1 Einleitung

Welche Wechselbeziehungen gibt es zwischen Bildungsverläufen und adoleszenten Entwicklungen junger Männer aus türkischen Migrantenfamilien, im Besonderen zwischen Bildungserfolgen und biografischen Erfahrungen in familialen Generationenbeziehungen? Wie können aus dieser Sicht Mechanismen der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen unter Migrationsbedingungen theoretisch gefasst und empirisch rekonstruiert werden? Welche Bedeutung haben adoleszente Umgestaltungs- und Ablösungsprozesse im Spannungsfeld von biographischer Transformation oder Reproduktion des elterlichen Status? Welche Rolle spielen dabei die Bildungsaspirationen der Eltern und wie werden diese im Zuge der adoleszenten Entwicklung seitens der Heranwachsenden adaptiert oder umgewandelt?

Diese Fragen waren Gegenstand eines Forschungsprojekts über ‚Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse von Söhnen aus türkischen Migrantenfamilien‘Footnote 1, aus dem in diesem Beitrag ausgewählte Ergebnisse vorgestellt werden. Zunächst wird ausgeführt, an welche Befunde, Konzepte und offenen Fragen der Bildungs-, Jugend-/Adoleszenz-Footnote 2 und Migrationsforschung das Projekt anknüpft. Daran anschließend werden Ausgangspunkte und Ziele des Projekts fokussiert sowie theoretische Bezugsrahmen und Methoden erläutert. Sodann erfolgt eine Darstellung der Ergebnisse, wobei exemplarisch auf drei von sechs rekonstruierten Typen Bezug genommen wird. Im letzten Teil werden theoretische Schlussfolgerungen hinsichtlich der intergenerationalen Weitergabe von Bildungsaspirationen und -chancen im Kontext der verdoppelten Transformationsanforderung von Migration und Adoleszenz dargelegt.

2 Untersuchungen mit intergenerationaler Perspektive – ein Desiderat

2.1 Bildungs- und Migrationsforschung

Studien der Bildungs- und sozialen Ungleichheitsforschung zeigen, dass zwischen dem sozialen Status der Herkunftsfamilie sowie dem von den Kindern erreichten Status in der BRD starke Zusammenhänge bestehen. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass auch Bildungserfolg, der eine Chancengleichheit vergrößernde Funktion haben könnte und soll, selbst in hohem Maße von der sozialen Herkunft determiniert ist (vgl. z. B. Friebel et al. 2000; Baumert et al. 2001; Becker und Lauterbach 2010a). Erklärungsansätze zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem weisen weitgehend Konsens darüber auf, dass Schule und Herkunftsfamilie Schlüsselvariablen für Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg der nachfolgenden Generationen sind. Sie wirken als soziale Filter, die zum Ausschluss von Kindern aus bildungsfernen Familien führen. So wurden in Bezug auf die Schule verschiedene Mechanismen institutioneller Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen und eingewanderten Familien aufgezeigt, die die ungünstigeren Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bedingen (vgl. z. B. Gogolin und Nauck 2000; Baumert et al. 2001; Gomolla und Radtke 2002; Geißler 2005). In Bezug auf die Herkunftsfamilie wurden Annahmen darüber bestätigt, dass Bildungsressourcen intergenerational weitergegeben werden (vgl. z. B. Nauck et al. 1998; Ditton et al. 2005). Gleichwohl wurde hinsichtlich der verschiedenen ungleichheitsrelevanten Mechanismen „erheblicher Forschungsbedarf“ (Ditton et al. 2005, S. 301) konstatiert. Becker und Lauterbach (2010b) haben die Forschungslücken in Hinblick auf die Emergenz so genannter ‚Herkunftseffekte‘ (im Sinne Boudons 1974) herausgestellt.

Unklar ist demnach vor allem, wie „der Prozess der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen“ (Becker und Lauterbach 2010b, S. 18) im Einzelnen vonstatten geht. Entsprechend wird darauf verwiesen, dass gerade die „oft subtilen Mechanismen“ der familialen Reproduktion von Bildungsungleichheit im Dunkeln liegen und „dringend einer vertieften Forschung“ bedürfen (Vester 2004, S. 17). So wird in Anknüpfung an Bourdieu (1983) häufig davon ausgegangen, dass die Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital Wirkungen zeitigt. Gleichwohl sind, wie im Blick auf Jugendliche aus Migrantenfamilien besonders deutlich wird (vgl. Diefenbach 2010), die Kapitalien für sich genommen als Erklärung nicht ausreichend. Offenbar bestehen in Bezug auf die geringeren Bildungserfolge von Kindern aus Migrantenfamilien zwar Zusammenhänge mit der sozialen Klasse oder Schicht (Becker 1993), diese stellen jedoch weder einfache Effekte schichtspezifischer Kapitalausstattung (Nauck et al. 1998) noch eines im engeren Sinne schichttypischen Mangels an Bildungsaspirationen dar. Für Migrantenfamilien wurden eher hohe bis unrealistisch hohe Bildungsaspirationen konstatiert (vgl. z. B. Ditton et al. 2005, S. 290 f.; Escobar 2006; Gapp 2007; Heath und Brinbaum 2007; Relikowski et al. 2009; Becker 2010), die jedoch nicht in entsprechende Bildungserfolge umgesetzt werden können. Zu diesem „Paradoxon“ (Becker 2010, S. 22) gibt es etliche Studien und Erörterungen, die damit verknüpften Fragen seien „bisher aber nicht befriedigend gelöst worden“ (ebd.). Um hier weitere Aufschlüsse zu erlangen, erscheint es notwendig, verstärkt auch die Zwischenglieder in dem von Hurrelmann sogenannten „zirkulären Verlauf des Sozialisationsprozesses“ (2000, S. 170), die Übergangsbereiche und Transpositionen zwischen familialen und außerfamilialen Erfahrungen, die insbesondere in der Adoleszenz bedeutsam werden, mit ins Zentrum zu rücken. Ein fehlendes Bindeglied in diesem Sinne stellen gerade jene Prozesse dar, die einerseits in starkem Maße von der Herkunftsfamilie geprägt sind, aber zugleich einen Übergangsbereich zwischen Familie und Schule bzw. außerfamilialen gesellschaftlichen Feldern darstellen – die adoleszenten Entwicklungs-, Ablösungs- oder Umgestaltungsprozesse. Wie stellt sich aus dieser Sicht die Forschung zu adoleszenten Entwicklungen in Migrantenfamilien dar?

2.2 Forschung zu Jugendlichen aus Migrantenfamilien

Die Konzeptionen zu Sozialisation, Adoleszenz bzw. jugendlicher Entwicklung von Heranwachsenden aus Migrantenfamilien haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Allgemeine Annahmen, etwa dass Abgrenzungstendenzen Jugendlicher der ‚zweiten‘ Generation im Verhältnis zur Familie und deren Herkunftskultur zwangsläufig seien oder dass Assimilationsprozesse von Generation zu Generation zunähmen, können als widerlegt gelten, da sich das Spektrum der Entwicklungsrichtungen als weitaus vielfältiger erwies. Auch wurden in den letzten Jahren gegenüber defizitorientierten Perspektiven insbesondere ressourcenorientierte Ansätze stark gemacht (Allemann-Ghionda 2006) und die produktiven Potenziale der (Trans-)Migration gerade in Bezug auf Jugendliche betont (vgl. z. B. Fürstenau und Niedrig 2007; Seukwa 2007; Terren und Carrasco 2007). Weiterhin zeigten sich Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen aus Migrantenfamilien sowohl hinsichtlich Bildungserfolgen als auch Ablösungsformen (vgl. Sauter 2000; Apitzsch 2003; Gültekin 2003; King 2005; Hummrich 2009; Nohl 2009; Zölch et al. 2009). Weitere Studien befassen sich mit Funktion und Konstitution intra- oder inter-‚ethnischer‘ adoleszenter Peergroups (vgl. Reinders und Varadi 2008), religiösen Orientierungen (vgl. z. B. Erricker 2008) sowie mit der Bedeutung der Familie für Integration, Segregation oder soziale Mobilität jugendlicher Migranten der ‚zweiten‘ oder ‚dritten‘ Generation (vgl. Gapp 2007; Dustmann 2008; Günther 2009; Kürşat 2007; Wischmann 2010). Wensierski (2007) kam zu dem Schluss, dass adoleszente Ablösungsprozesse bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland anders verlaufen als bei nicht-muslimischen Jugendlichen. Dies weist noch einmal auf die notwendige Offenheit hin, als Ziel der Individuation nicht zwangsläufig individualisierte Autonomie im westlichen Sinne zu sehen, sondern den möglichen unterschiedlichen Gestaltungen von Ablösung als einem Prozess der Neukonstruktion von Bindung und Abgrenzung Rechnung zu tragen. Um Wechselwirkungen zwischen Eltern und Kindern, den Folgen von Migration und ihrer Verarbeitung innerhalb von Familien nachspüren zu können, sind jedoch vor allem Studien nötig, die unterschiedliche Generationen in den Blick nehmen. Für Familien mit Migrationshintergrund in der BRD stehen solche eher am Anfang (vgl. Gerner 2007; Baros 2009; international: Zhou 1996; Qin 2008, für einheimische Familien: Brake und Büchner 2003). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl aus der Perspektive der Bildungs-, der Migrations- als auch der Jugendforschung Untersuchungen mit intergenerationaler Perspektive in verschiedenen Hinsichten ein Desiderat darstellen. Für die Fragestellung des Projekts ergeben sich daraus die folgenden Ausgangspunkte und Untersuchungsziele.

3 Ausgangspunkte und Ziele der Untersuchung

Erster Ausgangspunkt des Projekts ist der Befund, dass junge Männer aus türkischen Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem statistisch betrachtet zu den Verlierern gehören. Empirische Untersuchungen über die Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben gezeigt, dass sie geringere Bildungschancen haben, dass männliche Jugendliche durchschnittlich schlechter abschneiden als weibliche und überdies die große Gruppe der jungen Männer aus türkischen Migrantenfamilien besonders ungünstige Verläufe aufweist (vgl. zusammenfassend: Geißler 2005). In Hinblick auf die Analyse von Ursachen werden in den medialen bildungspolitischen Debatten bis heute vielfach vereinfachende kulturalisierende Erklärungsmuster bevorzugt, die jedoch in der Bildungs- und Migrationsforschung kaum als bestätigt erachtet werden. Zugleich finden sich auch in der Gruppe der jungen Männer aus türkischen Migrantenfamilien ausgesprochen erfolgreiche Bildungskarrieren, die wenig untersucht wurden. Um die Bedingungen für unterschiedliche Bildungsbeteiligung genauer durchdringen zu können, wurde daher vielfach gefordert, nicht nur Bildungskarrieren von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund mit jenen von Einheimischen zu vergleichen, sondern auch bildungserfolgreiche und weniger erfolgreiche Verläufe derselben Gruppe zu kontrastieren (Diefenbach 2010, S. 239). Dabei gelten nach wie vor gerade auch qualitative Untersuchungen als Desiderat, die sowohl „positive als auch negative Bildungskarrieren nachzeichnen“ und „deren Bedingungen rekonstruieren“ (Bednarz-Braun und Heß-Meining 2004, S. 148). An diesem Punkt setzte das Projekt an, bei dem narrative biografische Interviews mit formal-erfolgreichen und nicht oder weniger erfolgreichenFootnote 3 jungen Männern aus türkischen Migrantenfamilien verglichen wurden. Um überdies Zugang zu intergenerationalen Dimensionen zu erlangen, wurden Interviews über Lebensgeschichten und Bildungswege nicht nur mit den jungen Männern geführt, sondern auch mit deren Eltern. Letztere hatten dabei Gelegenheit, sowohl ihre Sicht der Biografie, Familienbeziehungen und Bildungswege der Söhne auszuführen als auch die eigene Lebens- und Bildungsgeschichte darzustellen.

Ein zweiter wichtiger Ausgangspunkt besteht darin, dass – ebenfalls entgegen öffentlich virulenten Annahmen, die ein geringes Bildungsinteresse unterstellen – elterliche Bildungsaspirationen, wie oben erwähnt, z. B. in türkischen Migrantenfamilien überdurchschnittlich hoch sind. Hier stellen sich also die Fragen, worin erstens die hohen und z. T. unrealistischen Bildungsaspirationen der Eltern in türkischen Migrantenfamilien gründen und weshalb sie zweitens – anders als bei einheimischen Familien – im statistischen Mittel gleichwohl nicht zu erfolgreichen Verläufen führen.Footnote 4 Unter anderem wurde in diesem Kontext – national wie international – vermutet, dass die hohen Aspirationen von Migranten (abgesehen vom möglichen Einfluss mangelnder Kenntnisse des Bildungssystems; vgl. Relikowski et al. 2009) auch Effekte der sozialen Situierung und Diskriminierung seien, wobei dieser Aspekt gerade für die Bundesrepublik Deutschland noch genauer untersucht werden muss. Außerdem wurde verschiedentlich hervorgehoben, dass hohe Aspirationen mit der Vorstellung zusammenhängen, dass sich der Aufwand der Migration für die folgende Generation lohnen soll (Apitzsch 2003; Kao und Tienda 1995). Zugleich fehlen genauere Erkenntnisse darüber, wie die Art der Aspirationen im Einzelnen mit jener der Bewältigung der Migrationserfahrung verknüpft ist. Wie sich im Zuge unserer Studie gezeigt hat, gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug darauf, worin Aspirationen gründen, wie sie gestaltet sind und in welcher Weise sie an die Folgegeneration vermittelt werden. Während bei der empirischen Untersuchung von Bildungsaspirationen vielfach auf die Unterscheidung zwischen sog. ‚realistischen‘ und ‚idealistischen‘ Aspirationen – also zwischen realistischen Erwartungen (‚expectations‘) und Wünschen (‚aspirations‘) – rekurriert wird (vgl. dazu z. B. Stocké 2009), erwies sich – gleichsam quer dazu – bei dieser Studie eine andere Unterscheidung als bedeutsam. So zeigte sich, wie noch genauer ausgeführt wird, dass insbesondere das Ausmaß eine zentrale Rolle spielt, in dem Eltern – explizit oder implizit, manifest oder latent – zulassen können, dass die Kinder oder Heranwachsenden einem eigenen oder ‚eigenlogischen‘ Weg folgen. Ist dies der Fall, so wirken sich hohe Aspirationen eher förderlich aus. Wenn jedoch umgekehrt Bildungserfolg und Lebensweg des Sohnes vorrangig dazu dienen sollen, die biografischen Entwürfe/Themen der Eltern selbst fortzuführen oder umzusetzen, wirken die an den Sohn gerichteten Wünsche und Erwartungen tendenziell bedrängend. Diese Varianten von Aspirationen wurden in diesem Sinne als ‚Delegationen‘ oder als ‚Aufträge‘ bezeichnet.Footnote 5 Sie sind verknüpft mit den Migrationserfahrungen. Insofern muss bei der Rekonstruktion der Mechanismen intergenerationaler Weitergabe und der Motivierung und Wirkungen von Bildungsaspirationen die Art der Bewältigung der Migrationserfahrung besonders beachtet werden – also die Art der Trennung vom Herkunftsland und der Neugestaltung der Lebenssituation in der Ankunftsgesellschaft bis hin zur Verarbeitung von Diskriminierungserfahrungen.

Ein dritter Ausgangspunkt, der sich zugleich aus den bereits genannten ergibt, liegt darin, dass eine Analyse der Weitergabemechanismen nicht nur die Effekte der Reproduktion von Ungleichheiten und (relativen) Statuspositionen zu beachten hat, sondern auch Potenziale und Bedingungen der Transformation einbeziehen sollte. Auch in dieser Hinsicht müssen kapitaltheoretische Annahmen, die sich auf Bourdieu oder Coleman (1988) beziehen, teils ergänzt, teils verändert werden. Besonders bedeutsam ist zum einen die Qualität familialer Generationenbeziehungen (vgl. Diewald und Schupp 2004), die den Kapitalausstattungen unterschiedliche Bedeutung verleiht. Zum andern rückt – und darauf liegt ein Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit – die Art und Weise ins Zentrum, wie im Prozess adoleszenter Ablösung Erfahrungen in der Herkunftsfamilie verarbeitet und generational tradierte, familien- oder milieuspezifische Sinn- und Praxisfiguren modifiziert werden können. So ist insbesondere – wiederum mit Blick auf Transmissionsprozesse und die Bedeutung der Bildungsaspirationen – auch zu klären, ob und vor allem wie Bildungsaspirationen oder ‚Erfolgsaufträge‘ der Eltern von den Kindern aufgenommen werden und welche Bedeutung sie in Prozessen adoleszenter Umgestaltung und Ablösung erlangen. In der Regel wird davon ausgegangen, dass die Aspirationen der Kinder stark durch die der Eltern geprägt sind, während zugleich mit wachsendem Alter der Einfluss der Eltern abnehme (vgl. zusammenfassend: Becker 2010, S. 4 f.). Das hier ausgeführte Forschungsdesign sollte auch in dieser Hinsicht Differenzierung erlauben. So konnten über das spezifisch intergenerationale Design insbesondere auch die Art der Verknüpfung und die Dynamik der Veränderungen zwischen den Aspirationen der Eltern und denen der Kinder fokussiert werden. Insbesondere sollte deutlich werden, ob und unter welchen Bedingungen sich diese im Zuge der adoleszenten Ablösung verändern. Aus dieser Perspektive ist es z. B. durchaus denkbar und unter spezifizierbaren Umständen auch der Fall, wie sich in unserer Studie zeigte, dass ältere, weniger abgelöste Adoleszente in hohem Maße unter dem Einfluss der elterlichen Aspirationen oder Erfolgsaufträge stehen, während andere, wiederum unter rekonstruierbaren Bedingungen, sich schon in jüngerem Alter stärker davon lösen konnten. Die – in der Bildungsforschung als zentral erachtete, aber hinsichtlich ihrer Mechanismen vielfach noch ungeklärte – intergenerationale Transmission von Bildungschancen wäre demzufolge, so die Perspektive unseres Projekts, systematisch mit der Art und Qualität der intergenerationalen Gestaltung der adoleszenten Ablösung verbunden, die in Migrantenfamilien spezifischen Bedingungen unterliegt.

4 Theoretischer Rahmen – Generationendynamik im Kontext von Adoleszenz, Migration und Bildung

Den theoretischen Rahmen des Forschungsvorhabens bildet zunächst eine Konzeption von Adoleszenz, die diese nicht bloß deskriptiv im Sinne einer Alters- oder Lebensphasenklassifizierung erfasst, sondern der gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung der Adoleszenz explizit Rechnung trägt und dabei auch die spezifischen Bedingungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund berücksichtigt. Adoleszenz wird dabei begriffen als eine für die Generierung von Identitäts- und Lebensentwürfen, für Prozesse der Akkulturation, der kulturellen Transformation und der Eigenpositionierung entscheidende biografische Phase. Als adoleszente Ablösungsprozesse bezeichnen wir die potenzielle Umgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung in Richtung erweiterter emotionaler, kognitiver und Verhaltens-Spielräume (vgl. Steinberg 1996), die eine Bearbeitung und Neukonstruktion familialer Erfahrungen zur Voraussetzung haben. Dabei wird Ablösung nicht, wie häufig impliziert, als einseitige Entwicklungsaufgabe gefasst, sondern als intergenerationales und intersubjektives Geschehen (vgl. King 2002, 2010). Auch die Qualität familialer Generationenbeziehungen wirkt sich insofern auf die Chancenstruktur adoleszenter „Möglichkeitsräume“ aus (ebd.), darauf, wie und mit welchen Ressourcen oder Hemmnissen im Prozess adoleszenter Ablösung Erfahrungen der Herkunftsfamilie verarbeitet und generational tradierte, familien- oder milieuspezifische Sinn- und Praxisfiguren modifiziert werden können. Adoleszente Bildungsprozesse im Sinne einer ‚Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen‘ (vgl. Koller 2010, 2011) sind insofern Teil einer intergenerationalen Dynamik. Dem wird im Untersuchungsdesign Rechnung getragen, indem beide Seiten des familialen Generationenverhältnisses, Eltern und Söhne, direkt einbezogen werden. Bedeutungen weiterer maßgeblicher Bereiche wie Schule, Peers usw. werden anhand der Interviewanalysen rekonstruiert.

Unter Migrationsbedingungen stellt Adoleszenz überdies eine doppelte Herausforderung dar (vgl. King und Koller 2009): Zum einen geht es in der Adoleszenz allgemein um den Wandel von der Position des Kindes zu der des Erwachsenen und um die Bewältigung der damit verbundenen Veränderungen auch der Eltern-Kind-Beziehungen. Zum andern bringt der Migrationshintergrund selbst eine weitere Transformationsanforderung mit sich: Migration und damit verbundene Trennungs- und Umgestaltungsnotwendigkeiten, die (bei Jugendlichen der zweiten oder dritten Generation) zunächst die Eltern zu bewältigen haben, erzeugen in den familialen Generationenbeziehungen spezifische Voraussetzungen für die Trennungs- und Umgestaltungsprozesse der herangewachsenen Kinder. Hinzu kommt, dass Jugendlichen mit Migrationshintergrund innerhalb der in der Adoleszenz immer wichtiger werdenden Instanzen wie Peergroup, Schule oder Öffentlichkeit vielfach die Rolle von „Außenseitern“ (im Sinne von Elias und Scotson 1965) zukommt und sie deshalb mit einer Besonderungserfahrung konfrontiert werden, die auf die familialen Ablösungsprozesse zurückwirkt. Unsere forschungsleitende Annahme lautet, dass der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund von der Art der Bewältigung dieser doppelten, miteinander verschränkten Herausforderung unter Bedingungen des Migrantenstatus und damit von den Entwicklungsprozessen der Adoleszenz abhängt. Die Kompetenz zur Eigenpositionierung im sozialen Raum ist entsprechend verbunden mit der Qualität und den Resultaten adoleszenter Ablösungsprozesse.

Aus dieser Perspektive können potenzielle Ressourcen und Belastungen von Adoleszenz mit Migrationshintergrund unter den je spezifischen familialen, (bildungs-)institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen des Einwanderungslandes jenseits kulturalisierender und ethnisierender Verkürzungen differenziert betrachtet werden. Eine wichtige Frage lautet dann: Welche Möglichkeitsräume gibt es unter welchen Voraussetzungen für die adoleszente Bearbeitung biografischer Erfahrungen und die Neukonstruktion von Lebensentwürfen? Insofern Adoleszenz zudem konstitutiv als Generationenverhältnis begriffen werden muss, geht es dabei stets auch um Chancen und Verhinderungen in Generationenbeziehungen. Entsprechend ist zu prüfen, wie in den Transformationsprozessen der Adoleszenz bildungserfolgreicher oder -nichterfolgreicher junger Männer aus Migrantenfamilien Erfahrungen in Generationenbeziehungen verarbeitet werden. Die familiale Erfahrung bekommt wiederum in Abhängigkeit von Erfahrungen in anderen Lebensbereichen nicht nur unterschiedliches Gewicht, sondern kann vor allem auf verschiedene Weise bewältigt werden. Der Zusammenhang zwischen Familienbeziehungen und Bildungsverläufen darf daher nicht vereinfacht werden; mit entscheidend ist vielmehr die Qualität der adoleszenten Ablösung und Transformation, für die es wiederum unterschiedliche und verschieden günstige soziale Bedingungen gibt. Die Untersuchung dieser Zusammenhänge soll dazu beitragen, die subtilen Mechanismen der Transmission von Bildungsungleichheiten im Kontext von Migration zu erhellen.

5 Gegenstand und Methode

Um die beschriebenen Zusammenhänge zu untersuchen, wurden als Verfahren der Datenerhebung narrative Interviews mit 20 jungen Männern im Alter zwischen 19 und 25 Jahren sowie mit ihren Eltern durchgeführt. Diese Form qualitativer Interviews ist aufgrund der Besonderheiten der alltagsweltlichen Darstellungsform ‚Erzählen‘ besonders geeignet, die allmähliche Aufschichtung biografischer Erfahrungen auch jenseits bewusst verfügbarer Selbstdeutungen zu erschließen. Für den Nachfrageteil wurde ein Leitfaden entwickelt, der potenziell offene gebliebene Fragen zum Gegenstand enthielt. Söhne, Väter und Mütter wurden getrennt interviewt. Als bildungserfolgreich gelten dabei Jugendliche, die die Hochschulreife erworben bzw. vor kurzem ein Studium begonnen haben. Als weniger bildungserfolgreiche Jugendliche werden Gleichaltrige angesehen, die entweder zwar eine zum Abitur führende Schule besucht, diese Ausbildung aber vor dem Abitur abgebrochen oder aber von Anfang an kein Abitur angestrebt, sondern Schulen mit niedrigeren Abschlüssen besucht haben. Die meisten Interviews wurden in deutscher Sprache geführt; auf Wunsch wurden einige wenige Elternteile in deren Muttersprache befragt.

Die Auswertung der transkribierten Interviews erfolgte – methodentriangulierend – unter Rückgriff auf Verfahren der Sequenzanalyse in Anlehnung an die objektive Hermeneutik (vgl. Oevermann 2000) sowie der Narrationsanalyse im Anschluss an Schütze (1983). Mittels der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse ist ein präziser Zugriff auf die Differenz zwischen dem subjektiv vermeinten Sinn und der latenten objektiven Sinnstruktur ausgewählter Textpassagen möglich, das narrationsanalytische Verfahren ist geeignet, den Text übergreifende Erzählstrukturen herauszuarbeiten. Außerdem wurde – im Sinne der Anforderungen an Reflexivität (vgl. Bourdieu und Wacquant 1996; King 2009) – die Art der Gestaltung der Forschungssituation sowie der Rollenaufteilung und ‚Positionierung‘ der Familienmitglieder in den jeweiligen Settings mit einbezogen.

Um adoleszente Ablösungsprozesse zu erfassen, wurde bei der Auswertung der Interviews mit den Söhnen u. a. besonders beachtet,

  • wie Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen der Lebenswelt der Herkunftsfamilie und dem Bildungsbezug der Eltern einerseits und der mit der Teilnahme am Bildungssystem verbundenen Lebenswelt andererseits dargestellt werden;

  • wie Vorstellungen und Entwürfe der Eltern in Bezug auf den Lebensweg des Kindes in der Darstellung der jungen Männer in Erscheinung treten.

In Hinblick auf die Verknüpfung formaler und semantischer Aspekte der Interviewäußerungen wurden hierbei auch der Erzählstil und bestimmte Modi der Darstellung entsprechender Inhalte in Beziehung gesetzt (z. B. Selbst- und/oder Fremd-Idealisierung oder -Entwertung, forcierte Betonung von Nähe oder Distanz, Bagatellisierung oder Harmonisierung vs. Konfliktorientierung usw.) und als Ausdrucksformen für Gestaltungen des adoleszenten Ablösungsprozesses analysiert. Nach der Auswertung aller Interviews wurden Porträts der untersuchten Familien angefertigt, um von dort aus durch systematische Fallvergleiche zu einer Typologie zu gelangen.Footnote 6 Über die Typenbildung wurden variierende Muster von Zusammenhängen zwischen adoleszenten Ablösungsprozessen und Bildungskarrieren herausgearbeitet, aus denen wiederum konzeptionelle und theoretische Schlüsse gezogen werden.

6 Ergebnisse

Eine ausführliche Darstellung der theoretischen und empirischen Ergebnisse, der verschiedenen Typen sowie entsprechender Fall- bzw. Familienporträts erfolgt in einer Monographie zur Studie, die in Vorbereitung ist.

Die im Projekt angewandten qualitativ-rekonstruktiven Analysemethoden sowie das intergenerationale Design ließen hervortreten, dass Effekte von Bildungsaspirationen weiter differenziert werden müssen, und zwar sowohl in Bezug auf die elterlichen Motive und Haltungen als auch auf die Art des Umgangs mit elterlichen Aspirationen seitens der Adoleszenten. Anhand der Diskussion der Typen werden folgende Resultate detaillierter erläutert:

  • Es erwies sich als notwendig und weiterführend, wie einleitend ausgeführt, zu unterscheiden zwischen ‚Aspirationen‘, die die Eigenlogik des Bildungswegs des Kindes zulassen, und ‚Delegationen‘ oder Erfolgsaufträgen, bei denen die implizit vorrangig auf das eigene Leben bezogenen Wünsche der Eltern im Vordergrund stehen. Diese Differenzierung liegt quer zu der Unterscheidung von realistischen und idealistischen Bildungserwartungen, da z. B. auch ‚realistische Erwartungen‘ im Modus eines Auftrags erfolgen können, bei dem der Weg des Kindes als Fortführung oder Umsetzung der (z. B. bis dahin unrealisiert gebliebenen) Lebensentwürfe der Eltern fungiert – während ‚idealistische Aspirationen‘ im Sinne von Wünschen nicht gleichzusetzen sind mit ‚Delegationen‘.

  • Varianten von Bildungsaspirationen und bildungsbezogenen Delegationen der Eltern gründen in der Migrationsgeschichte, den Migrationsmotiven (z. B. Migration als Projekt des sozialen Aufstiegs) sowie den Erfahrungen, die im Zusammenhang mit und infolge der Wanderung gemacht wurden.

  • Die Art der Bewältigung der migrationstypischen Erfahrungen von Trennung und Verlust einerseits, von Ausschluss- und Missachtungserfahrungen andererseits, entscheidet mit über die Spielräume in den familialen Generationenbeziehungen und darüber, ob und wie Aspirationen als ‚Aufträge‘ wirksam sind, ob sie eher fördernd wirken oder durch andere Facetten der Generationendynamik konterkariert werden.

  • Diese Konstellationen sind mit entsprechenden Qualitäten von familialen Beziehungen und Unterstützungsleistungen der Eltern verknüpft. Daraus ergeben sich wiederum unterschiedliche Bedingungen und Möglichkeitsräume, die den Söhnen für die Realisierung von Bildungs- und Aufstiegswünschen sowie für adoleszente Ablösungsprozesse zur Verfügung stehen.

6.1 Typologie

Die Fallanalysen wurden zu einer Typologie verdichtet. Die Typisierung differenziert zentrale Varianten von Zusammenhängen zwischen Bildungskarrieren und adoleszenten Ablösungsprozessen, die unter dem Aspekt der Generationenbeziehungen und der Verarbeitung der familialen Migrationsgeschichte analysiert wurden (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Typologie

Weniger/nicht-erfolgreiche Bildungskarrieren.

Bei den weniger bildungserfolgreichen jungen Männern können drei Typen unterschieden werden. Für Typus 1 ist charakteristisch, dass hohe Bildungsaspirationen der Eltern von den Söhnen vor allem aufgrund einer bisher ausstehenden adoleszenten Auseinandersetzung nicht zur eigenen Sache gemacht werden können; für Typus 2, dass eine nur äußerliche Ablösung mit inkonsistenten Lebens- und Bildungsentwürfen einhergeht, sodass übergreifend Orientierungsschwierigkeiten vorherrschen. Bei Typus 3 wurden Bildungserfolge durch destruktive und entgrenzte Varianten von Rebellion nachhaltig aufs Spiel gesetzt. Exemplarisch wird hier im Folgenden Typus 1 genauer erläutert.

6.1.1 Typus 1: Scheitern am elterlichen Auftrag

Exemplarisch: Familie Dikmen.

Berk ist 19 Jahre alt. Sein Vater wurde im Alter von elf Jahren von seinen Eltern, die bereits als Gastarbeiter in Deutschland lebten, nachgeholt. Berks Mutter folgte siebzehnjährig im Zuge der Heirat. Das junge Ehepaar lebte mit dem Sohn sieben Jahre bei den Eltern des Vaters, von denen sie in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt wurden. Obgleich Berk eine Empfehlung für die Hauptschule erhalten hat, schickten seine Eltern ihn auf eine Realschule. Die Aspirationen der Eltern sind hoch; die Idealvorstellung der Mutter war, dass Berk Arzt werden solle. Infolge schlechter Leistungen und einer Klassenwiederholung musste er jedoch auf die Hauptschule wechseln, die er erfolgreich abschloss. Nach einem weiteren schulischen Scheitern begann Berk aufgrund des Rats seines Lehrers eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann – ein Beruf, in dem er künftig aber eigentlich nicht arbeiten will.

Eltern dieses Typs delegieren, verbunden mit hohen Unterstützungsleistungen, den Bildungsaufstieg an die Söhne, die diese Aufträge jedoch nicht ausfüllen können oder adoleszent verweigern. Der vorwiegend bedrängende Bildungsauftrag erscheint hier als Kompensation einer frühen Eingeschränktheit und Unwissenheit der Eltern infolge der Migration. Charakteristisch ist eine fremdbestimmte Ausreise der Eltern in jungen Jahren sowie ein ebensolches Leben in Deutschland, in dessen Kontext auch die Kindererziehung nicht in den eigenen Händen lag. Die Väter und Mütter lebten, obgleich selbst schon Eltern, in langwährender Abhängigkeit von der vorangegangenen Generation. Mitunter konnte eine Abgrenzung erst nach einigen Jahren vollzogen werden. Der Zustand der Eingeschränktheit wurde dann umso stärker zu überwinden versucht und mit hohen Bildungsaspirationen an die Kinder ein Ziel verfolgt, das die eigene, mühsam errungene und noch instabile Selbständigkeit unter Beweis stellen sollte. So zeichnen diese Eltern sich selbst als sehr engagiert; in den Interviews tritt jedoch eher hervor, dass die Söhne weniger unterstützt als angetrieben werden. Die eigenen Erfahrungen von Fremdbestimmtheit im Migrationsverlauf reproduzieren sich in der elterlichen Schwierigkeit, das Ringen der Söhne um Selbstbestimmtheit zuzulassen und anzuerkennen. Eher rivalisieren Vater oder Mutter und erscheinen selbst als adoleszent, die Anerkennung der Generationendifferenz als fragil. Der adoleszente Möglichkeitsraum der jungen Männer wird u. a. durch diese stark bedrängenden und gleichsam ‚determinierenden‘ Bildungs- und Berufsaspirationen eingedämmt. In einem familiendynamischen Sinne könnte von einer ‚Ungetrenntheit‘ der Generationen gesprochen werden.

Den Kindern gelingt es wiederum nicht, für sich eigene Ziele zu definieren. Zugleich werden sie getrieben von dem Gedanken, die Aspirationen erfüllen zu müssen, was z. B. dazu führt, bestimmte Ausbildungswege zu beginnen, auch wenn diese nicht den eigenen Interessen entsprechen. Hin- und Hergerissensein zwischen elterlichen Wünschen und eigenen Interessen begünstigt Brüche und das Scheitern halbherziger Aufstiegsversuche. Zugleich setzen sich die Söhne nicht offensiv mit den Erwartungen und dem Druck der Eltern auseinander. Die Ausblendung problematischer familialer Beziehungen und die fehlende Auseinandersetzung mit den Aspirationen der Eltern machen eine Ablösung unmöglich, zugleich werden Möglichkeiten eines eigenen erfolgreichen Bildungswegs verstellt.

Erfolgreiche Bildungskarrieren.

Bei den bildungserfolgreichen jungen Männer können ebenfalls drei Typen unterschieden werden, von denen bei Typus 4 gerade die Aufrechterhaltung von Abhängigkeit qua Bildungserfolg im Zentrum steht (wie etwa beim ‚Langzeitstudenten‘, der dadurch in der Familie verbleiben kann), ohne dass seitens der Eltern besondere bildungsbezogene Aspirationen für den Sohn artikuliert würden. Die Eltern von Typus 5 haben demgegenüber deutliche und hohe Aspirationen, verbunden mit einer Tendenz, Nähe und enge Bindung in der Familie zu forcieren. Bei den Söhnen dieses Typus überwiegt die Tendenz, sich an den Auftrag anzupassen. Bei Typus 6 schließlich wird der Bildungsweg, auch ermöglicht durch die Haltung der Eltern, stärker zur eigenen Sache gemacht. Übergreifend zeigt sich, dass auch die erfolgreichen Bildungskarrieren mit charakteristischen Hindernissen verknüpft sein können, die sowohl mit der sozialen Schicht als auch mit migrationstypischen Konstellationen zusammenhängen. Im Folgenden werden zur Kontrastierung mit Typus 1 die Typen 5 und 6 erläutert.

6.1.2 Typus 5: Anpassung an den elterlichen Bildungsauftrag

Exemplarisch: Familie Özdemir.

Der 22-jährige Student Ömer ist das dritte von vier Kindern der Familie Özdemir. Im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern hat er ein Gymnasium besucht, die Brüder erlangten die Hochschulreife über größere Umwege. Seinen Eltern war es sehr wichtig, dass eines der Kinder diese Schulform erfolgreich absolviert und anschließend studiert. Herr Özdemir betont, dass er als Migrant keine seinen Fähigkeiten entsprechende berufliche Karriere einschlagen konnte. Seine Frau hatte ihn in dem Glauben geheiratet, er würde in die Türkei zurückkehren. Schweren Herzens folgte sie ihm schließlich nach Deutschland, wo sie sehr unter dem Verlust ihrer Herkunftsfamilie litt. Vor allem ihren Sohn Ömer hat sie in der Folge stark an sich gebunden. Ömer übernimmt den ‚Bildungsauftrag‘ und setzt ihn trotz zeitweiliger erheblicher schulischer Schwierigkeiten erfolgreich um. Eine Abgrenzung von der Familie findet kaum statt; die Bildungsorientierung wirkt trotz der Erfolge vorrangig fremdbestimmt und labil.

Bei diesem Typus überwiegt die Tendenz, die hohen Bildungsaspirationen und den Auftrag der Eltern zu übernehmen und den Bildungserfolg stellvertretend für die Familie erringen zu wollen. Auffällig ist hier, dass der adoleszente Möglichkeitsraum stark eingeschränkt ist, da alle familialen Bestrebungen forciert auf ein Ziel hin verdichtet und die Beziehungen in den Familien nicht individuationsfördernd sind. Die Eltern haben dezidierte Vorstellungen mit der Migration nach Deutschland verbunden, die enttäuscht wurden. Im Folgenden findet eine enge und bedrängende Verknüpfung des Erhofften mit den Aspirationen an die Söhne statt, was zugleich als Versuch der Wiedergutmachung gewertet werden kann und für die Söhne bedeutet, dass sie ihren Bildungsweg nicht nur für sich, sondern auch stellvertretend für ihre Familie gehen müssen. Ebenso kann ein ungewolltes Verlassen der Türkei, etwa als Folge einer Heiratsmigration, zu einer solchen Konstellation führen: Durch die erzwungene Migration einsam in Deutschland, wird alle Energie in die Kinder investiert und die räumliche Distanz zur Herkunftsfamilie durch eine enge Bindung an die Kinder kompensiert. Diese sollen erfolgreich sein, aber zugleich den Kreis der Familie nicht verlassen. Diskriminierungserfahrungen können solche Strukturen verstärken, indem sie die Zuwendung zu außerfamilialen Bezügen erschweren.

Ein potenzielles Versagen, das die Hoffnungen und Mühen der Eltern wertlos macht, dürfte hohe emotionale Kosten verursachen, da eine enge Beziehung zu den Eltern besteht und eine adoleszente Ablösung bisher nicht stattfinden konnte. So gelingt es den Söhnen aufgrund der engen familialen Beziehungen kaum, diese kritisch zu betrachten. In der Narration dominieren Bagatellisierungen, Konflikte werden tabuisiert. Dies zeigt sich z. B. in einem Erzählmuster, das die Lebensgeschichte als glatt und unspektakulär verlaufen präsentiert und die implizit deutlich werdenden Probleme verdeckt. Aus dieser Konstellation heraus gelingt es den jungen Männern nicht, sich mit den Ansprüchen der Eltern auseinanderzusetzen und den Aufstieg zur eigenen Sache zu machen. Dies kann etwa dazu führen, ein Fach zu studieren, das von den Eltern favorisiert wurde. Die Fallrekonstruktionen zeigen, dass eine mögliche, bis dahin vermiedene adoleszente Abgrenzung der bislang bildungserfolgreichen Söhne auch noch zu Abbrüchen der Bildungskarriere führen könnte.

6.1.3 Typus 6: Anverwandlung des elterlichen Bildungsauftrags

Exemplarisch: Familie Güngör.

Der Vater des 25-jährigen Engin migrierte zu Beginn der 1970er-Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland und hat durch die Migration nicht das gewonnen, was er sich erhofft hatte. Seine Mutter folgte nach der Hochzeit 1980 und betont, dass sie durch die Wanderung berufliche Optionen in der Türkei verloren hat. Beide formulieren hohe Bildungsaspirationen für ihren Sohn und setzten sich intensiv für deren Umsetzung ein. Durch seine sehr guten Noten erhielt Engin als einziger Schüler mit Migrationshintergrund aus seiner Klasse eine Empfehlung für das Gymnasium. Dort schwankten seine Leistungen sehr stark. Das Abitur besteht er mit einem eher schlechten Durchschnitt, weshalb er längere Zeit auf einen Studienplatz in seiner westdeutschen Heimatstadt warten muss. Das daran anschließende Medizinstudium konnte er jedoch in einem überdurchschnittlich raschen Studienverlauf mit einem zudem herausragenden Examen abschließen.

Charakteristisch für diesen Typus ist, dass es den Söhnen im Verlauf der Adoleszenz gelingt, den Aufstieg als ihr eigenes Projekt zu betrachten und einen individuierten Bildungsweg zu verfolgen, obgleich ihr Bildungsgang durchaus auch mit einem ‚delegierenden‘ Aufstiegsauftrag belastet ist. Die Eltern haben aufgrund des für sie selbst enttäuschenden Verlaufs ihres Migrationsprojekts hohe Aspirationen für die Söhne entwickelt, verbunden mit der impliziten Aufforderung an die Kinder, den Erfolg des Migrationsprojekts durch Bildungsaufstieg doch noch unter Beweis zu stellen. Zum anderen resultieren die hohen Erwartungen aus der Annahme, dass eine angesehene gesellschaftliche Position die Kinder vor ähnlichen Diskriminierungserfahrungen schützen könne. Dabei erscheint der Bildungserfolg in diesen Familien als gemeinsames Projekt: Im Mittelpunkt stehen über weite Strecken nicht die Wünsche der Söhne und deren individuelle Wege, sondern vielmehr eine größere Gruppe („wir“), die dieses Ziel vor Augen hat. Für die jungen Männer geht es somit darum, den Erfolg stellvertretend für die Familie zu schaffen. Auf diesem Weg werden sie von Vater und Mutter aktiv unterstützt. Konkrete Hilfe, etwa bei den Hausaufgaben, können infolge geringer formaler Bildung nicht alle Eltern geben. Sie sind jedoch engagiert, führen Gespräche mit den Lehrern oder sind etwa trotz Sprachschwierigkeiten Elternvertreter. Darüber hinaus versuchen sie, den Söhnen ein förderliches Umfeld zu schaffen, indem sie z. B. Hilfsangebote des Stadtteils nutzen.

Diese Konstellation birgt zwar mit Blick auf die Entwicklungen der Söhne erhebliche Risiken, denn die Last, den Bildungserfolg stellvertretend zu erlangen oder durch diesen die leidvollen Diskriminierungserfahrungen der Eltern austarieren und zudem ihre vielfältigen Mühen zum Erfolg führen zu müssen, kann den Ablösungsprozess der Kinder erschweren. Den Söhnen dieses Typs gelingt es jedoch auf unterschiedliche Weise, den hohen Anteil der Eltern an ihrem Bildungsprojekt anzuerkennen, sich aber schrittweise doch zum Gestalter ihres Weges zu machen. Der spezifische Umgang mit den elterlichen Bildungsaufträgen ist in einigen Fällen dadurch zu beschreiben, dass diese zunächst übernommen werden, im Verlauf der Adoleszenz jedoch anverwandelt und mitunter – hinsichtlich des Bildungsziels der Eltern – sogar noch übertroffen und variiert werden. Mit ausschlaggebend dafür ist wiederum, dass in den familialen Generationenbeziehungen, trotz der genannten Einschränkungen, immer noch ausreichende Möglichkeitsräume für eigenständige Entwicklungen der Söhne vorliegen. Deutlich erkennbar üben die Eltern im Zuge des Größerwerdens der Söhne zunehmend weniger Einfluss aus, sondern nehmen eine reflektiertere Haltung ein und bieten Raum für eigene Entscheidungen (z. B. bei der Studienfachwahl). Einen ebenso bedeutsamen Faktor stellt die sichere emotionale Beziehungsbasis dar, die bei der Umsetzung dieser Entscheidungen die nötige Unterstützung verspricht, eine mögliche Entfernung durch Aufstieg abfedert und Raum für adoleszente Entwicklungen gibt.

7 Typenvergleich, Diskussion und Schlussfolgerungen

Anhand der drei Typen wurden variierende Muster von Zusammenhängen bzw. Wechselwirkungen zwischen Bildungskarrieren und adoleszenten Ablösungsprozessen erkennbar, die wiederum vermittelt sind über Aspekte der intergenerationalen Dynamik sowie (im Sinne der ‚verdoppelten Transformationsanforderung‘) der Verarbeitung der Migrationserfahrung und ihre Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehungen im Allgemeinen, in der Adoleszenz im Besonderen (vgl. Koller et al. 2010).

Hintergrund von Typus 1 sind die die Eltern prägenden Erfahrungen von Heteronomie auch im Blick darauf, im Verlauf der familialen Migrationsgeschichte nicht über Nähe und Distanz im Verhältnis zu ihren eigenen Eltern bestimmen zu können. Häufig schon im jungen Alter verheiratet, nahmen die Mütter und Väter vielfach auch noch als junge Eheleute und Eltern vorrangig eine ‚Kindposition‘ (im dynamischen Sinne) bzw. eine eher geschwisterliche Beziehung zum eigenen Kind ein. Im Zuge des Heranwachsens der eigenen Söhne werden Aspirationen wirksam, die vor allem mit eigenen unerfüllten Lebensentwürfen verknüpft sind und mit den Bedürfnissen des Sohnes kaum vermittelt werden (insofern könnte man – allerdings in dieser spezifischen Bedeutung – auch von ‚idealistischen Aspirationen‘ sprechen). Die Vorstellungen für die Bildungswege ruhen auf brüchigen Anerkennungsbeziehungen und einer nur fragil etablierten Generationendifferenz. Die Bildungsaspirationen können so, gerade auch im Zuge der Adoleszenz der Söhne, in der diese auch um Selbstbestimmtheit kämpfen, keine produktiven Wirkungen entfalten.

Hintergrund von Typus 5 sind zunächst, partiell, ebenfalls Erfahrungen von Heteronomie, enttäuschte Erwartungen sowie insbesondere bis zur Gegenwart als schwer bewältigbar empfundene Trennungsschmerzen und Verlusterfahrungen im Verhältnis zur Herkunft. Anders als bei Typus 1 besteht im Verhältnis zu den Kindern eine ausgeprägte emotionale Nähe. Das Migrationsprojekt soll allerdings (und insofern erlangt die enge Beziehung zu den Söhnen zudem instrumentelle Züge) auch kompensatorisch seine Erfüllung in einem unverbrüchlichen Zusammenhalt der Familie einerseits und dem Aufstiegs- und Bildungserfolg der Kinder andererseits finden. Es wird versucht, die aus dieser Konstellation unvermeidlich resultierende Spannung (da Bildungserfolg der Kinder, im Zuge adoleszenter Umgestaltungen, diese auch von den Eltern weg und zu einer eigenen, differenten Lebensführung führen könnte) mit einiger Mühe in Balance zu halten. Deutlich erkennbar sind Muster der Konfliktbagatellisierung und -vermeidung. Analog wird auch Diskriminierung vorwiegend als Ohnmachtserfahrung geschildert. Insofern führen in dieser Variante explizit hohe Bildungsaspirationen (die nicht einfach individuell adressiert, sondern formuliert werden als ‚wenigstens einer der Söhne muss es schaffen‘) zum Erfolg, der zugleich durch die Art der Motivierung potenziell unterminiert wird.

Hintergrund von Typus 6 sind ebenfalls schmerzliche Erfahrungen im Kontext von (wenn auch z. T. selbstbestimmter) Migration. Auch hier sollen die Kosten der Wanderung durch Erfolge der Kinder validiert werden. Allerdings gibt es zugleich größere Spielräume für Eigensinn und Abgrenzungen, die wiederum getragen sind von stabileren Anerkennungsbeziehungen, mindestens von einem der Elternteile. Die Eltern selbst gestalten ihre Lebenssituation engagiert und offensiv, einschließlich der Auseinandersetzung mit Diskriminierung, und bieten damit den Söhnen auch Modelle einer aneignenden und engagierten Lebensführung. Insofern führen hier die hohen Bildungsaspirationen zu (z. T. überdurchschnittlich) erfolgreichen Umsetzungen, die von den Söhnen im Zuge der adoleszenten Ablösung zur eigenen Sache gemacht und insofern anverwandelt werden. Zugleich gab es jedoch in keinem der untersuchten Fälle eine bruchlose schulische Erfolgskarriere und ‚krisenfreie‘ Ablösung. Gerade durch diese krisenhaften Anverwandlungsprozesse konnte gleichwohl eine größere Stabilität erlangt werden, die auch weitere Entwicklungen tragen hilft.

Fokussiert man mit Blick auf diese Ergebnisse zunächst die Wirkungen der Bildungsaspirationen auf die adoleszente Ablösung, so wird übergreifend deutlich, dass die Momente der Delegation, die sich nahezu durchgängig finden, Ablösung tendenziell hemmen.Footnote 8 Nur dort, wo – gleichsam ‚trotz‘ der Delegationsmuster – emotionale Anerkennungsbeziehungen stabiler sind, gelingt es den (adoleszenten) Kindern, sich aus dem Muster zu befreien, das mit dem familialen Erfolgsauftrag verbunden ist. In je geringerem Maße die Aspirationen auf ‚zweckfreien‘ emotionalen Bindungen und Anerkennungsbeziehungen beruhen, die auch die Anerkennung der generationalen Differenz einschließen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Zuge des ausgeübten Drucks, bildungserfolgreich zu sein, weder Bildungskarrieren noch Ablösung gelingen.

Welche Schlussfolgerungen können gezogen werden hinsichtlich der intergenerationalen Transmission oder Transformation von Bildungschancen? Vielen anderen Studien entsprechend wurden auch in dieser Untersuchung vielfach auffällig hohe Bildungsaspirationen deutlich, die offenbar eine bedeutsame Strategie von Migrantenfamilien darstellen, um die Statusposition in der Folgegeneration zu verbessern oder zumindest aufrechtzuerhalten. Um aufzuzeigen, dass das Konzept der Bildungsaspirationen – vor allem im Kontext von Migration – theoretisch und empirisch differenziert werden muss, wurden drei verschiedene Typen dargestellt, denen einerseits gemeinsam ist, dass jeweils hohe Aspirationen vorherrschen. Sie gehen andererseits jedoch bei Typus 1 mit niedrigem Bildungserfolg und geringer adoleszenter Ablösung einher; führen bei Typus 5 zu hohem, wenngleich tendenziell fragilem Bildungserfolg bei geringer adoleszenter Ablösung; sind bei Typus 6 mit hohen Erfolgen verknüpft und werden im Zuge eines adoleszenten Ablösungsprozesses als ausgeprägte Bildungs(erfolgs)orientierung angeeignet.

Die Variationen verdeutlichen, dass der Begriff der Bildungsaspiration differenziert werden muss. Quer zu der vielfach üblichen Unterscheidung zwischen ‚idealistischen‘ und ‚realistischen‘ Bildungsaspirationen (vgl. Stocké 2009) erwies sich in dieser Hinsicht eine andere Differenzierung als entscheidend: nämlich zwischen a) jenen Erwartungen und Ansprüchen an den Bildungsweg des Kindes, die wir ‚Bildungsaufträge oderDelegationen‘ genannt haben, bei denen die eigenen Wünsche, Nöte und Interessen der Eltern explizit oder implizit im Mittelpunkt stehen und die dadurch bedrängend wirken sowie b) ‚Aspirationen‘, die weniger stark aus den Eigeninteressen der Eltern heraus motiviert sind und daher zulassen, dass der Sohn einen eigenen Weg gehen kann. Während Aspirationen sich positiv auswirken können, sofern sie zugleich Abgrenzung und eigene Wege und Entscheidungen der Kinder ermöglichen, wirken sie sich in dem Maße, wie sie als Aufträge und Delegationen zum Ausdruck kommen, potenziell zweischneidig aus: wenn der Bildungserfolg im Dienste der Interessen und Wünsche der Eltern steht, nicht als eigenmotiviert erlebt wird und im Widerspruch zu Ablösungsbestrebungen steht.

Woraus resultieren die hohen Aspirationen? In allen drei Varianten sind in den jeweils zugeordneten Fällen hohe Aspirationen mit enttäuschenden, teils heteronomen, teils überaus schmerzlichen Migrations- und Ausgrenzungserfahrungen verknüpft. Bei Typus 5 und 6 kam das Migrationsmotiv eines angestrebten, jedoch selbst nicht realisierten Aufstiegs hinzu. Der Bildungserfolg der Kinder bekommt im Zuge dessen beinahe regelhaft kompensatorische Funktion und erlangt somit – migrations- und ausgrenzungstypisch – Delegationscharakter.

Während jedoch zu Beginn des Projekts noch die Annahme leitend war, dass sich Delegationen generell ungünstig auswirken, weil dabei eigene Interessen der Eltern dominieren, musste diese Hypothese modifiziert werden. Zwar erzeugt die migrationstypische Konstellation – die aus den Anforderungen der Trennung von der Herkunft selbst, aber auch aus spezifischen und bei türkischen Migrantenfamilien vielfach zugespitzten Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen resultiert – in der Tat explizit oder implizit bedrängende, somit belastende und riskante Momente in der Eltern-Kind-Beziehung. Dies würde zum einen – neben anderen Bestimmungsgründen wie der mangelnden Kenntnis des Bildungssystems, der institutionellen Diskriminierung u. a. m. – in intergenerationaler Perspektive erklären, warum es häufig nicht gelingt, hohe Aspirationen auch umzusetzen und weshalb es aus dieser Sicht in den adoleszenten Entwicklungen junger Männer regelmäßig und mitunter nachhaltig zu Phasen (auch) der (Bildungs-)Verweigerung gegenüber den instrumentellen elterlichen Anmutungen kommen kann (und solche Phasen fanden sich im Sample auch bei den später äußerst erfolgreichen jungen Männern).

Zugleich jedoch – und auch deshalb finden sich keine eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Relationen – müssen Effekte der Delegation von Aufstiegs- und Bildungserfolg als mit anderen Aspekten der Generationendynamik vermittelt erachtet werden. Sie können, so zeigte sich, verstärkt werden durch Trennung und Abgrenzung tabuierende Konstellationen, die etwa aus leidvollen Erfahrungen der Eltern resultieren; sie können aber auch ausgeglichen werden durch überwiegend konstruktive emotionale Anerkennungsbeziehungen, die eine adoleszente Ablösung zulassen und damit die Anverwandlungen von Delegationen ermöglichen.

Im Sinne des theoretischen Modells sind Bildungsaspirationen insofern hinsichtlich ihrer Motiviertheit und Wirksamkeit zu beziehen auf die erwähnte, intergenerational vermittelte, verdoppelte Transformationsanforderung im Kontext von Migration und Adoleszenz. Die spezifischen Anforderungen der Adoleszenz stellen dabei strukturell eine Zuspitzung jener basalen Anforderung an die Ermöglichung von Abgrenzung und Selbstbestimmung durch die Eltern dar, die bereits in der Kindheit bedeutsam ist. In der Adoleszenz rücken indessen Prozesse der potenziellen Umgestaltung, Modifikation und Verarbeitung von intergenerational vermittelten familialen Beziehungsmustern und Aufträgen ins Zentrum. Insofern erfährt in der Adoleszenz sowohl die Auseinandersetzung mit Trennungsthemen, die bei Migrantenfamilien aufgrund migrationsbedingter Trennungserfahrungen in besonderer Weise ‚aufgeladen‘ sind, als auch mit Bildungsaspirationen oder anderen ‚Aufträgen‘ einen weichenstellenden Höhepunkt. Die Analyse der adoleszenten Umgestaltung von Nähe und Abgrenzung, Bindung und Autonomie erwies sich für das Verständnis der Bildungsverläufe und der intergenerationalen Dynamik von Bildungsaspirationen als entsprechend bedeutsam. Übergreifend zeigte die Untersuchung schließlich, dass Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung auf mehreren Ebenen wirksam sind: Sie können selbst Aufstieg motivieren und damit kehrseitig – kompensatorisch qua Auftrag – intergenerational bedrängende Folgen zeitigen. Und sie können dazu führen, dass Ablösung in dem Maße erschwert wird, wie die Familie umso mehr als Zuflucht und Notgemeinschaft erlebt wird. Umgekehrt können offensive und konstruktive Umgangsweisen der Eltern mit Diskriminierung und Benachteiligung auch Brücken bauen im Ringen um die adoleszente Selbstpositionierung sowohl im Verhältnis zur Familie als auch zu außerfamilialen Bezügen.