.Footnote 5 Klein begründet dies damit, dass er einerseits nicht „in eine zu stereotype Form verfallen“ (Klein 1925, S. v) möchte, andererseits gäbe es „wichtige innere“ (Klein 1925, S. v) inhaltliche Gründe. Durch ihre strukturellen Unterschiede lassen sich die drei Bände nur schwer vergleichen oder gemeinsam analysieren. Die Analyse der Arbeit und die Ergebnisse des vorliegenden Artikels stützen sich hauptsächlich auf den ersten Band der Vorlesungsreihe mit seinen programmatischen Exkursen.

2.1 Kleins Perspektiven als höherer Standpunkt

Klein stellt unter Verwendung von vier Prinzipien, auf die ich in Abschnitt 3 näher eingehen werde, eine Verbindung von der Elementarmathematik zur Hochschulmathematik her und nimmt damit einen höheren Standpunkt zur Elementarmathematik ein. Dieser Standpunkt zeichnet sich durch unterschiedliche Perspektiven aus: eine fachmathematische, eine mathematikhistorische und eine mathematikdidaktische Perspektive.

Kleins Hauptziel ist es, einen Zusammenhang zwischen Schulmathematik und höherer Mathematik herzustellen, indem er eine ganz spezifische fachmathematische Perspektive auf die Themen der Schulmathematik einnimmt. Die Hochschulmathematik wird bei Klein zu einem Mittel für eine präzise Darstellung und Durchdringung der Schulmathematik, umgekehrt inspiriert die Schulmathematik zu weiterführenden Fragestellungen, die nur mit Mitteln der Hochschulmathematik beantwortet können.

Zudem ordnet Klein unter einer mathematikhistorischen Perspektive diese fachmathematischen Inhalte durch historische Exkurse und Bemerkungen in einen größeren Zusammenhang ein. Diese bestimmen im Sinne des historisch-genetischen Prinzips einerseits den Verlauf der Vorlesung mit und liefern andererseits Material und Hintergrundwissen für einen genetisch orientierten Schulunterricht. Klein verfolgt jedoch kein systematisches historisch-genetisches Vorgehen wie etwa Toeplitz (vgl. etwa Toeplitz 1972), erhebt in den historischen Einschüben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und verweist meist auf weiterführende Literatur.

Kleins fachmathematische Darstellungen werden ergänzt durch Berichte und Erörterungen mit konkretem Bezug zur Schulpraxis – einer didaktischen Perspektive. Einerseits behandelt Klein damit curriculare Fragen, andererseits lassen sich Kleins Analysen als frühe stoffdidaktische Arbeiten identifizieren.

Schließlich lassen sich in Kleins Vorlesungsreihe Ansätze einer mathematikphilosophischen Sicht entdecken. Klein setzt sich mit Fragen der Erkenntnistheorie sowie Fragen zum Wesen der Mathematik und zur mathematischen Arbeitsweise auseinander. Dies geschieht jedoch weder systematisch noch ausführlich, so dass nicht von einer eigenständigen und gleichberechtigten Perspektive gesprochen werden kann. Ziel ist es, die Hörer für weiterführenden Fragen zu sensibilisieren – die detaillierte Erörterung überlässt Klein eigentlichen Philosophen und verweist dazu auf die passende Literatur:

Was zunächst den Zahlbegriff selbst angeht, so ist seine Wurzel äußerst schwer aufzudecken. Am glücklichsten fühlt man sich vielleicht noch, wenn man sich entschließt, von diesen allerschwierigsten Dingen ganz die Hand zu lassen. Für nähere Angaben über diese von den Philosophen stets sehr lebhaft erörterten Fragen verweise ich wieder auf den bereits genannten Artikel der französischen Enzyklopädie und beschränke mich auf einige ganz kurze Bemerkungen. (Klein 1933, S. 11)

Alle drei Perspektiven sowie die mathematikphilosophische Ergänzung tragen jede für sich und auf unterschiedliche Weise zur Bildung eines höheren Standpunkts zur Elementarmathematik bei. Eine besondere Rolle für eine Adaption des Kleinschen Konzepts heute nimmt dabei die mathematikdidaktische Perspektive ein.

2.2 Die Didaktik in Kleins Elementarmathematik

Klein richtet sich mit den Vorlesungen zur Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus an fortgeschrittene Lehramtsstudenten, mit den dazu veröffentlichten Manuskripten auch an praktizierende Lehrer. Klein geht zumindest im ersten Band stets von der tatsächlichen Schulpraxis aus oder stellt sie im Anschluss an die Untersuchungen diesen gegenüber; das Kapitel Einführung der Zahlen auf der Schule (vgl. Klein 1933, S. 6–9) sowie das Kapitel zu den komplexen Zahlen im Unterricht (vgl. Klein 1933, S. 81–82) sind typische Beispiele. Klein steht in engem Kontakt mit seinem ehemaligen Mitarbeiter und praktizierenden Lehrer Rudolf Schimmack (1881–1912), so dass seine Darlegungen – wie er betont – nicht auf Vermutungen oder seinen eigenen Schulerfahrungen aus der Kindheit beruhen (vgl. Klein 1933, S. 3). Auch wenn sich in vielen Fällen hochschulmathematische Diskussionen anschließen, die ein profundes Fachwissen voraussetzen, so wird immer wieder der Schulstoff selbst in den Blick genommen.

Im Folgenden wird vorgestellt, inwiefern Felix Klein in der Elementarmathematik eine auch aus heutiger Sicht didaktische Perspektive zugesprochen werden kann. Einige Bemerkungen Kleins sind zumindest im Ansatz in modernen didaktischen Konzepten aufgehoben, andere Vorstellungen lassen sich aus heutiger Sicht hinterfragen. Insgesamt kann aber dargelegt werden, dass Klein in seiner Vorlesung spezifische Prinzipien verfolgt, die eine didaktische Orientierung bei Klein erkennen lassen. Die fachliche Auseinandersetzung mit den schulmathematischen Inhalten erinnert darüber hinaus an eine aus heutiger mathematikdidaktischer Sicht didaktisch orientierte Sachanalyse. Die Vorlesung weist somit erste Ansätze stoffdidaktischen Arbeitens auf. Zusätzlich lassen zahlreiche Randbemerkungen auf eine ausgeprägte didaktische Haltung schließen, die sich auf die Umsetzung im Mathematikunterricht bezieht.

3 Kleins Prinzipien als didaktische Orientierung

Entscheidend geprägt wird die Vorlesung durch Prinzipien, die Klein bewusst in sein Vorlesungskonzept integriert: die innermathematische Vernetzung, das Primat der Anschauung, eine hohe Anwendungsorientierung und das genetische Prinzip. In Allmendinger (2014b) konnte ich diese anhand charakteristischer Textstellen und typischer Beispiele in ihrer jeweilige Ausprägung verdeutlichen und ihre Funktion innerhalb der Vorlesungskonzeption und für den höheren Standpunkt herauszuarbeiten. Die vorgestellten Prinzipien sind in der heutigen Mathematikdidaktik mit gewissen Vorstellungen verknüpft. Es hat sich gezeigt, dass diese Vorstellungen zumindest im Ansatz bei Klein wiederzufinden sind.

3.1 Das Prinzip der (innermathematischen) Vernetzung

Meine Aufgabe hier wird stets sein, Ihnen den gegenseitigen Zusammenhang der Frage der Einzeldisziplinen vorzuführen, der in den Spezialvorlesungen nicht immer genügend zur Geltung kommt, […]. (Klein 1933, S. 2)

Das Prinzip der Vernetzung wird damit zum Grundsatz der Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus. Kleins Ziel ist es „mit den verschiedensten Gebieten in organische Verbindung [zu] treten, […]“ (Klein 1933, S. 94) und er realisiert dies, indem er Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Fragestellungen aufdeckt, den Zusammenhang zwischen scheinbar unabhängigen Begriffen herstellt und zum Beweisen von Sachverhalten Hilfsmittel verwendet, die anderen mathematischen Teilgebieten entstammen als der Sachverhalt selbst (vgl. Allmendinger 2014a, Kapitel 2). So hebt Klein im Kapitel zum Taylorschen Lehrsatz die Gemeinsamkeiten von trigonometrischen Reihen und Potenzreihen hervor, im Kapitel zur Algebra nutzt er Kenntnisse aus der Trigonometrie und der Funktionentheorie zur Lösung von Gleichungen, setzt zahlentheoretische Überlegungen ein und nutzt geometrische Darstellungen. Immer wieder verweist er auch auf die Verbindung und den Zusammenhang zwischen reiner und angewandter Mathematik, der ihm besonders mit Blick auf den Schulbetrieb für unerlässlich erschien:

Denken Sie sich, um die Sache kraß auszudrücken, an einer Schule etwa einen Lehrer angestellt, der Zahlen nur als bedeutungslose Symbole behandelt, einen zweiten, der es versteht, von diesen Symbolen den Übergang zu den wirklichen Zahlen zu vollziehen, einen dritten, vierten, fünften endlich, der die Anwendung dieser Zeichen in der Geometrie, der Mechanik, der Physik kennt; und nun werden diese verschiedenen Lehrer nebeneinander auf die Schüler losgelassen. Sie sehen, daß eine solche Unterrichtsorganisation unmöglich ist; […] (Klein 1933, S. 17)

Diese Art der Vernetzung lässt sich der Klassifikation von Brinkmann (2008) folgend als fachsystematische Vernetzung beschreiben, bei der es um die „Herausstellung gemeinsamer Strukturen zweier mathematischer Konzepte“ (Brinkmann 2008, S. 87) geht. Lernpsychologische Vernetzungen (vgl. hierzu Brinkmann 2008, S. 93) spielen in der Vorlesung hingegen – wenig überraschend – eine untergeordnete Rolle.Footnote 6

3.2 Das Prinzip der Veranschaulichung

Bereits im 17. Jahrhundert prägte das Prinzip der Anschauung die pädagogische und didaktische Diskussion und gilt bis heute nicht nur bezogen auf die Mathematik als anerkanntes didaktisches Prinzip (vgl. Lorenz 1992, S. 3). Bei Klein kann in Hinblick auf seine Vorlesung von einem Primat der Anschauung gesprochen werden.

Das Hauptziel eines jeden Kapitels ist es, eine Anschauung zu den einzelnen Themen zu vermitteln und gleichzeitig den Bezug zu einer logisch strengen Darstellung herzustellen. Wenig verwunderlich ist dabei, dass Klein häufig auf geometrische Repräsentationen zurückgreift. Hinzu kommen prototypische Beispiele. So werden den „mathematischen Betrachtungen“ (Klein 1933, S. 244) zum Taylorschen Lehrsatz zunächst konkrete Beispiele vorangestellt, die die Aussage des Lehrsatzes veranschaulichen sollen. Und schließlich nutzt Klein eine Vielzahl von Metaphern um eine bestimmte Anschauung zu erzeugen. Dies geschieht nicht nur in programmatischen Teilen, wenn er die Mathematik mit einem Tier oder einem wachsenden Baum vergleicht (vgl. Klein 1933, S. 16f), sondern auch um bestimmte mathematische Sachverhalte zu beschreiben. Ein PunktgitterFootnote 7 vergleicht er mit dem „Sternenhimmel“. Vom Punkt 0 sieht man in alle „rationalen Richtungen“ Punkte dieses Himmels – ein Anblick, den Klein mit dem der „Milchstraße“ vergleicht (vgl. Klein 1933, S. 47f).

Übertragen auf die heutige Sprechweise kann von einem Wechsel zwischen unterschiedlichen ikonischen und symbolischen Repräsentationsformen gesprochen werden. Dies spiegelt eine didaktische Orientierung wider, die auch aus heutiger Sicht tragfähig ist oder sein kann.

Sie grenzt sich damit von der heute an Universitäten stark durch fachmathematisches Vokabular geprägten Sprache ab und scheint dadurch zugänglicher bzw. elementarer, da sie an die Erfahrungswelt der Lernenden anknüpft. Inwieweit eine solche Gegenüberstellung der Alltags- und Fachsprache als von Klein bewusst eingesetztes Veranschaulichungsmittel angesehen werden kann oder dem zu Kleins Zeit üblichen Sprachduktus geschuldet ist, kann und soll im Rahmen dieses Artikels nicht geklärt werden.

3.3 Das Prinzip der Anwendungsorientierung

In den Prüfungsordnungen von 1882 und 1887 war im Fach Mathematik keine Prüfung in angewandter Mathematik vorgesehen, da dies die Zahl der Studierenden deutlich schmälerte (vgl. Klein 1905b, S. 485). Dies wurde in den nachfolgenden Jahren nicht nur von Klein stark kritisiert, da die angewandte Mathematik dadurch in den Schulen keinen hohen Stellenwert entwickelte. Dadurch wurden die Schüler insbesondere nicht auf ein Studium an technischen Hochschulen vorbereitet. Die Situation verbesserte sich zwar durch die Einführung der Lehrbefähigung für angewandte Mathematik, in den Schulen direkt änderte sich jedoch nur wenig. Eine klare Trennung zwischen angewandter und reiner Mathematik blieb zunächst bestehen.

Die Frage nach der Stellung der angewandten Mathematik in Schule und Hochschule war Anfang des 20. Jahrhunderts ein nach wie vor aktuelles und viel diskutiertes Thema. Die explizite Forderung nach mehr Anwendungsorientierung in den Lehrplänen der Meraner Reform ist ein Beispiel dafür (vgl. Blum 1985, S. 196). Damit einher geht die Diskussion geeigneter Beispiele und die Abgrenzung echter Modellierungsaufgaben von eingekleideten Aufgaben.

Die Diskussion um Anwendungsorientierung führt Klein auch in seiner Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus:

[M]an sollte im ganzen Unterricht, auch auf der Hochschule, die Mathematik stets verknüpft halten mit allem, was den Menschen gemäß seinem sonstigen Interesse auf seiner jeweiligen Entwicklungsstufe bewegt und was nur irgend in Beziehung zur Mathematik sich bringen läßt. (Klein 1933, S. 4)

Dementsprechend verweist er auch inhaltlich immer wieder auf mögliche Anwendungen. Aufgrund der mathematischen Vorbildung der Studenten kann Klein in seiner Vorlesung naturgemäß vergleichsweise authentische Anwendungen präsentieren, so widmet er der Lehre der kleinen Schwingungen, insbesondere Pendelschwingungen (vgl. Klein 1933, S. 201–205), ein ganzes Kapitel. Er ordnet dort einen Teil des physikalischen Schulcurriculums in die Theorie der goniometrischen Funktionen ein. Inwiefern solche Beispiele auch in der Schule einsetzbar sind, diskutiert er nur begrenzt. Anwendungsorientierung versteht er dabei einerseits als Fortschreibung des Vernetzungsgedankens, andererseits als Mittel der Veranschaulichung (vgl. Allmendinger 2014a, Kapitel 4). Es geht Klein dabei aber nicht explizit um die Aktivierung von typischen handlungsorientierten Modellierungskompetenzen, wie beispielsweise Vereinfachen, Strukturieren, Mathematisieren oder Problemlösen (vgl. etwa Hinrichs 2008, S. 18–25). Dennoch leistet Klein aus wissenschaftstheoretischer Sicht einen Beitrag zum Gesamtbild der Mathematik und bietet stoffbezogene Hilfen für die Motivation und Veranschauulichung von mathematischen Inhalten an – beides Blum zufolge wichtige Ziele eines anwendungsorientierten Unterrichts (vgl. Blum 1985, S. 213).

3.4 Das genetische Prinzip

Klein gilt als Förderer der genetischen Unterrichtsmethode, die bis heute in der Mathematikdidaktik und Pädagogik als zentrales didaktisches Prinzip verstanden wird (vgl. etwa Schubring 1978). In Kleins Vorlesung lassen sich zentrale Merkmale des genetischen Prinzips nachweisen:Footnote 8 Klein wählt an vielen Stellen bewusst ein induktives Vorgehen, bezieht die Entstehungsgeschichte mit ein und legt stets einen Fokus auf den Entstehungsprozess von Mathematik und die damit verbundenen mathematischen Denk- und Arbeitsweisen.

Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Klein zufolge sich der Lehrbetrieb in der Hochschule durch eine logische und systematische Vorgehensweise auszeichne und sich dadurch vom Schulunterricht abgrenze (Klein 1933, S. 6). Dieser Unterschied sei mitverantwortlich für die doppelte Diskontinuität, eine methodische Anpassung ist daher von Nöten. Es geht Klein aber nicht vorrangig um eine Angleichung der Methoden, etwa in Form eines Kompromisses. Vielmehr befürwortet er das genetische Prinzip auch für die direkten Ziele des Hochschulunterrichts:

Wissenschaftlich unterrichten kann nur heißen, den Menschen dahin bringen, dass er wissenschaftlich denkt, keineswegs aber ihm von Anfang an mit einer kalten, wissenschaftlich aufgeputzten Systematik ins Gesicht zu springen. (Klein 1933, S.  289)

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die der Vorlesung zugrunde liegenden Prinzipien der Vernetzung, der Veranschaulichung, der Anwendungsorientierung und das genetische Prinzip von Klein bewusst und aus einer didaktischen Motivation heraus eingesetzt werden. Auch wenn naturgemäß Unterschiede zur aktuellen mathematikdidaktischen Diskussion erkennbar sind, können immer wieder Überschneidungen und Anknüpfungspunkte benannt werden.

4 Kleins Vorlesung als didaktisch orientierte Sachanalyse

Im Folgenden soll gezeigt werden inwiefern Kleins fachliche Untersuchungen als eine frühe Form der didaktisch orientierten Sachanalyse bezeichnet werden können. Zunächst wird der dafür gewählte Bezugsrahmen vorgestellt.

4.1 Die didaktisch orientierte Sachanalyse als stoffdidaktisches Instrument

Unter diesem Begriff, der von Griesel eingeführt wurde, versteht man heute die Arbeitsweise der Stoffdidaktik, in der mathematische Hintergrundtheorien zu Unterrichtsinhalten untersucht werden. Ziel ist es mit rein mathematischen Methoden den ‚Kern‘ eines mathematischen Gegenstandes zu erfassen (vgl. Griesel 1971, S. 79). Die Didaktik geht in Griesels Verständnis nur im Sinne einer didaktischen Vorentscheidung ein. Diese kann alleine in der Wahl des zu behandelnden Gegenstands liegen oder in der Entwicklung einer ‚geeigneten‘ Hintergrundtheorie (vgl. Griesel 1971, S. 79f).

Diese (didaktisch orientierte) mathematische Analyse wird bis heute kontrovers bezüglich ihres eigentlichen didaktischen Gehalts diskutiert, da sie zwar den Anforderungen der Mathematik in vollem Umfang genügt, bezüglich ihres mathematikdidaktischen Gehalts jedoch vage und willkürlich wirken kann (vgl. Vohns 2007, S. 74). Der Grat zwischen dieser Form der Analyse und einer rein elementarmathematischen Arbeit ist sehr schmal.Footnote 9

Aber auch die im engeren Sinne didaktisch orientierte Sachanalyse wird in ihrer Reichweite als sehr eingeschränkt angesehen. Die dadurch entwickelten Hintergrundtheorien lassen sich nicht ohne weiteres vergleichen. Eine Evaluation muss mit den Mitteln der empirischen Forschung (vgl. Griesel 1971, S. 78) oder durch weiterführende normative Überlegungen geleistet werden.

Zudem ist die Reduktion des didaktischen Dreiecks (Schüler – Lehrer – Sache) auf die Dimension der ‚Sache‘, die bei dieser Vorgehensweise üblich ist, umstritten. Steinbring kritisiert die dabei einerseits zu stark produktorientierte Sicht auf die Mathematik, andererseits die Vernachlässigung der Konstruktion des mathematischen Wissens im Lehrer-Schüler-Gespräch (vgl. auch Vohns 2007, S. 75f).

Daher wurden inzwischen verschiedene Vorschläge entwickelt, sachanalytische Verfahren zu erweitern. Bei Vohns dienen beispielsweise grundlegende Ideen der Erschließung des mathematischen Inhalts und liefern somit ein Instrument, mit dessen Hilfe eine „Öffnung des Analyseverfahrens weg von einer rein fachmathematisch organisierten ‚Lernstoffanalyse‘ hin zu einer bildungstheoretisch motivierten Analyse“ (Vohns 2007, S. 85) möglich ist. Jahnke ergänzt unter dem Namen der „didaktischen Rekonstruktion“ die Erschließung der mathematischen Hintergrundtheorie durch das Herausarbeiten der „zugrunde liegende[n] Fragen, seine[r] Notwendigkeit und […] seine[r] Genese“ (Jahnke 1998, S. 72).

4.2 Didaktisch orientierte Sachanalysen bei Felix Klein

Der Vorlesung geht eine didaktische Vorentscheidung bezüglich der Stoffauswahl voraus: Klein behandelt ausschließlich mathematische Gegenstände, die seiner Meinung nach für den Unterricht des zukünftigen Lehrers wichtig sind (vgl. Klein 1933, S. 2). Auch wenn diese Vorentscheidung teilweise in Frage gestellt werden kann,Footnote 10 lässt sich die gesamte Vorlesung in gewissem Sinne als zulässige didaktisch orientierte Sachanalyse oder – da Klein in vielen Fällen nur den Anstoß gibt und die mathematische Analyse seinen Hörern zur Nachbereitung überlässt – als Anregung zu einer didaktisch orientierten Sachanalyse bezeichnen.

In vielen Fällen belässt es Klein bei der didaktischen Vorentscheidung der Stoffauswahl und macht es sich dann zur Aufgabe, eine für Lehrer geeignete auf die in Abschnitt 3 dargestellten Prinzipien aufbauende Darstellung zu wählen. An einigen Stellen geht er aber auch darüber hinaus, indem er explizit eine neue, vom üblichen Vorgehen in der Schule abweichende Hintergrundtheorie entwickelt oder zumindest hervorhebt.

Ein Beispiel ist die Einführung der Logarithmen. Klein kritisiert bei der damals praktizierten Einführung unter anderem einerseits die fehlende oder nur unzureichende Klärung, inwiefern die Wahl der Basis \(\lim_{n\to\infty}\left(1+\frac{1}{n}\right)^{n}(=:e)\) die kanonische oder natürliche sei und andererseits die teilweise willkürlich wirkenden Einschränkungen bezüglich des Definitionsbereichs (vgl. Klein 1933, S. 156f): Er bezieht sich dabei auf die Definition der Potenz- und Logarithmusfunktionen mit den zugrunde liegenden Gleichungen \(x=b^{y}\) und \(y=\log_{b}x\). Stetige Funktionen lassen sich nur für b > 0 durch diese Gleichungen beschreiben, würde doch x ansonsten für ganzzahlige y-Werte alternierend positive und negative, für rationale y-Werte teilweise sogar imaginäre Werte annehmen. Insbesondere gilt für rationale \(y=\frac{m}{n}\) der Zusammenhang \(x=b^{\frac{m}{n}}=\sqrt[n]{b^{m}}\), so dass für gerade n je zwei reelle x diese Gleichung erfüllen (im Komplexen existieren sogar n Lösungen). Damit durch \(y=\log_{b}x\) eine Funktion beschrieben werden kann, entscheidet man sich für den „Hauptwert“Footnote 11, das entspricht bei reellen Zahlen gerade dem positiven Wurzelwert (vgl. Klein 1933, S. 156). Anschaulich ist jedoch nicht nachvollziehbar, so Klein, dass „sich gerade die Hauptwerte rechts zu einer kontinuierlichen […] Kurve ergänzen lassen und ob oder warum nicht auch die negativen links markierten Werte eine ähnliche Vervollständigung gestatten“ (Klein 1933, S. 156).

Abb. 1
figure 1

Logarithmusfunktion (ähnlich bei Klein 1933, S. 156)

Um dies einzusehen, sind tiefere funktionentheoretische Untersuchungen notwendig, die mit schulmathematischen Mitteln nicht möglich sind. Sein „allgemeines Unbehagen“ mit der herkömmlichen Einführung begründet er damit vergleichsweise präzise und mit hauptsächlich mathematischen Argumenten.

Er erarbeitet daher als Alternative konkret und zudem historisch motiviert eine Hintergrundtheorie, die einen anderen, bis dato noch nicht praxiserprobten Zugang zu der Fragestellung beschreibt: Klein bezieht sich bei seinen Ausführungen auf die Gedankengänge des Schotten John Napier (1550–1617) und des Schweizers Jobst Bürgi (1552–1632), welche die ersten „wirklichen Logarithmentafeln“ (Klein 1933, S. 158) berechneten. Beide verfolgen scheinbar, so Klein, das Ziel, jedem (positiven reellen) Wert x seinen Logarithmus zuzuordnen und gehen dabei, ähnlich wie es Klein auch bezüglich des Vorgehens auf der Schule beschreibt, von den Lösungspaaren der Gleichung \(x=b^{y}\) aus, wobei zunächst nur ganzzahlige y eingesetzt werden. Statt aber, wie in der Schule gebräuchlich, bei beliebigem festem b zu rationalen y überzugehen, wählen sie zunächst b sehr nahe bei 1 – Bürgi verwendet b = 1,0001, Napier b = 0,9999999 – und erhalten damit alleine durch das Einsetzen ganzzahliger Werte y schon relativ viele, dicht aufeinanderfolgende x-Werte und umgehen damit insbesondere das Problem der Mehrdeutigkeit, das beim Übergang zu rationalen y auftreten würde (vgl. Klein 1933, S. 159f).

Randbemerkung:

Die von Klein suggerierte Analogie der beiden Zugänge ist mathematikhistorisch kritisch zu hinterfragen. Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Zugänge nämlich wesentlich voneinander. Während Bürgi mithilfe arithmetischer Mittel Logarithmentafeln erstellte, ging Napier von einer kinematischen Sichtweise aus und stellte seine Ergebnisse, anders als von Klein suggeriert, nicht als Logarithmentafel dar (vgl. Clark & Montelle 2012, S. 263f).Footnote 12 Für Bürgi lassen sich Kleins Ausführungen zwar bestätigen. Allerdings muss einem in diesem Abschnitt bewusst sein, dass Klein zwar einen historischen Blick als Ausgangspunkt wählt. Die Folgerungen die er daraus zieht – aus fachlicher Sicht korrekt – entsprechen aber nicht dem, was Bürgi oder gar Napier im Sinn hatten. An dieser Stelle kann also nicht mehr von einem historisch-genetischen Vorgehen im engeren Sinne gesprochen werden. Vielmehr zeichnet er in „grossen Zügen“ (Klein 1933, S. 157) über mehrere Jahrzehnte eine geschichtliche Entwicklung nach. Mit Blick auf die aus fachlicher Sicht gewonnene Hintergrundtheorie eines schulmathematischen Themas, ist dieser Abschnitt jedoch von grosser Relevanz und wird daher an dieser Stelle ausgeführt.

Der Abstand zweier gewonnener aufeinanderfolgender x-Werte Bürgis Vorgehen folgend ist

$$\Delta x=(1,0001)^{y+1}-(1,0001)^{y}=(1,0001)^{y}(1,0001-1)=\frac{x}{10^{4}}$$

oder, betrachtet man den Kehrwert und bezeichnet die Differenz 1 der Exponenten allgemeiner als \(\Delta y\):

$$\frac{\Delta y}{\Delta x}=\frac{10^{4}}{x}$$
(1)

Durch geeignete Skalierung bzw. „Versetzung des Dezimalkommas der Logarithmen“ (Klein 1933, S. 160) ergibt sich eine Zahlenreihe, die der Differenzengleichung

$$\frac{\Delta y}{\Delta x}=\frac{1}{x}$$
(2)

genügt (vgl. Klein 1933, S. 160).

An dieser Stelle kann einem bereits auffallen, auf was Klein mit seinen Ausführungen hinaus will: Die vorliegende Differenzengleichung erinnert stark an die Differentialgleichung des Logarithmus. Bevor gezeigt wird, wie Klein diesen Bezug expliziert und damit die Entstehung von Mehrdeutigkeiten vermeidet, gehen wir an dieser Stelle dem nach, was Klein unter „Versetzung des Dezimalkommas“ versteht. Um dies einzusehen mache man sich zunächst folgendes klar:

Die von Klein vorgestellte Differenzengleichung (2) gilt im Allgemeinen nicht, was sich direkt nachrechnen lässt. Dazu betrachte man eine beliebige Basis \(b=1+\beta\neq 1\) (β beliebig).Footnote 13 Mit

$$x:=(1+\beta)^{y}\;\;\;\text{und}\;\;\;x+\Delta x:=(1+\beta)^{y+\Delta y}$$

ergibt sich für die Differenz der x-Werte:

$$\begin{aligned}\displaystyle\Delta x&\displaystyle=(x+\Delta x)-x=(1+\beta)^{y}\left((1+\beta)^{\Delta y}-1\right)\\ \displaystyle&\displaystyle=x\cdot\left(\sum_{\nu=1}^{\infty}\binom{\Delta y}{\nu}\beta^{\nu}\right)\\ \displaystyle&\displaystyle=x\cdot\Delta y\beta+x\cdot\left(\sum_{\nu=2}^{\infty}\binom{\Delta y}{\nu}\beta^{\nu}\right)\\ \displaystyle\end{aligned}$$

Daraus folgt:

$$\frac{\Delta y\beta+S}{\Delta x}=\frac{1}{x}\hfill\text{mit}\;\;\;S:=\sum_{\nu=2}^{\infty}\binom{\Delta y}{\nu}\beta^{\nu}$$

Für den ‚Störterm‘ S gilt im Allgemeinen \(S\neq 0\), es sei denn \(\beta=0\) oder – und diesen Fall betrachtet Klein zunächst – \(\Delta y=1\). Damit erhält man für die Bürgische Basis (\(\beta=10^{-4}\)) die von Klein angegebene Differenzengleichung (vgl. Gleichung (1))Footnote 14

$$\left.\frac{\Delta y}{\Delta x}\right|_{\Delta y=1}=\frac{10^{4}}{x}\;.$$

Allgemein ergibt sich für beliebiges β:

$$\left.\frac{\Delta y}{\Delta x}\right|_{\Delta y=1}=\frac{\beta^{-1}}{x}\;\;\;\;\text{oder auch }\;\;\;\;\left.\frac{\Delta y\cdot\beta}{\Delta x}\right|_{\Delta y=1}=\frac{1}{x}\;.$$
(3)

Betrachtet man, Klein folgend, statt positiver ganzzahliger Werte y hingegen die Werte \(\tilde{y}=y\cdot\beta\),Footnote 15 so erhalten wir die von Klein angegebene skalierte DifferenzengleichungFootnote 16

$$\left.\frac{\Delta\tilde{y}}{\Delta x}\right|_{\Delta\tilde{y}=\beta}=\frac{1}{x}\;,$$

Während Bürgi also schrittweise y-Werte einsetzt, die jeweils um 1 wachsen, reduziert Klein durch dieses Vorgehen die Schrittweite auf \(10^{-4}\). Dieses Verfahren ließe sich fortsetzen – je kleiner β gewählt wird, umso kleiner die Schrittweite, wobei Klein damit aber immer wieder zu neuen Exponentialfunktionen übergeht. Im Extremfall Extremfall \(\beta\rightarrow 0\) ergibt sich als Basis die Eulersche Zahl e:

$$e:=\lim_{\beta\rightarrow 0}\left(1+\beta\right)^{\frac{1}{\beta}}=\lim_{n\rightarrow\infty}\left(1+\frac{1}{n}\right)^{n}$$

Denn die zu Beginn beschriebene Folge von x-Werten, die durch sukzessives Einsetzen positiver ganzer Zahlen entstand, lässt sich mit der skalierten Folge gewissermaßen durch einen Basiswechsel rekonstruieren, wenn man die Gültigkeit des 5. Potenzgesetzes voraussetzt:

$$x=(1+\beta)^{y}=(1+\beta)^{\frac{1}{\beta}\tilde{y}}=\left((1+\beta)^{\frac{1}{\beta}}\right)^{\tilde{y}}\;.$$

Da Klein jedoch gerade die Festlegungen umgehen möchte, die beim Potenzieren mit rationalen Exponenten aufgrund von Mehrdeutigkeiten notwendig sind (vgl. Klein 1933, S. 160), kann er die Potenzregeln für rationale y nicht voraussetzen. Er wählt daher zunächst eine alternative Deutung:

Eine andere geometrische Deutung, bei der wir die Exponentialkurve noch nicht voraussetzen brauchen, die uns vielmehr den naturgemäßen Weg zu ihr zeigen wird, erhalten wir, wenn wir die Differenzengleichung (2) [Nummerierung angepasst durch H.A.] durch [eine] Summengleichung ersetzen (gewissermaßen sie ‚integrieren‘)[.] (Klein 1933, S. 160)

Indem er von der Differenzengleichung (2) zu einer Summengleichung übergeht, bedient er sich erneut eines Kunsgriffs, mit Hilfe dessen er die Definition des Logarithmus als Flächeninhaltsfunktion der Hyperbel motiviert.

Abb. 2
figure 2

Hyperbelinhalt (ähnlich bei Klein 1933, S. 161)

Wie oben graphisch dargestellt lässt sich die Summengleichung deuten, als Flächeninhalt der Hyperbel einbeschriebenen Rechtecke. Der Bürgische Logarithmus von x ist dann gerade die 104-fache Summe all dieser Rechtecke.Footnote 17

Von dieser letzten Deutung aus wird man nun unmittelbar zum natürlichen Logarithmus geführt, indem man statt der Rechtecksumme unmittelbar den von der Hyperbel selbst zwischen den Ordinaten \(\xi=1\) und \(\xi=x\) umschlossenen Flächeninhalt verwendet. (in der Abbildung schraffiert; in der Formel drückt sich das bekanntlich so aus:

$$\text{log nat }x=\int_{1}^{x}\frac{\mathrm{d}\xi}{\xi}.$$

(Klein 1933, S. 161)

Randbemerkung:

Auffallend ist, dass Klein nicht nur an dieser Stelle mathematischen Gedankengänge sehr knapp wiedergibt, ohne diese im Detail auszuführen. Dies verlangt vom Hörer bzw. Leser stets einen hohen Anteil an eigener Gedankenarbeit um Kleins Ideen nachzuvollziehen, wie am Beispiel der Reskalierung der Differenzengleichung deutlich wird. Auch der zweite Schritt – der Übergang zur Summengleichung und schliesslich der Grenzübergang zum natürlichen Logarithmus – ist keineswegs trivial. An dieser Stelle begnüge ich mich aber damit, den Gedankengang in Kürze nachzuzeichnen und diskutiere nun, inwiefern Kleins Ausführungen damit als didaktisch orientierte Sachanalyse angesehen werden kann.

Klein zufolge soll dieser Zugang jedoch nicht im Mathematikunterricht erarbeitet oder vorgestellt werden. Sie dient ihm lediglich als Rechtfertigung seiner Forderung, den Logarithmus als Hyperbelflächenfunktion einzuführen:

Der oberste Grundsatz ist, daß die richtige Quelle zur Einführung neuer Funktionen die Quadratur bekannter Kurven ist. (Klein 1933, S. 168)

Zumindest vordergründig umgeht Klein damit die von ihm angesprochenen Kritikpunkte. Führt man den Logarithmus als Integral der Hyperbel ein, so sind zunächst keine der oben beschriebenen Einschränkungen nötig, die im Rahmen einer stetigen Erweiterung der Logarithmusfunktion auf \(\mathbb{R}^{+}\) gemacht werden müssten. Auch kommt bei diesem Vorgehen dem Logarithmus zur Basis e eine besondere und in gewissem Sinne natürliche Rolle zu: Der Logarithmus zu einer beliebigen Basis b wird mittels des Zusammenhangs \(b=e^{lnb}\) über den natürlichen Logarithmus definiert.

Aus Sicht aktueller Mathematikdidaktik lässt sich Kleins Vorschlag hinterfragen:

Ungeachtet der Tatsache, dass heute zum Zeitpunkt der Einführung des Logarithmus noch keine analytischen Mittel zur Verfügung stehen, die ein solches Vorgehen erlauben würden (vgl. Weber 2013, S. 87), handelt es sich bei Kleins Vorschlag um eine „(strukturelle) Vereinfachung durch Spießumkehr, die den Zugang eher erschwert“ (Kirsch 1977, S. 89) – Freudenthal prägte hierfür den Begriff der antididaktischen Inversion:Footnote 18 „die Gedanken, die uns zum Resultat führten, verheimlichen wir“ (Freudenthal 1973, S. 101): Die ursprüngliche Aufgabe, von der Gleichung \(x=b^{y}\) ausgehend „jeder Zahl x ein Logarithmus zuzuordnen“ (Klein 1933, S. 159), wird in Kleins Vorschlag jedoch erst am Ende, gewissermaßen als Nebenprodukt der Integration der (Normal-)Hyperbel, thematisiert.

Auch bemüht Klein weder lernpsychologisches noch bildungstheoretisches Wissen, das es heute auch im Rahmen stoffdidaktischer Arbeiten mit einzubeziehen gilt. Zudem ist anzunehmen, dass Klein bei seinen didaktischen Vorentscheidungen häufig zuerst die Zielgruppe der potentiellen Mathematikstudenten im Blick hat und daher insbesondere auch bei Unterrichtsvorschlägen die Anschlussfähigkeit an die Hochschulmathematik einen großen Stellenwert einnimmt – so betont er, dass die Einführung des Logarithmus über die Integration der Hyperbel nicht nur dem historischen Verlauf nachempfunden sei, sondern auch „dem Vorgehen in den höheren Teilen der Mathematik“ (Klein 1933, S. 168) entspreche.

Ungeachtet davon kann aber festgehalten werden, dass Klein stoffdidaktisch im Sinne der engen Kriterien einer didaktisch orientierten Sachanalyse arbeitet. Vor dem Hintergrund einer didaktischen Vorentscheidung – beispielsweise dem aus seiner Sicht problematischen Zugang zur Logarithmusfunktion an der Schule – erfasst er mit mathematischen Methoden den ‚Kern‘ des mathematischen Gegenstandes und entwickelt eine ‚geeignete‘ Hintergrundtheorie. Teilweise geht er sogar darüber hinaus, wenn er die Genese eines Gegenstandes zur Begründung heranzieht. Damit könnte seine Art der Sachanalyse kühn als früher Vorläufer einer didaktischen Rekonstruktion im Verständnis Th. Jahnkes (Jahnke 1998, S. 66) angesehen werden.

5 Kleins didaktische Haltung – Analyse der Randbemerkungen

Prinzipiell geht es Klein damit eher um eine inhaltliche didaktische Orientierung, die sich einerseits in seinen Reformbestrebungen (vgl. Abschnitt 1.2) und andererseits in seinen didaktisch orientierten Sachanalysen (vgl. Abschnitt 4) zeigt. Die methodische Umsetzung überlässt er eigentlich erfahrenen Praktikern:

[W]ie sich dabei die Durchführung im einzelnen zu gestalten hat, das muß natürlich der erfahrene Schulmann entscheiden. (Klein 1933, S. 169)

Dennoch zeigt sich, dass Klein die Umsetzung im Unterricht zumindest in Teilen mitdenkt. Diese will ich im Folgenden als Prinzipielle Forderungen für den Unterricht zusammenfassen.

Forderung 1:  Im Unterricht muss „eine stärkere Hervorhebung der Richtung B“ (Klein 1933, S. 92) angestrebt werden.

In einem Zwischenstück Über die moderne Entwicklung und den Aufbau der Mathematik überhaupt (Klein 1933, S. 82–92), das zwischen den Teilen Arithmetik und Algebra lokalisiert ist, unterscheidet Klein zwei Entwicklungsreihen der Mathematik, die er schlicht mit ‚A‘ und ‚B‘ bezeichnet. Die Entwicklungsreihe B lässt sich durch die Prinzipien charakterisieren, die in Abschnitt 3 beschrieben wurden.Footnote 19 Und genau diese gilt es Klein zufolge auch in der Schule umzusetzen. Sie können, im Sinne Kleins, als didaktische Leitideen für den Unterricht verstanden werden. So fordert Klein konkret die Umsetzung der „genetische[n] Unterrichtsmethode“, „eine stärkere Betonung der Raumanschauung“, „die Voranstellung des Funktionsbegriffs“, die im Sinne einer grundlegenden Idee auch als methodisches Prinzip angesehen werden kann, sowie die „Fusion von Raum- und Zahlvorstellung“ (vgl. Klein 1933, S. 92).Footnote 20 Auch wenn sich diese Prinzipien zunächst auf den Inhalt der Vorlesung beziehen, so lassen sie sich beinahe nahtlos auf den Schulunterricht übertragen. Dies wird von Klein auch explizit vorgeschlagen, wenn er beispielsweise bei der Einführung des Taylorschen Lehrsatzes einen anschaulich graphischen Zugang wählt (vgl. Klein 1933, S. 241–244) und besonders darauf hinweist, dass sich ein solches Vorgehen mit angemessenen Einschränkungen auch für die Schule eignet (vgl. Klein 1933, S. 244).

Forderung 2:  Im Unterricht muss für die Erfassung grundlegender Gedankenschritte ausreichend Zeit eingeplant werden.

Klein macht wiederholt darauf aufmerksam, an welchen Stellen seiner Meinung nach bei Schülern Verständnishürden auftauchen können, was bereits in Abschnitt 1.3 angesprochen wurde. So beschreibt er beispielsweise die Einführung der Buchstabenrechnung als ersten und entscheidenden Abstraktionschritt (vgl. Klein 1933, S. 8). Für dererlei Stellen, so Klein, müsse man sich im Unterricht besonders viel Zeit nehmen:

Freilich darf sich dieser Übergang an der Schule durchaus nicht plötzlich vollziehen, sondern der Schüler muß allmählich an so starkes Abstrahieren gewöhnt werden. (Klein 1933, S. 8)

Auch wenn Klein an diesen Stellen naturgemäß keine systematische lerntheoretische Analyse anschließt, sondern vor allem die Lösung darin sieht, sich der Schwierigkeiten bewusst zu sein, so ist hervorzuheben, dass er Themen und Problemfelder der heutigen mathematikdidaktischen Forschung, wie beispielsweise der Übergang von der Arithmetik zur Algebra oder das Bruchzahlverständnis, anspricht.

Forderung 3:  Der Unterricht kann keine vollständige theoretische Fundierung der Mathematik liefern. Mathematische Sachverhalte sollten stattdessen an Beispielen verdeutlicht und hergeleitet werden.

Für den Mathematikunterricht (an Schule und Hochschule) befürwortet Klein ein eher induktives Vorgehen – es geht also darum vom Phänomen ausgehend und am Beispiel illustrierend eine mathematische Theorie zu entwickeln. Diese Vorstellung konkretisiert er beispielsweise im Kapitel zum Taylorschen Lehrsatz (Klein 1933, vgl. S. 241–253), wo anhand konkreter Beispiele Näherungsparabeln mit steigender Ordnung graphisch dargestellt werden aber auch im Kapitel zur Algebra, wo er zunehmend den Schwierigkeitsgrad erhöht und die Lösungen anhand konkreter Beispiele expliziert. Seine Beispiele sind nicht nur Ausgangspunkt für die phänomenologische induktive Herangehensweise der Vorlesung, sondern können auch als bereitsgestelltes Unterrichtsmaterial verstanden werden:

Die Vorführung einer solchen einfachen und anschaulichen Konstruktion [die geometrische Deutung und Lösung einer quadratischen Gleichung, H.A.] scheint mir auch für die oberen Klassen der Schule sehr geeignet. (Klein 1933, S. 94)

In der Schule sind Beispiele nicht nur wünschenswert, sondern essentiell: Klein vertritt dezidiert die Meinung, dass die theoretische Fundierung kein Anliegen der Schule sein kann, dass es hier vielmehr darum gehen muss, mathematische Sachverhalte beispielhaft zu illustrieren (vgl. bspw. Klein 1933, S. 11). Auch wenn er dies nicht explizit begründet, ist anzunehmen, dass er eine theoretische Grundlegung der Mathematik in den meisten Fällen schlicht für zu anspruchsvoll hält. So deutet er beispielsweise im Kapitel zum Logarithmus an, dass zwar „ein vollständiges inneres Verständnis solcher Probleme nur beim Übergang ins komplexe Gebiet möglich ist“ (Klein 1933, S. 174f), er glaubt jedoch nicht, „daß man den Durchschnitt der Schüler […] so weit führen kann“ (Klein 1933, S. 174).

Forderung 4:  Im Unterricht werden zwar mathematische Hintergründe nicht immer thematisiert. Dies darf aber nicht verschleiert oder gar verleugnet werden.

Klein kritisiert generell, dass mathematische Theorien und Argumente oft in der Schule genutzt werden, „ohne sie beim Namen zu nennen“ (Klein 1933, S. 202). Das Paradebeispiel hierfür ist sicherlich seine Forderung die Infinitesimalrechnung im Unterricht einzuführen (vgl. Abschnitt 1.2).

Es gibt jedoch auch Stellen im Unterricht, bei denen der mathematische Hintergrund nicht explizit thematisiert werden kann. Hier muss der Lehrer aber, so Klein, „die Klippen und Untiefen genau kennen, an denen er seine Schüler vorbeiführt“ (Klein 1933, S. 175). Entscheidend ist, dass Transparenz gewährleistet ist.Footnote 21 Besonders deutlich spricht Klein dies in seinen kritischen Bemerkungen zur Einführung der negativen Zahlen in der Schule an (vgl. Klein 1933, S. 30):

So kritisiert Klein, dass im Unterricht „immer wieder die logische Notwendigkeit der Zeichenregeln zu beweisen versucht“ (Klein 1933, S. 30) wird, statt die auf Grundlage des Permanzprinzips getroffene Festlegung als solche zu thematisieren. Dadurch wird das tragende „psychologische Moment […] mit einem logisch beweisenden Moment verwechselt“ (Klein 1933, S. 30).

Insgesamt lässt sich aus Rand- und Nebenbemerkungen Kleins schließen, dass dieser methodische Fragen zumindest in Teilen mitgedacht hat.

6 Oder doch: „Höhere Mathematik vom elementaren Standpunkt“?

Die nun beschriebene didaktische Perspektive bildet zusammen mit der fachmathematischen und mathematikhistorischen Perspektive und den in Kapitel 3 dargestellten Prinzipien eine Charakterisierung des Kleinschen höheren Standpunkts zur Elementarmathematik. In der englischen Übersetzung spricht man (im Moment) von einem „advanced standpoint“. Dies wird von Kilpatrick (2014) kritisiert. Nicht nur wäre „higher standpoint“ eine wörtlichere Übersetzung, auch würden mögliche Fehlinterpretationen damit vermieden; kann doch „advanced“ auch als weiter entwickelt oder zu einem späteren Zeitpunkt verstanden werden, was Klein nicht im Sinn hatte (Kilpatrick 2014, S. 11f).Footnote 22

Versteht man den höheren Standpunkt zur Elementarmathematik ausschließlich als ‚Elementarmathematik aus hochschulmathematischer Perspektive‘, scheint der Begriff „higher“ mit Blick auf die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit jedoch beinahe zu eng, da er die historische und didaktische Perspektive ausklammert.

Die hier abgebildete Didaktik eröffnet aber auch eine weitere Facette, die Klein in der Literatur bislang nicht zugesprochen wurde. So stellen Courant & Robbins (1962) und Kirchgraber (2008) beispielsweise das Kleinsche Konzept zwar nicht in Frage, behaupten aber beide es durch eine komplementäre Sichtweise zu ergänzen:

Kirchgraber baut sein Vorlesungskonzept der fachwissenschaftlichen Vertiefung mit pädagogischem Fokus an der ETH Zürich auf dem Kleinschen Gedanken auf und ergänzt ihn durch eine, wie er sagt, dazu „symmetrische Sichtweise“ (Kirchgraber 2008, S. 149):

Die Blickrichtung geht – metaphorisch gesprochen – nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben. Es wird demnach unterschieden zwischen

  • Elementarmathematik vom höheren Standpunkt ähnlich wie bei Klein, und

  • Mathematik vom elementaren Standpunkt. (Kirchgraber 2008, S. 148f)

Eine ähnliche Unterscheidung nehmen auch Courant & Robbins (1962) in ihrem Buch Was ist Mathematik? vor:

Das Buch wendet sich an einen weiten Kreis: an Schüler und Lehrer, an Anfänger und Gelehrte, an Philosophen und Ingenieure. Es mag vielleicht als Ergänzung zu Felix Kleins klassischem Werke ‚Elementarmathematik vom höheren Standpunkte‘ betrachtet werden, indem es ‚höhere Mathematik‘ von einem elementaren Standpunkte behandelt. (Courant & Robbins 1962, S. X)

Mit Blick auf die hier präsentierten Ergebnisse kann diese Interpretation der Kleinschen Vorgehensweise verwundern: Die Inhalte des Werks Was ist Mathematik? – laut den Autoren Teil der höheren Mathematik – überschneiden sich zu großen Teilen mit den Inhalten der Kleinschen Vorlesung, in der an vielen Stellen Themen behandelt werden, die weit über die Schul- bzw. Elementarmathematik hinausgehen (vgl. Abschnitt 2.1). Klein nutzt dabei die in Abschnitt 3 vorgestellten Prinzipien so, dass „alles ein ganz elementares, leicht faßliches Aussehen“ (Klein 1933, S. 241) erhält. Nimmt damit nicht auch Klein selbst einen elementaren Standpunkt zur höheren Mathematik ein?

Mithilfe der Analyseergebnisse können Argumente angeführt werden, die diese These stützen. Als Bezugsrahmen wähle ich die von Kirsch (1977) vorgestellten Aspekte des Vereinfachens, da dieser – analog zu Klein – das Vereinfachen bzw. das Elementarisieren in diesem Zusammenhang mit Zugänglich-machen identifiziert (vgl. Kirsch 1977, S. 87).Footnote 23

Kirsch benennt verschiedene Aspekte des Vereinfachens: Zugänglich-machen durch Hinzunahme des Umfeldes der Mathematik, durch Konzentration auf den mathematischen Kern des Gegenstandes, durch Anerkennen und Aktivieren von Vorwissen und durch Wechsel der Repräsentationsform. Er selbst bezieht sich dabei ausschließlich auf den Schulunterricht (vgl. Kirsch 1977, S. 89). Meines Erachtens lassen sich diese Aspekte aber auch nahezu direkt auf hochschulmathematische Vorlesungen übertragen und vor allem in der Kleinschen Vorlesung entdecken.

Bei der Hinzunahme des „Umfeldes“ der Mathematik soll, so Kirsch, dem Lernenden durch das Einbeziehen von Realitätsbezügen und Begriffsgenese der Zugang erleichtert werden (Kirsch 1977, S. 92). In diesem Sinn zieht auch Klein das Umfeld der Mathematik hinzu – einerseits durch das Prinzip der Anwendungsorientierung andererseits durch das genetisches Prinzip bzw. durch die historische Perspektive.

Scheinbar komplementär dazu wird bei der Konzentration auf den mathematischen Kern des Gegenstandes durch das „Abstreifen aller genetischen Elemente und Realitätsbezüge“ (Kirsch 1977, S. 90) realisiert. Im Rahmen seiner quasi stoffdidaktischen Analysen strebt auch Klein die Konzentration auf den mathematischen Kern an, dies geschieht aber, wie in Abschnitt 4 beschrieben, nicht völlig losgelöst von der Genese des Gegenstands.

Unter dem Anerkennen und Aktivieren von Vorwissen versteht Kirsch, „daß die Schüler im Unterricht ermutigt werden, vorhandenes Vorwissen, auch aus anderen Bereichen als der Mathematik, einzubringen und zu mobilisieren“ (Kirsch 1977, S. 93). Klein aktiviert in der Vorlesung Vorwissen – nämlich aus vorangegangenen Veranstaltungen–, aber nicht unbedingt im Verständnis von Kirsch, bei dem vorhandenes Wissen genutzt wird um neue Inhalte zu erschließen. In Kleins Elementarmathematik wird das Vorwissen aus den vorangegangenen Vorlesungen nicht an neue höhere, sondern an zugrunde liegende Inhalte angebunden: Es geht um eine Einbettung der Schulmathematik in die Hochschulmathematik. Klein schaut damit, anders als von Kirsch verstanden, in den meisten Fällen tatsächlich – in der Sprechweise von Kirchgraber (2008) – ‚von oben nach unten‘.

Mathematische Gegenstände können, so Kirsch, durch Veranschaulichung oder allgemeiner durch einen „Wechsel des Darstellungsmediums“ (vgl. Kirsch 1977, S. 99) zugänglich gemacht werden. Nach Bruner (1973) kann dabei zwischen enaktiven, ikonischen und symbolischen Repräsentationen unterschieden werden. Klein nutzt mit seinen geometrischen Veranschaulichungen hauptsächlich ikonische Repräsentationen. Hinzu kommen verbale und damit symbolische Repräsentationen in Form von Metaphern.

Damit kann die aufgestelle These, Klein nehme einen elementaren Standpunkt zur höheren Mathematik ein, nachvollzogen werden. Kleins Vorlesung können damit zwei Komponenten zugesprochen werden, die sich symmetrischer Sichtweisen bedienen. Klein nimmt einerseits einen durch die in den Abschnitten 3 und 2.1 beschrieben Prinzipien und Perspektiven charakterisierten höheren Standpunkt zur Elementarmathematik; andererseits liegt der Vorlesung auch ein elementarer Standpunkt zur höheren Mathematik zugrunde.

7 Ausblick: Was können wir von Klein lernen?

In diesem Artikel wurde die didaktische Perspektive Kleins, die er in seiner Vorlesungsreihe Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus einnimmt in ihren verschiedenen Facetten diskutiert. Es wurde skizziert, welche Prinzipien der Vorlesung zugrunde liegen und inwiefern diese auch heute noch, wenn auch in veränderter Form – präziser und differenzierter ausgestaltet – als wichtige didaktische Prinzipien aufgefasst werden können. So wird Anwendungsorientierung beispielsweise heute nicht nur inhaltlich verstanden, sondern mit bestimmten Handlungskompetenzen in Verbindung gebracht. Die Vorlesung enthält weiter Beispiele von frühen didaktisch orientierten Sachanalysen, in welche insbesondere auch die Genese und historische Entwicklung der untersuchten mathematischen Gegenstände einfließt. Schließlich zeigte die Analyse der Randbemerkungen, dass Klein auch eine allgemeine didaktische Haltung mit Blick auf den zukünftigen Schulunterricht seiner Studierenden einnahm.

Die in diesem Artikel präsentierten Ergebnisse ließen den Schluss zu, ein höherer Standpunkt, wie ihn Klein vertritt, sei in fachdidaktischen Veranstaltungen, wie sie heute guter Brauch sind, vollständig aufgehoben. Eine elementarmathematische Veranstaltung im Kleinschen Sinne wäre damit nicht mehr von Nöten. Dies würde jedoch den Blick auf die Kleinsche Vorlesung wesentlich verengen. Der höhere Standpunkt zeichnet sich nämlich durch alle drei Perspektiven – der fachmathematischen, der mathematikhistorischen und der fachdidaktischen – und deren Vernetzung untereinander aus.

Schon zu seinen Lebzeiten wurde Kleins Vorlesungskonzept jedoch hinterfragt. So kritisiert Toeplitz (1932) unter anderem die Auswahl der Themen, die seiner Meinung nach viel zu weit in die Hochschulmathematik reinragen. Ein Lehrer habe beispielsweise den Begriff der Tanszendenz zwar zu kennen, den Beweis allerdings müsse er nicht notwendig nachvollziehen (vgl. Toeplitz 1932, S. 2f). Implizit unterstreicht Meyer (1899) diese Auffassung mit seinem Repetitorium zur Elementarmathematik, welches, im Gegensatz zu Kleins Vorlesung, direkt für das erste Studiensemester vorgesehen war.

[Grundgedanke der Vorlesung ist,] daß man bei häufiger Durcharbeitung des Elementarstoffes nicht nur eine wesentliche Ersparnis an Gedanken- und Rechnungsarbeit erzielt, sondern in enger Verbindung damit höhere Gesichtspunkte fast von selbst einführt. (Meyer 1899, S. 148)

Der höhere Standpunkt zur Elementarmathematik, wie ihn Meyer in seinem Repetitorium entwickeln möchte, zeichnet sich im Wesentlichen durch drei Komponenten aus: Abstraktion, Verallgemeinerung und Erweiterung; Fundierung und Begründung sowie Reflektion und Variation. Neben inhaltlichen Zielen verfolgt er mit dieser Vorlesung vor allem das Ziel, den Respekt für den eigentlichen Schulstoff aufrecht zu erhalten (vgl. Meyer 1899, S. 148).

Toeplitz Hauptkritik bezieht sich auf das Verhältnis von Inhalt und Methode: Die Vorlesung habe eher enzyklopädischen Charakter. Er illustriert dies am Beispiel der Konstruktion mit Zirkel und Lineal: Klein behandelt beispielsweise die Nichtkonstruierbarkeit eines regelmäßigen Siebenecks. Der geneigte Leser wird, so Toeplitz, von diesen Ausführungen eine Erkenntnis gewinnen können, die in den Fachvorlesungen des Studiums nicht angebahnt wurde. Klein wird es aber in einer Überblicksvorlesung, wie er sie im Sinn hat, nicht gelingen, die Schwierigkeit – begrifflicher und methodischer Natur – zu überwinden, die dem Beweis durch die Verwendung der „schwierigsten Begriffe der höchsten Algebra“ (Toeplitz 1932, S. 5f) innewohnen. Klein vermittelt Toeplitz zufolge Wissen, der wünschenswerte höhere Standpunkt zeichne sich jedoch durch eine Einstellung zur Mathematik bzw. ein erreichtes Denkniveau aus (vgl. Toeplitz 1932, S. 5f).

Diese Einschätzung kann auf der Grundlage der in Allmendinger (2014a) herausgearbeiteten und hier vorgestellten Charakteristika der Kleinschen Vorlesung relativiert werden: Es kann gezeigt werden, dass die Kleinschen Perspektiven sich zu großen Teilen in der von Toeplitz beschriebenen Einstellung zur Mathematik spiegeln. Zudem lassen sich die Kleinschen Prinzipien in gewissem Sinne als methodische Leitideen ansehen.

Ob eine Einstellung, wie sie Toeplitz – und implizit auch Klein – vorschwebt, aber im Rahmen von Überblicksvorlesungen gelingt, kann in Frage gestellt werden. So betont Toeplitz, dass ein höherer Standpunkt oder eine geeignete Einstellung zur Mathematik nicht alleine durch die Präsentation von Beispielen, Ideen und Wissen erzeugt werden kann, sondern sich vor allem durch selbstständiges Erkunden und Üben entwickelt wird (vgl. Toeplitz 1932, S. 14). Dies kann nicht in einer einzigen Vorlesung gelingen, sondern muss von Beginn an Ziel des Studiums sein:

Die einzelnen Bestandteile einer Elementarmathematikvorlesung werden erst dann im Schulunterricht eigentlich wirksam, wenn im Rahmen der mathematischen Vorlesungen, denen jede einzelne angehört, der Hörer das Niveau erlangt, von dem aus er sie innerlich beherrschen kann. (Toeplitz 1932, S. 13)

Abschließend kann festgehalten werden, dass die im diesem Artikel vorgestellten Prinzipien und Perspektiven nicht nur den von Klein eingenommenen höheren Standpunkt charaktisieren, sondern sich als brauchbares Hilfsmittel für einen systematischen Vergleich (zeitgenössischer) elementarmathematischer Vorlesungen und deren zugrunde liegender Intentionen erweisen. Die Kleinschen Prinzipien und Perspektiven können damit auch für heutige Vorlesungen als Analyseinstrument genutzt werden und möglicherweise bei der Konstruktion und Entwicklung neuer Konzepte helfen. Abschließend formuliere ich dazu drei Thesen für eine moderne Adaption der Kleinschen Vorlesungsreihe, die die hier vorgestellten Ergebnisse aufnehmen:

These 1:

Eine Umsetzung von Kleins Ideen heute sollte nicht nur auf eine einzelne Vorlesung beschränkt sein und muss mit konkreten Anleitungen und ‚Übungsaufgaben‘ einhergehen.

These 2:

Es gilt den Respekt für die Schulmathematik zu erhöhen und den beweglichen Umgang mit dieser zu stärken. Dies kann insbesondere durch das explizite Anknüpfen an schulische Vorerfahrungen gelingen.

These 3:

Die Kleinsche Auffassung des höheren Standpunkts ist auch aus heutiger Sicht lohnend, kann jedoch mit unserem heutigen mathematikdidaktischen Wissen präziser und differenzierter kommuniziert und ausgestaltet werden.