1 Einleitung

Das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmung zu Zuwanderungsbeschränkungen ist von rechten und europakritischen Bewegungen überall in Europa begeistert aufgenommen worden. Mit knapper Mehrheit hatten sich die Schweizer im Februar 2014 für eine eigenständige Steuerung und Kontrolle der Einwanderung – auch und gerade aus Ländern der Europäischen Union (EU) – ausgesprochen. Das Abstimmungsergebnis hat nicht von ungefähr große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kritiker der EU haben verstanden, dass mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht irgendeine technokratische Regelung aus „Brüssel“ auf dem Spiel steht, sondern ein Kernelement der europäischen Integration. Tatsächlich handelt es sich bei Europa auch um ein Mobilitätsregime. Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen sollen zwischen EU-Ländern flottieren, ohne dass nationale Regelungen dies behindern. Von Beginn an waren neben wirtschaftlichen auch (friedens-)politische Motive für dieses Binnenmarktprojekt ausschlaggebend. In einer kühnen Vision ging man davon aus, dass die gesellschaftliche Integration der Völker der wirtschaftlichen Integration der Märkte nachfolgen würde. Für das politische Integrationsziel ist die Personenfreizügigkeit von besonderer Bedeutung, weil sie mit direkten Kontakten zwischen Menschen einhergeht und unmittelbar grenzübergreifende lebensweltliche Erfahrungen ermöglicht.

Knapp 50 Jahre nach Unterzeichnung der konstitutiven Römischen Verträge ist die rechtliche Situation von Arbeitnehmern und Selbstständigen, die sich in einem anderen EU-Staat wirtschaftlich betätigen wollen, umfassend geklärt. Weitreichende Bestimmungen ermöglichen es jedem EU-Bürger beispielsweise, sich zur Arbeitssuche und Aufnahme in ganz Europa frei zu bewegen und auch nach dem Ende einer Beschäftigung im Zielland zu verbleiben. Dort haben sie (grundsätzlich) auch Anspruch auf Rechte der nationalen sozialen Sicherungssysteme, in die die dortigen Arbeitsbeziehungen eingebettet sind. Um die grenzübergreifende Arbeitssuche und -aufnahme zu erleichtern, unterstützt die EU die Mobilität auf vielfältige Weise: von der Informationsplattform für EU-Migranten im Internet über die einheitliche Währung bis zur Investition in transnationale Verkehrsstraßen (Jensen und Richardson 2004). In dem vorliegenden Artikel steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit sich der mit diesen Politiken verbundene Gestaltungsanspruch national durchsetzt. Präziser ausgedrückt geht der Beitrag der Frage nach, ob der europapolitische Grundsatz der Nicht-Diskriminierung von EU-Ausländern die Praxis auf den nationalen Arbeitsmärkten, genauer auf dem deutschen Arbeitsmarkt, prägt. Das ist dann der Fall, wenn Diskriminierungen nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch beseitigt sind, d. h. sich keine Unterschiede in der Behandlung von In- und Ausländern beobachten lassen. Mit dieser Fragestellung interessieren wir uns für das Verhältnis von vertikaler Integration (zwischen europäischen, nationalen und regionalen Regierungsebenen) und horizontaler Integration (zwischen den nationalen Bevölkerungen) (Mau und Büttner 2010).

Die Übersetzung der EU-Freizügigkeitsrechte in konkretes Handeln lässt sich theoretisch als Konfiguration von drei Arten von Feldern verstehen: Im supranationalen Politikfeld der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Verständnis dafür entwickelt worden, welche Rechte Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten europaweit zustehen. Das „Kontrollkonzept“ des Feldes (Fligstein und McAdam 2012) dreht sich um a) ein Verbot von Diskriminierungen aufgrund von Nationalität sowie b) um Wettbewerbsneutralität, d. h. den Gedanken, dass jeder Europäer überall in der EU mit Inländern auf Augenhöhe um einen Arbeitsplatz konkurrieren können soll, und schließlich c) um nationale Vielfalt. Das Prinzip der nationalen Vielfalt verweist darauf, dass der Anbieterwettbewerb der Arbeitskräfte vor Ort zu den Bedingungen der nationalen Arbeitsmarktfelder ausgetragen wird. In diesen Feldern wird festgelegt, auf welchem Niveau und in welcher Hinsicht Wettbewerbsneutralität mit Inländern herzustellen ist. Das komplementäre Verhältnis von europäischen und nationalen Regelungen kennzeichnet schließlich den transnationalen Mobilitätsraum. Wer im europäischen Ausland arbeiten will, ist vor bestimmten Benachteiligungen geschützt und erhält Garantien, mit denen er als echter Mitbewerber um eine Stelle antreten können soll. Für Personen, die diesen erweiterten Konkurrenzraum für sich nutzen und sich im transnationalen Raum bewegen, gilt, dass sie in zwei relationalen Kontexten gleichzeitig positioniert sind: im europäisch geschaffenen transnationalen Raum, der ihnen erleichterten grenzübergreifenden Zugang zu Stellenausschreibungen ermöglicht, und im nationalen Feld, in das sie mit einer Bewerbung eintreten.

Empirisch untersucht der vorliegende Beitrag die faktischen Wirkungen der EU-Freizügigkeitsrechte am Fall des deutschen Arbeitsmarktes. Wir stellen zwei Thesen auf: Aufgrund der Heterogenität der nationalen Arbeitsmarktfelder in Europa sowie gewachsener Migrationssysteme weisen EU-Ausländer hinsichtlich ihrer individuellen Merkmalsausstattung (z. B. der Bildung) und ihrer Arbeitsmarktpositionierung (z. B. in Betrieben unterschiedlicher Größe) sowie hinsichtlich des Lohns je nach Herkunftsland deutliche Unterschiede auf (Heterogenitätsthese). Nach dem Gestaltungsanspruch des europäischen politischen Feldes sollten diese Lohnunterschiede allein auf arbeitsmarktrelevante individuelle Faktoren sowie auf Faktoren der Arbeitsmarktpositionierung zurückgeführt werden können und unabhängig von der nationalen Herkunft sein. Ein Italiener mit Hochschulabschluss, mehrjähriger Berufserfahrung und Anstellung in einem Betrieb mit hohem Frauenanteil sollte also genauso viel verdienen wie ein Deutscher mit den gleichen Eigenschaften (Nicht-Diskriminierungsthese). Grundlage der Studie sind umfangreiche Prozessdaten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die wir mithilfe von Blinder-Oaxaca-Zerlegungen auswerten.

Die folgende Argumentation ist in drei Teile untergliedert. Im nächsten Abschnitt (2) wird das gegenstandstheoretische Modell vorgestellt, nach der sich die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Wechselspiel zwischen supranationalem Politikfeld, transnationalem Mobilitätsraum und nationalen Arbeitsmarktfeldern entfaltet. Vor diesem Hintergrund entwickeln wir die beiden Thesen des Beitrags, die Heterogenitäts- und die Nicht-Diskriminierungsthese. Im Abschnitt 3 beschreiben wir die Datengrundlage und das methodische Vorgehen. Im Anschluss werden die zentralen Ergebnisse vorgestellt und diskutiert, inwieweit sie unsere Annahmen zur Durchsetzung des Kontrollkonzepts des supranationalen Politikfeldes stützen oder herausfordern (Abschn. 4). Im Fazit deuten wir diese Ergebnisse als Hinweise auf die Bedeutung transnationaler Vergleichshorizonte für die Bewertungen von Positionierungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt (Abschn. 5).

2 EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit und Feldanalyse

Wir verwenden einen feldtheoretischen Ansatz, um der Wirkung der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeitspolitik in Deutschland nachzugehen. Wir schließen damit an eine Reihe von Arbeiten an, die sich mit der Entstehung transnationaler Felder und deren Beziehung zu anderen transnationalen sowie zu nationalen Feldern befasst haben. Darunter befinden sich Feldanalysen zu Transnationalisierungsprozessen in der Tradition der politischen Soziologie (Kauppi 2005, 2012), der Wirtschaftssoziologie (Djelic und Quack 2010; Fligstein 2010; Fligstein und Stone Sweet 2002), der Europasoziologie (Fligstein 2008; Mérand 2008), der Professionssoziologie (Lasalle 2010)Footnote 1 oder der Erforschung transnationaler Macht- und Ungleichheitsstrukturen (Glick Schiller 2005; Go 2008). Dieser Forschungsstrang hat deutlich gemacht, dass feldanalytische Forschungsstrategien für die Erfassung der Heterogenität, Vielschichtigkeit und Hybridität transnationaler Phänomene besonders geeignet sind. Die Arbeiten verfügen über ein gemeinsames Repertoire an untereinander relationierten theoretischen Konzepten, mit denen sich gegenstandsbezogene Theorien mittlerer Reichweite entwerfen lassen (Bernhard und Schmidt-Wellenburg 2012). Die Orientierung auf theoretisch angeleitete empirische Fallstudien im Kern des Forschungsprogramms erleichtert den Zugang zu neuartigen und diffusen Phänomenen wie dem der Transnationalisierung. Ein weiteres Charakteristikum der Feldtheorie, das für die Bearbeitung unserer Fragestellung von Bedeutung ist, ist die emergenztheoretische Herangehensweise (Kneer 2004).

Die heutigen Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit sind in einem historisch kontingenten und zugleich pfadabhängigen Prozess aus den Römischen Verträgen hervorgegangen. Wie die politikwissenschaftliche Debatte von Supranationalisten und Intergouvernementalisten gezeigt hat, waren weder Umfang noch Zuschnitt der gegenwärtigen Rechtsansprüche vorausgeplant oder zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses auch nur absehbar. Sie sind das Ergebnis von Bedingungsfaktoren, die sich als interne und externe Einflüsse auf ein emergentes Politikfeld verstehen lassen. Für die Analyse der Interdependenz dieses Politikfeldes mit seiner gesellschaftlichen Umwelt unterscheiden wir begrifflich zwischen relationalen sozialen Räumen und Feldern. Felder verstehen wir als relationale soziale Räume, die von gemeinsamen Wertschätzungen sowie Dynamiken der Hierarchisierung und Konkurrenz nach innen integriert und nach außen abgegrenzt sind. Bei sozialen Räumen ist diese Binnenstrukturierung weniger stark oder auf andere Weise ausgeprägt. „Sozialer Raum“ ist der allgemeinere Begriff, weil er mit Ausnahme der relationalen Konstitution des Raumes aus Elementen keine Annahmen über die Struktur eines Gegenstandes mitführt (Schroer 2006). Die Frage nach der Durchsetzung des Gestaltungsanspruchs des europäischen Politikfeldes in den nationalen Gesellschaften kann so als Verhältnis von drei Typen von sozialen Räumen bestimmt werden: Neben dem supranationalen Politikfeld der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind dies der transnationale Mobilitätsraum sowie die nationalen Arbeitsmarktfelder. Im Folgenden werden diese Räume jeweils vorgestellt (2.1 bis 2.3) und vor diesem Hintergrund dann die erkenntnisleitenden Hypothesen des Artikels formuliert (2.4).

2.1 Das supranationale politische Feld der Arbeitnehmerfreizügigkeit

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit war ein Kernelement der Römischen Verträge aus dem Jahr 1957. Sie wurden intergouvernemental zwischen den Gründerstaaten ausgehandelt und sollten u. a. den Weg zu einem Gemeinsamen Markt ebnen. Trotz der Rhetorik einer „ever closer union“ in der Präambel der Verträge war die Entwicklung, die Europa auf Basis dieser Verträge nehmen sollte, wohl keinem der Unterzeichner zum damaligen Zeitpunkt klar. In den ersten Jahren nach Vertragsschluss waren Vorrang und Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht noch nicht durchgesetzt, und bis zum Jahr 1968 blieben nationale Regelungen zur Migration in Kraft, sodass Intra-EU-Migranten denselben Regelungen wie Migranten aus Drittstaaten unterworfen blieben (Favell und Recchi 2009, S. 6). Einige Besonderheiten des Vertragswerks haben dann aber eine schrittweise Expansion der Grundfreiheiten ermöglicht. Im „Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften“ aus dem Jahr 1957 wurde u. a. der Europäische Gerichtshof (EuGH) begründet. In den folgenden Jahrzehnten konnte dieser im Rahmen der Verträge eine eigene Rechtstradition und eigene Auslegungsgrundsätze etablieren und damit den Verlauf sowie das Tempo der europäischen Integration mitgestalten. Hilfreich war in diesem Zusammenhang, dass die Grundfreiheiten dezidiert mit einem Gestaltungsauftrag versehen waren (Frenz 2012, S. 671). Ihre faktische Herstellung konstituierte eines der Vertragsziele. Die Tradition des „case laws“ (Münch 2008) war in diesem Zusammenhang funktional: Sie ermöglichte, dass anhand von einzelnen Rechtsfällen allgemeine Auslegungsprinzipien entwickelt und in der weiteren Rechtsprechung konsolidiert werden konnten. So wurde beispielsweise die am Fall Costa/EnelFootnote 2 entwickelte Doktrin des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zu einem Grundstein des gesamten weiteren Integrationsprozesses.

Die Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist in zwei Hauptrichtungen erfolgt. Zum Ersten wurde der Personenkreis, der direkt oder indirekt den Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit unterworfen ist, kontinuierlich ausgeweitet. Neben einer weiten Auffassung des Arbeitnehmerbegriffs, der Arbeitssuchende und Teilzeitbeschäftigte einschließt (Frenz 2012, S. 472 und 480), haben auch Arbeitgeber ein Recht darauf, innereuropäisch mobile Arbeitnehmer zu beschäftigen.Footnote 3 Primärer Adressat der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind die Mitgliedstaaten, aber in Grenzen ist auch eine Drittwirkung von Privaten wie Arbeitgebern oder Tarifpartnern gegeben.Footnote 4 Beispielsweise dürfen Tarifverträge EU-Staatsangehörige nicht diskriminieren.Footnote 5 Bereits mit den Ratsbeschlüssen aus dem Jahr 1968 wurde für Familienangehörige ein Einreise- und Aufenthaltsrecht abgeleitet.Footnote 6 Neben diesen an die Kategorie des Arbeitnehmers anschließenden Expansionen wurden auch neue Personenkategorien der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugeordnet. Dazu zählen Studenten, Rentner und Arbeitslose.Footnote 7 Nicht zuletzt stellt die Unionsbürgerschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in einen neuen Kontext (Faist 2000). Zum Zweiten wurde der Umfang der Freizügigkeitsrechte (wenngleich nach den Personenkategorien abgestuft) schrittweise ausgeweitet. So sind zum Beispiel soziale und steuerliche Vergünstigungen unabhängig vom konkreten Bezug zum Arbeitsverhältnis zu gewähren,Footnote 8 und alle Unionsbürger haben über ihre EU-Bürgerschaft unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit in einer gleichen Situation Anspruch auf gleiche Behandlung.Footnote 9 Beide Trends, die Ausweitung des Personenkreises und des Umfangs der Arbeitnehmerfreizügigkeit, verändern den Charakter der Grundfreiheit von einer Logik der Faktormobilität auf einem Markt hin zum Bürgerrecht in einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Union (Guild 2004).

Die Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Teil der bemerkenswerten Dynamik der europäischen Integration. Das neoinstitutionalistische Feldkonzept, wie von Neil Fligstein federführend entwickelt (Fligstein 1997, 2008), kann Modell stehen für die Analyse der Entwicklung des supranationalen Politikfeldes der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die EU-Integration ist ein dynamisches, selbsterhaltendes kausales System (Fligstein und Stone Sweet 2002, S. 1209), bei dem vier Faktoren eine Rolle spielen: (1) der Handel zwischen den Mitgliedstaaten bzw. die Händler, (2) die Gerichtsverfahren vor dem EuGH, (3) die Gesetzgebung durch Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament und (4) das Lobbying von interessierten Akteuren auf europäischer Ebene. Diese Elemente bilden positive Rückkopplungsmechanismen, die die Integration vorantreiben. Die Autoren verdeutlichen das am Beispiel des Warenverkehrs. Eine Zunahme von Exporten führt zum einen zu einer Zunahme von grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten, die europäische Regelungen berühren und deshalb vom EuGH behandelt werden, und zum anderen zu mehr transnationalem Lobbying und mehr gesetzlichen Regelungen. Die Gesetzgebung ist neben dem Druck durch den wachsenden Handel auch dem Lobbying der Interessengruppen sowie der ständig expandierenden Rechtsprechung ausgesetzt. Erweiterte europäische Regelungen verbessern wiederum die Bedingungen für den Handel, schaffen damit indirekt Anlässe für neue Rechtsstreitigkeiten und ziehen mit wachsender Kompetenz weitere Lobbygruppen an. An dem selbsterhaltenden, expansiv-dynamischen Prozess sind Akteure aus der Wirtschaft (die Händler), der Politik (Lobbygruppen, EU- und nationale Politiker) und des Rechts (nationale und europäische Richter, Staats- und Rechtsanwälte) auf verschiedenen Ebenen beteiligt. Der Integrationsprozess in institutionellen Feldern verbindet damit horizontale (handeltreibende) und vertikale (regelsetzende) Aktivitäten miteinander.

Überträgt man dieses Erklärungsmodell auf das Arbeitnehmerfreizügigkeitsfeld, dann ergibt sich folgendes Bild: Für die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des supranationalen Politikfeldes waren drei Aspekte maßgeblich. Die grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitnehmern führt, erstens, zu Reibungspunkten zwischen der neuen transnationalen Raumordnung und den etablierten nationalen Ordnungen, die juristisch vor dem EuGH ausgetragen werden können. Ein Beispiel dafür ist der Fall Lawrie-Blum.Footnote 10 Die Britin wollte, nachdem sie in Freiburg das Staatsexamen für Lehramt bestanden hatte, als Studienreferendarin an einem Gymnasium in Deutschland arbeiten. Dies wurde ihr mit dem Hinweis verweigert, dass Studienreferendare keine Arbeitnehmer im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeit seien, sondern Beamte und zudem das deutsche Beamtenrecht das Beamtenverhältnis deutschen Staatsangehörigen vorbehalte. Das Bundesverwaltungsgericht legte den Fall auf dem Wege des Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH vor. Der entschied, dass Studienreferendare – auch wenn sie verbeamtet sind – Arbeitnehmer im Sinne des EG-Vertrages sind. Damit war impliziert, dass die Tätigkeit als Studienreferendar nicht in die Bereichsausnahme der öffentlichen Verwaltung nach Art. 45 Abs. 4 AEUV fällt. Nach Einschätzung des Gerichts finde diese nur auf Tätigkeiten mit einem Verhältnis besonderer Verbundenheit des Stelleninhabers mit dem Staat Anwendung, wie sie beispielsweise bei Militär und Justiz vorliegt. Mit dieser Entscheidung hat der EuGH zunächst einmal deutlich gemacht, dass sowohl die Definition des Arbeitnehmerstatus als auch die des Begriffs der öffentlichen Verwaltung europaweit einheitlich und das heißt nach Interpretation des EuGH zu verstehen sind. Zudem hat er in dem Urteil den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit weit ausgelegt und die Bereichsausnahmen eng gefasst. Der Fall zeigt, wie im konstitutionellen Gefüge Europas Einzelne zu „Transmissionsriemen“ (Frenz 2012, S. 41) der Auslegung und Durchsetzung des Unionsrechts werden. Bei aller expansiven Tendenz setzt die europäische Rechtsprechung stets die Existenz und den Fortbestand nationaler Wirtschafts- und Sozialordnungen voraus, sodass den Gerichtsentscheidungen immer auch der Charakter einer Grenzziehung innewohnt: hier der aus der Freizügigkeit abgeleitete Anspruch auf einen transnationalen Mobilitätsraum, dort das Anrecht der Mitgliedstaaten, die Regeln in ihrem Hoheitsgebiet zu gestalten.

Die zweite Dynamik besteht zwischen den Organen der EU. Der EuGH nutzt seine Rechtsprechung für die systematische Ausarbeitung, Ausweitung und Durchsetzung der Europäischen Verträge gegenüber den Mitgliedstaaten. Europäisches Parlament und Rat der EU konsolidieren – auf Vorschlag der Europäischen Kommission – diese Rechtsprechung in Richtlinien und Verordnungen und schaffen darüber hinausgehendes Sekundärrecht (z. B. Europäisches Parlament und Rat 2005, 2011). Die Kommission entwickelt in Aktionsplänen zudem fortlaufend eine Agenda für weitere Schritte in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und begleitet über Eurostat die Freizügigkeitspolitik mit wissenschaftsförmigen Berichten (Europäische Kommission 2002, 2008, 2010). Dieses Zusammenspiel fördert das, was Wolfgang F. Scharpf „negative Integration“ (Scharpf 1999, S. 49) genannt hat, also die Beseitigung von Zöllen, Handelsbeschränkungen und Behinderungen des Wettbewerbs, nicht aber die „Ausübung wirtschaftspolitischer und regulativer Kompetenzen auf der Ebene der größeren wirtschaftlichen Einheit“ (ebd.). Die Logik der expansiven Interpretation der Verträge und der Schaffung von neuen sekundärrechtlichen Regelungen teilt das Feld der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit anderen, zum Teil angrenzenden Feldern.

Drittens wird die Ausarbeitung und Durchsetzung des Kontrollkonzepts des Arbeitnehmerfreizügigkeitsfeldes in den Mitgliedstaaten von anderen EU-Politikbereichen begünstigt. An erster Stelle sind hier die anderen Grundfreiheiten zu nennen, die zur Entwicklung eines eigenständigen Rechtsverständnisses hinsichtlich des Verhältnisses von nationalem und europäischem Recht beigetragen haben. Weitere Politikbereiche flankieren die Regelungen des Arbeitnehmerfreizügigkeitsfeldes, indem sie faktisch zum Ausbau des transnationalen Mobilitätsraums beitragen. Dazu zählen das Schengen-Abkommen, die Anerkennung von Berufsabschlüssen und Qualifikationen, der Gleichbehandlungsgrundsatz, die Harmonisierung des Hochschulsystems, aber auch distributive Politiken wie Stipendien, das Erasmus-Programm, Regionalpolitiken zur Förderung des Straßenbaus und Kommunikationsnetzes, die Wirtschafts- und Währungsunion, die Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitiken und nicht zuletzt das europäische Skript von Binnenmarkt und Globalisierung (Bernhard und Münch 2011; Jensen und Richardson 2004; Mau 2006; Recchi 2008). Gemeinsam sorgen diese Politikbereiche dafür, dass sich die Zugänge und Strukturierungsprinzipien nationaler Sozial- und Wirtschaftsordnungen in Europa verändern.

Zusammengenommen wirken die Bedingungen in und um das supranationale Politikfeld wie ein selbstverstärkender Rückkopplungsmechanismus, der in seinen Grundzügen analog zu dem von Fligstein und Stone Sweet (2002) für den gesamten europäischen Integrationsprozess identifizierten ist. Jede Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit um neue Personengruppen und Rechtsansprüche vermehrt die potenziellen Reibungspunkte zwischen nationalem und europäischem Recht, was die Wahrscheinlichkeit einer Einschaltung des EuGH erhöht und damit neue Möglichkeiten für eine expansive Auslegung der Rechtsgrundlage bietet. Die Zunahme der innereuropäischen Mobilität und das wachsende Wissen um europäische Bürgerrechte sowie die Ausweitung der individuellen Rechtsansprüche und fortschreitende Rechtsprechung rufen die EU-Organe auf den Plan, die neues Recht setzen sowie Aufgaben für weitere Mobilitätserleichterungen im Sinne des Kontrollkonzepts formulieren können. Im Ergebnis wird so ein transnationaler Raum zu den nationalen Arbeitsmarktfeldern projiziert, der diese in neuer Weise relationiert. Leitstern dieser Projektion ist das im supranationalen politischen Feld entwickelte „Kontrollkonzept“ (Fligstein und McAdam 2012, S. 84). Es umfasst a) ein Verbot von Diskriminierungen aufgrund von Nationalität, b) das Gebot der Wettbewerbsneutralität zwischen In- und Ausländern und c) das Prinzip nationaler Regelungsvielfalt in den Arbeitsmarktfeldern. Diese regulativen Imperative stehen im Kontext des liberalen Binnenmarktparadigmas der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union (Bernhard 2010; Gerhards und Hessel 2008). Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (insbesondere das Diskriminierungsverbot) soll die grenzüberschreitende Mobilität des Faktors Arbeit in Europa erleichtern – ein Ziel, das für sich genommen sowohl Selbstzweck des liberalen EU-Paradigmas ist als auch Mittel zur gesellschaftlichen Integration. Das Diskriminierungsverbot ist gegen jede Form von Beschränkungen der Freizügigkeit gerichtet, weil diese faktische Hindernisse für die Mobilität des Faktors Arbeit auf dem europäischen Binnenmarkt darstellen. In dem Maße, wie das Versprechen ungehinderter Mobilität grenzüberschreitende Bewegungen von Personen nach sich zieht, fördert es transnationale Verflechtungen und damit auch die horizontale Integration der europäischen Gesellschaften (Mau 2007).

2.2 Der transnationale Mobilitätsraum

Bei politischen Feldern wie dem supranationalen Feld der Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten besondere Regelungen für die Außenbeziehung zu ihrer Umwelt. Politische Felder wirken nicht nur faktisch auf andere Felder und Sozialräume ein (Interdependenzen), sie haben einen expliziten Gestaltungsauftrag, für den sie u. a. auf staatliche Ressourcen zurückgreifen. Dieser Gestaltungsauftrag ist (zumindest indirekt) legitimiert über Repräsentationsbeziehungen zwischen den Bürgern, die den politischen Regelungen unterworfen sind, und den Professionellen des Feldes, die diese Regeln verfassen (Bourdieu 2001). Der Gestaltungswille des supranationalen Arbeitnehmerfreizügigkeitsfeldes bezieht sich auf die grenzübergreifende Bewegungs- und Handlungsfreiheit der Arbeitnehmer der EU. Sie soll derart erleichtert werden, dass jeder Arbeitnehmer ungehindert in den Wettbewerb um eine im Unionsgebiet angebotene Stelle eintreten kann. Die interstaatliche Migration soll der intrastaatlichen Mobilität gleichgesetzt werden, m. a. W. transnationale Mobilität soll ermöglicht werden (zur begrifflichen Unterscheidung siehe auch Verwiebe et al. 2003). Diese Zielsetzung wird sowohl wirtschaftlich (als notwendige Faktormobilität auf einem Binnenmarkt) als auch sozial (als Motor der sozialen Integration) begründet (Frenz 2012, S. 6 ff.). Mit seinen Regelungen projiziert das europäische Feld der Arbeitnehmerfreizügigkeit einen transnationalen Mobilitätsraum in seine Umwelt, der neben nationale Arbeitsmarktfelder tritt und diese durchdringt.

Konstitutiv für das Verhältnis von transnationalem Mobilitätsraum und nationalen Arbeitsmarktfeldern zueinander ist, dass der transnationale Mobilitätsraum lediglich grenzüberschreitende Sachverhalte definiert. Er stellt die nationalen Arbeitsmarktfelder so nebeneinander, dass Wettbewerbsneutralität, Diskriminierungsverbot und subsidiäre Vielfalt zwischen In- und Ausländern in jedem Land der EU herrschen können (ebd., S. 56). Regelungsgegenstand ist damit lediglich das Konkurrenzverhältnis zwischen EU-Ausländern und Inländern im jeweiligen Land, und dies auch nur durch Gestaltung der Rechte Ersterer. Dieses Regulierungsprinzip ist weniger weitgehend als Harmonisierungen und Koordinierungen nationalstaatlicher Ordnungen nach dem Herkunftslandprinzip. Bei letzteren wären z. B. wettbewerbsrelevante Qualifikationen, die in einem Land der EU erworben wurden, automatisch und ohne weitere Äquivalenzprüfung in allen Ländern der Union gültig. Im Gegensatz dazu dürfen Unterschiede in der Marktregulierung zwischen den Mitgliedstaaten bei allen Grundfreiheiten bestehen bleiben, sofern sie nicht die um das Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot entwickelten Wettbewerbsstandards unterminieren. Gerade weil die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur einen einheitlichen Binnenmarkt herstellt, nicht aber die Veränderung nationaler Marktordnungen per se erreichen will, entzünden sich die juristischen Konflikte an den Grenzziehungen zwischen vertretbarer nationaler Eigenständigkeit und Beeinträchtigungen der Freizügigkeit (siehe z. B. die ständige Rechtsprechung zur Korrektur der Dassonville-Formel in der Tradition von Cassis de Dijon und KeckFootnote 11

Im Ganzen zeigt sich, dass der transnationale Mobilitätsraum ein unebenes Gelände ist. Eine Österreicherin beispielsweise, die sich zur Beschäftigungsaufnahme nach Deutschland begibt, hat – von Mutterschutzzeiten bis zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – Anspruch auf gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie beschäftigungsbezogene Sozialleistungen und Steuervergünstigungen wie eine Deutsche. Zieht sie zu einem späteren Zeitpunkt weiter nach Großbritannien, erwirbt sie Rechte, die sich an der neuen Vergleichsgruppe der dortigen Inländer orientieren und nicht mehr an der zuvor einschlägigen Vergleichsgruppe deutscher Arbeitnehmer. Das Recht auf Gleichbehandlung in jedem anderen EU-Mitgliedstaat stellt Wettbewerbsgleichheit demnach lokal her, nach den Begebenheiten des jeweiligen Aufnahmelandes. An verschiedenen Punkten im transnationalen Mobilitätsraum wird folglich zu unterschiedlichen Bedingungen konkurriert. Transnationaler Raum und nationale Felder sind so verschränkt, dass die nationalen Felder zu notwendigen Bedingungen einer Positionierung im transnationalen Raum werden. Während der transnationale Mobilitätsraum EU-Mobilen effektiven Zugang zur Angebotskonkurrenz auf den Arbeitsmärkten der Nationalstaaten verschafft, füllen diese Felder das aus dem supranationalen Feld der Arbeitnehmerfreizügigkeit abgeleitete „Recht auf gleiche Rechte“ mit materiellen Rechten, die Arbeitsverträge ausgestalten und Lebens- und Arbeitsbedingungen konkret regeln. Transnationalität ist bei Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Resultat der doppelten Positionierung in einem europäisch definierten transnationalen Mobilitätsraum und einem nationalen Arbeitsmarktfeld.

2.3 Das nationale Arbeitsmarktfeld: Der Fall Deutschland

Die Strukturierungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit lassen sich nicht mit einem essentialistischen Raumverständnis fassen (Eigmüller 2006). Nationalstaaten haben durch externe Grenzziehung, Homogenisierung und interne Strukturierung (Flora 2000; Mau 2006) eine historisch einmalige parallel-kongruente Begrenzung von Sozialräumen errichtet, die wie Container anmuten (Beck und Grande 2004; Delhey und Kohler 2006). Mitgliedschaftsraum und geografischer Raum waren deckungsgleich, sodass man sich entweder in diesem Nationalstaat befand oder in jenem. Der transnationale Mobilitätsraum beseitigt diese Exklusivität, indem er den Nationalstaaten in der EU die Möglichkeit nimmt, seine Grenzen gegenüber EU-Ausländern nach eigenem Gutdünken aufrechtzuerhalten. Intra-EU-Mobile sind damit mehrfach positioniert (Weiss 2005, S. 712): in einem nationalen Arbeitsmarktfeld gemäß dessen Arbeitsmarktordnung und in einem transnationalen Raum mit seinem Recht auf gleiche Rechte. Sie sind im Sinne Ulrichs Becks und Edgar Grandes (2004) sowohl vollumfänglich auf den nationalen Anbietermärkten tätig als auch im transnationalen Raum verortet, der ihnen den offenen Zugang zu diesen sichert. Im nationalen Arbeitsmarktfeld sind sie gleichberechtigte Arbeitskraftanbieter, im transnationalen Raum EU-Ausländer und als solche Nutznießer europäischer Rechte auf Rechte. Die „Pluri-Lokalität“ (Pries 2008, S. 43) des transnationalen Mobilitätsraumes zeigt sich darin, dass die nationalen Felder in ihm Punkte definieren, an denen sich EU-Mobile in lokalen Ordnungen positionieren können. Grenzen spielen in dieser mehrdimensionalen Raumkonstellation eine eigentümliche Rolle: Einerseits kann den transnationalen Raum nur betreten, wer Nationalstaatsgrenzen überschreitet bzw. wessen Pass auf einen Grenzübertritt hinweist – und diesen Grenzübertritt zu erleichtern und alltäglicher zu machen, ist der eigentliche Zweck der Freizügigkeitspolitik. Andererseits perpetuiert diese Verfasstheit des transnationalen Mobilitätsraumes gerade die Grenzen, die sie zu schleifen vorgibt. Das zeigt sich schon daran, dass von den Gleichheitsrechten der Freizügigkeit nur profitieren kann, wer EU-Ausländer (nicht aber: Inländer oder Drittstaatler) ist. Im Gegensatz zum Grenzverständnis des Nationalstaats exkludieren Binnengrenzen im transnationalen Mobilitätsraum nicht mehr, sondern sind inklusiv und schlagen Brücken zwischen nationalen Teilräumen.

Im Anschluss an die neoinstitutionalistische Marktsoziologie begreifen wir den deutschen Arbeitsmarkt als Feld (Fligstein 1996, 2001). Wie alle wirtschaftlichen Beziehungen sind die Tauschverhältnisse auf Arbeitsmärkten eng mit institutionellen Arrangements verbunden, die den Marktakteuren bei der Bewältigung von Unsicherheit als Ressourcen dienen (Beckert 2012; Beckert et al. 2007; Fligstein und Dauter 2007). Das deutsche Arrangement wurde international vergleichend untersucht und charakterisiert. Demnach lässt sich die Binnenlogik des deutschen Arbeitsmarktfeldes als kontinentaleuropäische Beschäftigungsordnung verstehen, die weniger inklusiv als der skandinavische Typ ist, insbesondere gegenüber älteren Arbeitnehmern und Frauen (Heidenreich 2004). Institutionelle Komplementaritäten ermöglichen ein inkrementelles Innovationssystem, das in bestimmten Branchen weltweit hochgradig konkurrenzfähig ist und für eine relativ starke industrielle Basis mit entsprechender Nachfrage nach qualifizierten Arbeitnehmern sorgt (Hall und Soskice 2001). Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt begegnen sich vor dem Hintergrund eines reformierten konservativen Wohlfahrtsstaates, für den neben der Bedeutung von Familie und statuserhaltenden Versicherungssystemen für die Wohlfahrtserbringung zusehends auch marktorientierte Elemente typisch sind (Esping-Andersen 1990; Palier 2010). Diese Bedingungen produzieren „multiple dualisms“ (ebd., S. 615) im deutschen Arbeitsmarktfeld, d. h. eine Teilung der Bevölkerung in abgesicherte Insider und unterstützte oder aktivierte Außenseiter. Zwischen der Zone der Inklusion und den Außenseitern ist eine dauerhafte Zwischenzone prekärer Teilinklusion in den Arbeitsmarkt und die Systeme sozialer Sicherung entstanden (Grimm et al. 2013). Für unsere Studie heißt das, dass Arbeitnehmer um eine begrenzte Zahl von Insider-Positionen konkurrieren, die finanziell, steuerpolitisch, sozialversicherungsmäßig und moralisch besonders einträglich sind. Die Integration der hier untersuchten EU-Ausländer auf dem deutschen Arbeitsmarkt hängt folglich auch davon ab, ob sie in ähnlicher Weise in der Lage sind, die Inklusionsschwellen des Arbeitsmarktfeldes zu überwinden wie vergleichbare Deutsche.

Ein Blick auf die Mobilitätszahlen zeigt, dass der deutsche Arbeitsmarkt wichtig für diesen transnationalen Raum ist und dass EU-Ausländer einen bedeutenden Teil der Ausländer auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausmachen. In absoluten Zahlen ist Deutschland das Land mit den meisten Migranten aus anderen EU-Staaten. Im Jahr 2004 betrug ihre Zahl gut 1,7 Mio. (Braun und Arsene 2009, S. 29), wobei dem ein Anstieg von über 200.000 EU-Ausländern seit Mitte der 1980er Jahre vorausgegangen war (Recchi 2008, S. 202). Die Zahl der EU-Mobilen in Deutschland hat allerdings langsamer zugenommen als die Zahl von Ausländern aus Drittstaaten und ist auf einen EU-Ausländeranteil von 24,1 % im Jahr 2004 zurückgegangen (Braun und Arsene 2009, S. 29). Seit dem Jahr 2005 wächst der Anteil der Neuzuwanderer aus EU-Ländern an allen Neuzuwanderern allerdings deutlich, wobei ein Anstieg bei Zuwanderern aus Ost- und Westeuropa zu konstatieren ist (Seibert und Wapler 2012, S. 3). Prägend für den Bestand der hier untersuchten EU-15-Ausländer ist allerdings die Gastarbeitermigration sowie die Migration aus den Nachbarländern Frankreich und Österreich (Brücker 2012, siehe auch Tab. 3). Deutschland hat im Unterschied zu anderen Einwanderungsländern lange Zeit auf eine kohärente, gezielte und integrierte Steuerung der Zuwanderung verzichtet (Angenendt 1997). Bis in die jüngere Vergangenheit blieb zudem die Möglichkeit zur Einbürgerung – mit Ausnahme der Einbürgerung von Spätaussiedlern – begrenzt (Yeshurun und Nell 2008). Die Zahl der Einbürgerungen war in den 1990er Jahren beispielsweise sehr gering und lag bei höchstens 2 % der ausländischen Bevölkerung. Keines der hier untersuchten Länder gehörte zu den Ländern mit den absolut höchsten Einbürgerungszahlen (Rühl und Currle 2004, S. 60 ff.). Aufgrund der restriktiven Einbürgerungspraxis können wir annehmen, dass die über die Staatsangehörigkeit erfassten EU-Ausländer weitgehend der Gruppe der zugewanderten und im Land verbliebenen EU-Ausländer entsprechen.

2.4 Fragestellung und Hypothesen

Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages ist auf die Frage gerichtet, ob sich das Kontrollkonzept des supranationalen Feldes in den nationalen Feldern durchsetzt und dort Diskriminierungen aufgrund von Nationalität faktisch beseitigt. Untersucht wird der Ausschnitt aus dem gesamteuropäischen Geflecht von sozialen Räumen, in dem sich die europäischen Regelungen (des supranationalen politischen Feldes) mit der deutschen Sozial- und Wirtschaftsordnung (des nationalen Arbeitsmarktfeldes) sowie mit den Personen überschneiden, die als EU-Ausländer in Deutschland arbeiten (und die damit auch im transnationalen Mobilitätsraum positioniert sind). Zwei Hypothesen sollen überprüft werden:

2.4.1 Heterogenitätshypothese

Die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen der Mitgliedstaaten Europas sind auf nationalen Entwicklungspfaden entstanden und sehr heterogen. Neben kulturellen Hintergründen betrifft das auch die Bereiche der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, des Arbeitsmarktes sowie die Einbettung wirtschaftlicher Zusammenhänge in Systeme der sozialen Sicherheit. Nationale Pfade prägen nachhaltig Differenzen u. a. beim Lohnniveau, bei den Systemen sozialer Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und Alter, bei Wirtschaftsstruktur, Politik- und Ausbildungssystemen und begründen spezifische Dynamiken der In- und Exklusion in den nationalen Arbeitsmarktfeldern. Vor diesem Hintergrund und aufgrund weiterer Faktoren wie der politischen Regulierung von Zuwanderung oder historischen Verbindungen zu anderen Ländern hat sich in Europa ein relativ stabiles Migrationssystem mit internen Subsystemen herausgebildet (Hillmann 2000; Mau und Verwiebe 2009; Tomei 2000). Für Deutschland waren zum einen die Arbeitskräftewanderung aus Südeuropa und der Türkei in den 1950er und 1960er Jahren und der anschließende Familiennachzug sowie seit der Wende der Zuzug aus Mittel- und Osteuropa prägend. Zum anderen sind Migranten aus Nachbarländern stark vertreten. Dies hat zu deutlichen nationalitätsspezifischen Unterschieden in Zahl und Struktur der in Deutschland lebendenden (EU-)Ausländer geführt. Die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat unserer Erwartung nach keinen nivellierenden Effekt auf diese gewachsenen Strukturen des deutschen Arbeitsmarktes. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit zielt letztlich nur auf die Gewährung von gleichen Rechten auf dem Arbeitsmarkt eines EU-Landes, unabhängig von der EU-Staatsangehörigkeit der Arbeitnehmer. Wir nehmen an, dass EU-Ausländer auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch nach Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit hinsichtlich ihrer individuellen Merkmalsausstattung (z. B. der Bildung), ihrer Arbeitsmarktpositionierung (z. B. in Berufen) sowie hinsichtlich ihres Lohns je nach Herkunftsland deutliche Unterschiede untereinander sowie zu deutschen Arbeitnehmern aufweisen. Diese Erwartung gilt für alle EU-Ausländer, sowohl für solche, die erstmals im Ausland in den Arbeitsmarkt eintreten, als auch für solche, die (weil hier geboren oder in jungen Jahren eingewandert) dies in Deutschland tun.

2.4.2 Nicht-Diskriminierungsthese

Der Gestaltungsanspruch des supranationalen Politikfeldes bezieht sich auf die Möglichkeit zur fairen Konkurrenz um jeden angebotenen Arbeitsplatz zwischen allen Bürgern der EU. Das Mittel, mit dem das Feld auf seine Umwelt einwirkt, ist die Ausweitung und Vertiefung von Rechten auf Basis des Kontrollkonzepts sowie begleitender Maßnahmen im Sinne eines Mobilitäts- und Nichtdiskriminierungsskripts, das weiten Teilen der Politik der EU unterliegt. Der transnationale Mobilitätsraum, der so geschaffen wird, eröffnet jedem EU-Bürger die Möglichkeit zur rechtlichen Gleichstellung mit Inländern anderer Mitgliedstaaten in deren Hoheitsgebiet, indem er ihnen eine doppelte Positionierung im Arbeitsmarktfeld des Ziellandes (das das Niveau des Gleichstellungsanspruchs bestimmt) und im transnationalen Mobilitätsraum (der den Gleichstellungsanspruch festschreibt) erlaubt. Der rechtliche Rahmen gibt jedem EU-Bürger Instrumente an die Hand, seine europäisch garantierten Rechte einzufordern und notfalls auch vor Gericht zu erstreiten. In diesem Sinne können Einzelne zu Agenten des europäischen Integrationsprozesses werden (Eigmüller 2013). Während die rechtliche Durchsetzung des Gestaltungsanspruchs des Feldes damit gesichert ist bzw. vor Gericht erstritten werden kann, stellt sich die Frage, ob EU-Ausländer auch faktisch keinen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Als Indikator für Nicht-Diskriminierung am Arbeitsmarkt verwenden wir Lohndifferenzen zwischen Deutschen und EU-Ausländern. Folgt man dem Gestaltungsanspruch des supranationalen Politikfeldes, dann sollten Lohnunterschiede zwischen Inländern und EU-Ausländern – sofern vorhanden – allein auf arbeitsmarktrelevante individuelle Faktoren wie Bildung, Berufserfahrung oder Alter sowie auf Faktoren der Arbeitsmarktpositionierung wie Berufszweig oder Innovationsstärke des beschäftigenden Betriebes zurückgeführt werden können und nicht auf die nationale Herkunft. Das ist die zweite These, die wir überprüfen wollen.

3 Daten und Methode

Datengrundlage der nachfolgenden empirischen Prüfung unserer Hypothesen bilden umfangreiche administrative Prozessdaten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Die Analysen beruhen auf drei Datenquellen: (1) Die Beschäftigtenhistorik (V08.06) basiert auf allen Entgeltmeldungen der Arbeitgeber an die Sozialversicherungsträger und enthält zum einen tagesgenau zeitbezogene Personendaten zur Beschäftigung wie Lohn, Beruf, Wirtschaftszweig und Arbeitszeit und zum anderen soziodemografische Merkmale wie Geburtsdatum, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Ausbildung für den Zeitraum von 1975 bis 2010. Nicht enthalten sind Zeiten in selbstständiger und verbeamteter Beschäftigung. (2) Die Leistungsempfängerhistorik (LeH V6.07) enthält zeitbezogene Personendaten zum Bezug von Arbeitslosengeld in der Zeit von 1975 bis 2010. (3) Das Betriebs-Historik-Panel (7510) enthält für den gleichen Zeitraum jeweils zum Stichtag 30. Juni Daten zur Betriebsgröße, zum Gründungsdatum sowie zur Struktur der Beschäftigten.Footnote 12

Die verwendeten administrativen Prozessdaten haben den Vorteil, dass die Höhe des Lohnes durch den Arbeitgeber an den zuständigen Sozialversicherungsträger gemeldet wurde. Damit entfallen im Vergleich zu Umfragedaten wie dem Sozioökonomischen Panel und dem Mikrozensus alle Probleme hinsichtlich der Selektion und hinsichtlich des Antwortverhaltens von Interviewten. Die Prozessdaten enthalten über einen Zeitraum von über 30 Jahren alle Personen, die in Deutschland einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Das bietet zum einen die Möglichkeit, lange Zeiträume seit dem Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit analysieren zu können. Zum anderen kann der jeweilige Beschäftigungs- bzw. Arbeitslosengeldempfangsverlauf der letzten Jahre auf dem deutschen Arbeitsmarkt rekonstruiert werden. Weiterhin ist es nur über eine Vollerhebung möglich, auch kleinere Gruppen von EU-Ausländern wie beispielsweise Schweden und Iren überhaupt zu analysieren und dies darüber hinaus mit einem so breiten Merkmalsspektrum zu tun. Außerdem sind über das Betriebs-Historik-Panel Betriebsmerkmale, die sich in einer Personenbefragung gar nicht erheben ließen, sehr detailliert erfasst.

Die Grundgesamtheit für die Stichprobenziehung aus der Beschäftigtenhistorik wird folgendermaßen definiert: Sie enthält 15- bis 57-jährige Männer aus Westdeutschland, die in der Zeit von 1975 bis 2010 jeweils am Stichtag 30. Juni einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung nachgegangen sind und einen gültigen Wert über der jeweiligen Geringfügigkeitsgrenze für das Tagesentgelt haben. Ostdeutschland wird nicht berücksichtigt, weil Daten für diese Region erst ab den 1990er Jahren vorliegen. Die Analyse konzentriert sich ausschließlich auf Vollzeitbeschäftigungen,Footnote 13 weil keine Stundenlöhne, sondern Bruttotagesentgelte im Datensatz vorhanden sind. Die Analyse konzentriert sich ausschließlich auf Männer, um Probleme aufgrund von geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Selektionsmechanismen in Vollzeiterwerbstätigkeit zu reduzieren. Es wurde eine nach Staatsangehörigkeiten geschichtete Personenstichprobe aus der Beschäftigtenhistorik gezogen. Die Staatsangehörigkeit aus der jeweils ersten Beschäftigungsmeldung pro Person war dabei konstitutiv. Da die Rechte der Arbeitnehmerfreizügigkeit explizit EU-Ausländern gewährt werden und nicht etwa Personen mit Migrationshintergrund, eignet sich die Staatsangehörigkeit zur Abgrenzung der Ausländergruppen. Die Ziehungswahrscheinlichkeiten wurden so festgelegt, dass für jedes Jahr für jede Staatsangehörigkeit wenn möglich rund 1500 Beschäftigungsverhältnisse in die Stichprobe eingehen (Tab. 1). Arbeitnehmer aus Malta und Zypern wurden aufgrund der geringen Fallzahlen von jeweils deutlich weniger als 100 Personen pro Jahr aus den Analysen ausgeschlossen. Die Leistungshistorik und die Betriebsmerkmale aus dem Betriebs-Historik-Panel wurden je über eine anonymisierte Personen- bzw. Betriebsnummer hinzugespielt.

Tabelle 1 Ziehungswahrscheinlichkeit der Stichprobe

Der aufbereitete Analysedatensatz enthält 161.488 Männer. Die Analyseeinheiten sind 1.398.886 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigungen jeweils zum Stichtag 30. Juni in der Zeit von 1980 bis 2010. Alle beobachteten Vollzeitbeschäftigungen, die an den Stichtagen bestehen, sind im Analysedatensatz enthalten, d. h. der Analysedatensatz enthält 1 bis 31 und im Mittel 8,6 Beschäftigungen (jeweils am Stichtag in unterschiedlichen Jahren) pro Person. Das abhängige Merkmal ist das logarithmierte reale Bruttotagesentgelt zum Basisjahr 2008. Die Löhne in der Beschäftigtenhistorik sind an der Beitragsbemessungsgrenze zensiert; d. h. von Löhnen, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, ist nur bekannt, dass sie größer gleich dieser Grenze sind. Deshalb werden die Löhne über dieser Grenze mithilfe einer Tobit-Regression folgendermaßen imputiert: Zu den vorhergesagten Werten für den Lohn aus der Tobit-Regression wird ein Störterm addiert, der aus einer gestutzten Normalverteilung gezogen wird (Gartner 2004; Gartner und Hinz 2009; Hinz und Gartner 2005; Lehmer und Ludsteck 2011).

Lohnunterschiede zwischen Deutschen und EU-15-Ausländern werden in dieser Studie mithilfe von Blinder-Oaxaca-Zerlegungen analysiert (Blinder 1973; Oaxaca 1973). Dies ist eine Standardmethode zur Untersuchung des Lohnunterschiedes zwischen Frauen und Männern (vgl. Achatz et al. 2005; Busch 2013; Jann 2008; Leuze und Strauß 2009). Unterschiede in der abhängigen Variablen werden dabei in zwei oder drei Komponenten zerlegt, die angeben, wie hoch zum einen der Anteil des Lohnunterschiedes aufgrund von beobachtbaren ungleichen Merkmalsverteilungen zwischen den zwei Gruppen sind und wie hoch zum anderen der restliche Anteil ist, dessen Ursache nicht in ungleichen Merkmalsverteilungen zu finden ist und der deshalb oft als Diskriminierung bezeichnet wird.

Der Lohnunterschied zwischen Deutschen und je einer Gruppe von EU-15-Ausländern wird in den hier durchgeführten Blinder-Oaxaca-Zerlegungen in drei Teile aufgeteilt: den Ausstattungseffekt (endowments effect), den Bewertungseffekt (coefficients effect) und den Interaktionseffekt (interaction effect) (Jann 2008). Der Ausstattungseffekt gibt an, wie sich der mittlere Lohn der jeweiligen EU-15-Ausländer ändern würde, wenn sie die gleichen beobachteten Merkmale wie deutsche Arbeitnehmer aufweisen würden. Er zeigt also, wie groß der Lohnunterschied nur aufgrund der Tatsache ist, dass sich ausländische und deutsche Arbeitnehmer in Bezug auf beobachtete Merkmale wie z. B. hinsichtlich ihrer Qualifikations-, ihrer Alters- und Berufsstruktur usw. unterscheiden. Der Bewertungseffekt zeigt auf, wie sich der mittlere Lohn der EU-15-Ausländer ändern würde, wenn ihre arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften genauso entlohnt würden wie die der deutschen Arbeitnehmer, oder anders ausgedrückt: von den Arbeitgebern preislich vergleichbar bewertet würden. Er wird auch oft als Diskriminierungseffekt bezeichnet. Der Bewertungseffekt misst gleichzeitig das Ausmaß der unerklärten Lohnlücke, die entsteht, wenn für die Lohnbildung wichtige Variablen nicht im Modell enthalten sind. Der Interaktionseffekt berücksichtigt, dass Unterschiede im mittleren Lohn zwischen zwei Gruppen auch bestehen können, weil gleichzeitig unterschiedliche Ausstattungen und Bewertungen auftreten. Bei der Blinder-Oaxaca-Zerlegung werden sowohl unterschiedliche Ziehungswahrscheinlichkeiten für Personen mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit berücksichtigt als auch die Tatsache, dass pro Person meist mehrere Beschäftigungsverhältnisse über mehrere Jahre hinweg in die Berechnung eingehen und die Beschäftigungen deshalb nicht unabhängig voneinander sind.

Um eine präzise Schätzung für das Ausmaß der Diskriminierung von EU-Ausländern zu erhalten, ist ein möglichst reichhaltiges Merkmalsspektrum erforderlich. Folgende unabhängige Variablen gehen in das Modell ein, d. h. der Ausstattungseffekt ergibt sich durch Unterschiede in den folgenden Merkmalen:

  • Soziodemografische Merkmale: Alter, Alter quadriert, Staatsangehörigkeit, Bundesland, Berufliche Qualifikation (ohne berufliche Qualifikation, Berufsausbildung, Fach-/Hochschulabschluss, missing);

  • Merkmale zum Beschäftigungsverlauf auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland: Dauer seit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt in Deutschland (Jahresdummies), kumulierte Dauer von Beschäftigungen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland in den letzten 5 Jahren (Dummies), Betriebszugehörigkeitsdauer (Dummies), kumulierte Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten 5 Jahren (Dummies);

  • Merkmale zur Beschäftigung: Berufsklassifikation nach Blossfeld (1987), Klassifikation der Wirtschaftszweige des statistischen Bundesamtes (WZ 93);

  • Betriebsmerkmale: Mitarbeiterzahl (Einzelunternehmen, Kleinstunternehmen, Kleinunternehmen, mittleres Unternehmen, Großunternehmen, missing), Existenzdauer des Betriebes (Betrieb existiert seit mindestens 5 Jahren), Merkmale zur BeschäftigtenstrukturFootnote 14 (hoher Frauenanteil, hoher Anteil Vollzeitbeschäftigter, hoher Anteil Geringqualifizierter, hoher Anteil von Personen mit mittlerer Qualifikation, hoher Anteil von Hochqualifizierten, hoher Anteil von Personen mit unbekannter Qualifikation, hoher Anteil von Mitarbeitern mit deutscher Staatsangehörigkeit, hoher Anteil von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern als Proxy für starke Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen);

  • Kreismerkmale: Arbeitslosenquote, siedlungsstruktureller Regionstyp nach der Klassifizierung des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung (städtische Region, Region mit Verstädterungsansätzen, ländliche Region);

  • weitere Kontrollmerkmale: Jahresdummies.

Da die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit dem europäischen Integrationsprozess stufenweise ausgeweitet wurde, ergeben sich je nach Herkunftsnation der EU-15-Ausländer unterschiedliche Analysezeiträume für die Blinder-Oaxaca-Zerlegung (Tab. 2). Für die EU-Gründungsnationen (Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande) und für Arbeitnehmer aus der ersten Beitrittskohorte der sogenannten Norderweiterung (Dänemark, Irland, Großbritannien/Nordirland) kann nicht der gesamte Zeitraum seit Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit analysiert werden. Die Analyse startet für diese Länder im Jahr 1980, weil Beschäftigten- und Arbeitslosengeldmeldungen ab 1975 vorliegen und der Beschäftigungs- und Arbeitslosengeldempfangsverlauf der letzten fünf Jahre in den Kontrollvariablen berücksichtigt wird. Bei den übrigen Ländern betrachten wir den gesamten Zeitraum seit Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit bis zum Jahr 2010. Da die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Länder der EU-Osterweiterung in Deutschland erst seit 2011 bzw. 2013 uneingeschränkt gilt, konnten Arbeitnehmer aus diesen Ländern nicht in die Analyse aufgenommen werden.

Tabelle 2 Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf EU-Ausländer in Deutschland bis zum Jahr 2010

Da wir unerklärte Lohndifferenzen als Diskriminierungseffekte interpretieren, könnten die Entstehungsbedingungen der Prozessdaten und die Einschränkung der empirischen Basis auf vollzeitbeschäftigte westdeutsche Männer zu verzerrten Schätzungen der tatsächlichen Diskriminierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt führen: a) Die berufliche Qualifikation wird vom Arbeitgeber an den Sozialversicherungsträger gemeldet, ist jedoch im Gegensatz beispielsweise zum Lohn sozialversicherungsrechtlich nicht relevant. Deshalb wird bei überqualifizierter Beschäftigung oft nur die berufliche Qualifikation gemeldet, die für die Ausübung der Tätigkeit erforderlich ist. Hinzu kommen Probleme sowohl bei der formalen als auch der informellen Anerkennung von ausländischen Ausbildungen und Berufsabschlüssen in Deutschland. Beides wirkt in Richtung einer Unterschätzung von negativer Lohndiskriminierung. Die Schätzung des Ausmaßes von positiver Lohndiskriminierung sollte davon jedoch nicht betroffen sein. b) Die empirische Basis der vorliegenden Analyse umfasst vollzeitbeschäftigte Männer in Westdeutschland (siehe oben). Wir beobachten also nur Personen, die zwei wichtige Hürden der Integration in den Arbeitsmarkt genommen haben, indem sie, erstens, den Sprung von der Arbeitslosigkeit in eine Beschäftigung geschafft haben und, zweitens, den Sprung in eine Vollzeitbeschäftigung (und nicht etwa in eine Teilzeitbeschäftigung oder einen Minijob). Entsprechend beziehen sich unsere Ergebnisse zu den nicht erklärten Lohnunterschieden nur auf Personen, die vergleichsweise gut in den Arbeitsmarkt integriert sind. Darüber hinaus bleiben Diskriminierungen von Frauen unbeobachtet. Insgesamt gehen wir daher davon aus, dass unsere Ergebnisse das Ausmaß der tatsächlichen Diskriminierung eher unter- als überschätzen.

4 Ergebnisse

4.1 Heterogenitätsthese

In diesem Abschnitt wird die Heterogenitätsthese überprüft, nach der wir davon ausgehen, dass auch nach der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit Unterschiede bezüglich der Anzahl der jeweiligen EU-15-Ausländer und ihrer Merkmalsausstattung, der beruflichen Positionierung und ihrer Entlohnungsstruktur im Vergleich zu Deutschen bestehen. Als Indikatoren verwenden wir a) die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten EU-Ausländer in Deutschland, b) deren individuelle Merkmalsausstattung und Arbeitsmarktpositionierung sowie c) deren mittleren Lohnabstand zur deutschen Vergleichsgruppe.

a) Die Arbeitsmigration aus Südeuropa in den 1950er und 1960er Jahren ist nach wie vor strukturformend, denn Italiener und Griechen sind sowohl Mitte der 1990er Jahre als auch im Jahr 2010 die beiden größten EU-15-Ausländergruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt (Tab. 3). Dies betrifft ebenso Portugiesen und Spanier als die fünft- und sechstgrößte Gruppe. Neben der großen Arbeitsmigrantenwelle aus den 1950er und 1960er Jahren ist die Lage und Größe der Herkunftsländer relevant, denn unter den EU-15-Ausländern sind Franzosen und Österreicher die dritt- und viertgrößte Gruppe auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Obwohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem Jahr 1995 für alle EU-15-Ausländer auf dem deutschen Arbeitsmarkt gilt, lässt sich für keine Ausländergruppe eine bedeutende absolute oder relative Vergrößerung im Jahr 2010 ausmachen. Vielmehr ist zu beobachten, dass im Jahr 2010 weniger EU-15-Ausländer in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind als im Jahr 1995. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat demzufolge keine sichtbare Migrationswelle auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgelöst.

Tabelle 3 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland nach Staatsangehörigkeit am Stichtag 30. Juni (Quelle: Datawarehouse der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnungen)

b) Die folgende Darstellung bezieht sich auf die verwendete Stichprobe von in Westdeutschland lebenden sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigten Männern für den Zeitraum von 1995 bis zum Jahr 2010 (vgl. Abschn. 3). Dieser Zeitraum wurde ausgewählt, weil im Jahr 1995 für alle untersuchten EU-Ausländergruppen Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland galt und die Anteilswerte über den gleichen Zeitraum hinweg besser vergleichbar sind. Rein deskriptiv ergibt sich nach Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle hier betrachteten EU-Ausländer eine klare Segmentierung nach Herkunftsland, beruflicher Qualifikation und beruflicher Positionierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt in drei Gruppen:

Klare Verlierer im Sinne einer schlechteren Arbeitsmarktpositionierung und beruflichen Qualifikation im Vergleich zu Deutschen sind die Südeuropäer (Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen) und Franzosen (Tab. 4): Unter ihnen sind die Anteilswerte derjenigen ohne berufliche QualifikationFootnote 15 mit 23 % bis 44 % deutlich höher als unter den Deutschen (11 %). Sie arbeiten deutlich häufiger in einfachen manuellen Berufen (29 % bis 40 %) als Deutsche (17 %) und sind auch in einfachen Dienstleistungsberufen zu höheren Anteilen als Deutsche zu finden. Darüber hinaus arbeiten sie zu teils deutlich geringeren Anteilen als Techniker, Ingenieure, Manager oder in (Semi-)Professionen. Zudem weisen Portugiesen, Griechen und Italiener die längsten kumulierten Arbeitslosengeldempfangszeiten unter den EU-15-Nationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf.Footnote 16

Tab. 4 Berufliche Qualifikation und Arbeitsmarktpositionierung von sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigten Männern in Westdeutschland in der Zeit von 1995 bis 2010, Anteilswerte in % (Quelle: Prozessdaten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Beschäftigtenhistorik (V08.06), Leistungsempfängerhistorik (LeH V6.07), Betriebs-Historik-Panel (7510), eigene Berechnungen)

Klare Gewinner im Sinne einer besseren Arbeitsmarktpositionierung und Qualifikation im Vergleich zu Deutschen sind die nordeuropäischen Länder (Dänemark, Finnland, Schweden) und außerdem Luxemburg (Tab. 4): Unter ihnen sind mit 23 % bis 41 % mehr Akademiker als unter deutschen Arbeitnehmern (12 %). Zudem arbeiten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit in qualifizierten Dienstleistungs- oder qualifizierten kaufmännischen Berufen und deutlich häufiger als Ingenieure oder Manager oder in (Semi-)Professionen als Deutsche. Sie arbeiten mit geringerer Wahrscheinlichkeit in manuellen Berufen. Sie haben im Vergleich mit anderen EU-15-Ausländern kürzere Beschäftigungs- und Arbeitslosengeldbezugsdauern in Deutschland, was ein Hinweis darauf ist, dass es sich bei dieser Gruppe um besonders mobile Europäer handelt.

Sonstige. Arbeitnehmer aus Irland, Großbritannien/Nordirland sowie den Niederlanden, Österreich und Belgien lassen sich nicht so klar positionieren wie die Arbeitnehmer obiger Länder. Unter ihnen finden sich auf der einen Seite höhere oder vergleichbare Anteile von Arbeitnehmern ohne Qualifikation, auf der anderen Seite aber auch etwas höhere Akademikeranteile als unter Deutschen. Zudem arbeiten sie auch mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit als Deutsche als Ingenieure oder Manager. Bei den einfachen Dienstleistungsberufen und einfachen manuellen Berufen unterscheiden sich die Anteilswerte dieser Ländergruppe weniger stark von der Vergleichsgruppe der deutschen Arbeitnehmer als in den oben beschriebenen Gewinner- und Verlierergruppen.

c) Nach Inkrafttreten der Freizügigkeit für Arbeitnehmer verdienen einzig EU-Ausländer aus Großbritannien/Nordirland und den Niederlanden genauso viel wie Deutsche: Der Lohnunterschied ist mit je weniger als 1 % positivem Abstand vernachlässigbar gering (Tab. 5). Für alle anderen untersuchten EU-15-Ausländergruppen ergeben sich teilweise erhebliche Unterschiede in der Entlohnung im Vergleich zu den Deutschen: Portugiesen verdienen nach Inkrafttreten der Freizügigkeit für portugiesische Arbeitnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt 80,51 € Brutto am Tag. Das sind 26 % weniger als Deutsche, die 101,28 € verdienen. Ähnlich hoch sind die Verdienstunterschiede von Griechen (− 24 %) und Italienern (− 21 %). Im Vergleich dazu fallen die negativen Lohnunterschiede für Iren (− 8 %), Franzosen und Spanier (je − 6 %) moderat aus. Es gibt allerdings auch EU-Ausländer, die einen höheren Lohn bekommen als Deutsche: Den größten Lohnabstand haben in dieser Gruppe mit 23 % die Schweden; sie erreichen ein reales Bruttotagesentgelt von 131,74 €. Es folgen die Dänen und Finnen (je 14 %), die Luxemburger (13 %), Österreicher (10 %) und die Belgier mit 4 % Lohnabstand zu den Deutschen.

Tabelle 5 Blinder-Oaxaca-Zerlegung für Lohnunterschiede von Deutschen und EU-15-Ausländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt seit Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit bis zum Jahr 2010 (Quelle: Prozessdaten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Beschäftigtenhistorik (V08.06), Leistungsempfängerhistorik (LeH V6.07), Betriebs-Historik-Panel (7510), eigene Berechnungen)

In der Gesamtschau erhalten sich damit trotz fortgeschrittener europäischer Integration nationalitätsspezifische Differenzen der Arbeitsmarktintegration von EU-Ausländern (Aldashev et al. 2012; Lehmer und Ludsteck 2011; Verwiebe et al. 2003). Markant ist die Häufung ungünstiger Merkmale und niedriger Löhne bei Arbeitnehmern aus den ehemaligen Gastarbeiterländern (Portugal, Spanien, Griechenland, Italien) sowie die Häufung günstiger Merkmale und höherer Löhne bei Personen aus Luxemburg und den nordeuropäischen Ländern (Schweden, Finnland, Dänemark). Die rechtliche Besserstellung der EU-Ausländer hat nicht dazu geführt, dass eingeschliffene Migrations- und Integrationspfade, beispielsweise durch die Zuwanderung zahlreicher hochqualifizierter Griechen, verlassen wurden. Die Ergebnisse weisen insgesamt auf eine nationalitätenspezifische Über- und Unterschichtung des deutschen Arbeitsmarktes durch Ausländer aus der EU hin.

4.2 Nicht-Diskriminierungsthese

Für die Überprüfung der Nicht-Diskriminierungsthese ist entscheidend zu sehen, ob die Lohnunterschiede auf ungleiche arbeitsmarktrelevante Eigenschaften von Deutschen und EU-Ausländern sowie auf ihre Einsortierung in verschiedene Berufe, Betriebe, Wirtschaftszweige und Regionen zurückzuführen sind (Ausstattungseffekt) oder tatsächlich auf die unterschiedliche Bewertung gleicher Eigenschaften durch Arbeitgeber (Bewertungseffekt), d. h. Diskriminierungen. Der Ausstattungseffekt gibt an, wie groß der Lohnunterschied nur aufgrund der unterschiedlichen Gruppenzusammensetzung – bezogen auf die Kontrollvariablen – von Deutschen und den jeweiligen EU-Ausländern ist: Tatsächlich resultiert für alle EU-Ausländer der weitaus überwiegende Teil des Lohnunterschieds aus diesem Ausstattungseffekt. Demnach haben EU-Ausländer, die schlechter verdienen als die Deutschen, auch schlechtere Arbeitsmarkteigenschaften, und EU-Ausländer, die besser verdienen als Deutsche, haben dementsprechend auch bessere Arbeitsmarkteigenschaften als Deutsche. Beispielsweise ergibt sich für Portugiesen ein um 21 % niedrigerer Lohn als für Deutsche aufgrund ungünstigerer Ausprägungen in den beobachteten Merkmalen und für Schweden ein um 18 % höherer Lohn wegen ihrer besseren Arbeitsmarktausstattung im Vergleich zu Deutschen. Die Ausstattungseffekte für Großbritannien/Nordirland sind nicht signifikant, und für die Niederlande sind sie mit 2 % am geringsten. D. h. Ausländer aus Großbritannien/Nordirland und den Niederlanden weisen auch aufgrund ihrer arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften und ihrer Einsortierung in Berufe, Betriebe, Wirtschaftszweige und Regionen keine oder kaum Lohnunterschiede zu deutschen Arbeitnehmern auf.

Der weit überwiegende Anteil des Lohnunterschieds der EU-15-Ausländer lässt sich also auf den Ausstattungseffekt zurückführen. Trotzdem ergeben sich für die meisten Ausländergruppen auch Effekte der positiven wie negativen Diskriminierung. Diese lassen sich auf eine im Vergleich zu deutschen Arbeitnehmern andere (Lohn-)Bewertung der vorhandenen Merkmalsausstattung durch die Arbeitgeber zurückführen. Die Diskriminierungen fallen zugunsten oder zulasten der EU-Ausländer aus (Tab. 5). Erneut lassen sich unterschiedliche Ländergruppen und -subgruppen bilden:

Alle Ausländergruppen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt mehr verdienen als Deutsche – nämlich Schweden, Luxemburger, Finnen, Dänen, Österreicher und Belgier –, haben durchschnittlich nicht nur eine bessere Ausstattung, sondern sie profitieren darüber hinaus auch von einer besseren Bewertung ihrer arbeitsmarktrelevanten Eigenschaften (positive Diskriminierung). So verdienen Arbeitnehmer aus Schweden 18 % mehr als Deutsche, weil ihre Ausstattung von den Arbeitgebern besser bewertet wird. Ebenfalls positive – wenn auch mit je 3 bis 4 % geringe – Diskriminierungseffekte ergeben sich für Arbeitnehmer aus den Niederlanden und Großbritannien/Nordirland. Sie kompensieren mit diesem positiven Bewertungseffekt ihre im Vergleich zu Deutschen geringfügig ungünstigere Ausstattung und weisen insgesamt gar keinen Lohnunterschied zu deutschen Arbeitnehmern auf.

Bei den EU-Ausländern, die weniger als Deutsche verdienen, lassen sich wiederum drei Gruppen unterscheiden: Französische Arbeitnehmer stellen die einzige EU-15-Ausländergruppe, für die sich keine Diskriminierung nachweisen lässt. Die Franzosen verdienen zwar mit − 6 % etwas weniger als Deutsche, aber dieser Unterschied erklärt sich aus ungünstigeren Arbeitsmarkteigenschaften der betreffenden Personen. Dem stehen die Verliererländer am deutschen Arbeitsmarkt – Griechenland, Portugal, Italien und Spanien – gegenüber. Deren Staatsangehörige haben neben einer durchschnittlich schlechteren Ausstattung als Deutsche auch unter einer schlechteren Bewertung ihrer Eigenschaften zu leiden. So verdienen Griechen aufgrund des Bewertungseffekts 7 % weniger als Deutsche mit ansonsten gleichen Merkmalen. Der negative Bewertungseffekt für Arbeitnehmer aus den anderen Ländern fällt deutlich geringer aus: Portugal (− 3 %), Italien (− 2 %) und Spanien (− 1 %). Auch für Iren gilt, dass sie nach Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt einen geringeren Lohn erzielen als deutsche Arbeitnehmer. Allerdings gelingt es ihnen, sich für ansonsten gleiche Eigenschaften um 6 % besser entlohnen zu lassen als Deutsche. Es liegt also bei ihnen eine positive Diskriminierung vor, die jedoch hinsichtlich des gesamten Lohnunterschieds nicht kompensieren kann, dass die Iren mit schlechteren arbeitsmarktrelevanten Merkmalen ausgestattet sind als Deutsche.

Resümierend kann also die Nicht-Diskriminierungsthese, nach der davon ausgegangen wird, dass Unterschiede im Arbeitsmarkterfolg von EU-Ausländern und Deutschen über die Merkmalsausstattung erklärt werden, nicht für alle Herkunftsländer bestätigt werden. Für alle Ausländergruppen – außer den Franzosen – gilt, dass die Merkmale ihrer Staatsangehörigen auf dem deutschen Arbeitsmarkt anders bewertet werden als die von Deutschen. Allerdings zeigen die Ergebnisse der Blinder-Oaxaca-Zerlegung auch, dass positive Diskriminierungen EU-Ausländer aus mehr Herkunftsländern betreffen als negative: Für EU-Ausländer aus neun Ländern lassen sich positive Bewertungs- bzw. Diskriminierungseffekte von mindestens 3 % beobachten. Negative Diskriminierungseffekte von mindestens − 3 % ergeben sich jedoch nur für Griechen und Portugiesen. Positive Diskriminierung ist außerdem stärker ausgeprägt als negative. Die höchsten positiven Bewertungseffekte liegen bei rund 15 % für Schweden, Dänen und Finnen. Der absolut gesehen größte negative Bewertungseffekt liegt bei − 7 % für Griechen, wobei diese in absoluten Zahlen nach den Italienern die zweitgrößte EU-15-Ausländergruppe auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausmachen (siehe Tab. 2). Wie andere Autoren (Aldashev et al. 2012; Lehmer und Ludsteck 2011; Verwiebe et al. 2003) können wir also deutliche Unterschiede im Durchschnittslohn sowie bei der Merkmalsausstattung von EU-Ausländern in Abhängigkeit von ihrer Nationalität beobachten (Heterogenitätsthese). Allerdings erklären die Ausstattungsunterschiede zwar einen großen Teil der Lohnunterschiede, aber eben nicht vollumfänglich.

5 Fazit

In diesem Beitrag haben wir den gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch des supranationalen Politikfeldes der Arbeitnehmerfreizügigkeit überprüft. Es ist erklärtes Ziel der Arbeitnehmerfreizügigkeitspolitik, Diskriminierungen aufgrund der Nationalität auf den Arbeitsmärkten der EU-Mitgliedstaaten zu beseitigen. Im Einvernehmen mit unseren Erwartungen zeigt sich empirisch, dass dieses Politikziel nicht mit der Heterogenität der Ausländergruppen auf dem deutschen Arbeitsmarkt kollidiert. Allerdings wurde auch deutlich, dass Diskriminierungen aufgrund des Herkunftslandes weiterhin bestehen. Bemerkenswert ist vor allem das Muster der Abweichung von der Nicht-Diskriminierungserwartung des Politikfeldes. Zwar werden große Teile der Lohnunterschiede wie erwartet von Ausstattungsmerkmalen erklärt. Dennoch bleibt bei 11 von 14 untersuchten EU-Ausländergruppen eine ungleiche Bezahlung von mindestens 3 % zurück. Vollzeitbeschäftigte deutsche Männer aus Westdeutschland haben in unserer Stichprobe einen durchschnittlichen monatlichen Bruttoverdienst von rund 3000 € im Monat. Diese 11 EU-Ausländergruppen verdienen gemessen daran also mindestens 90 € mehr bzw. weniger als Deutsche, obwohl sie gleiche soziodemografische Merkmale aufweisen, einen vergleichbaren Bildungsabschluss und eine vergleichbare Arbeitserfahrung auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, in einem vergleichbaren Betrieb und in derselben Branche im selben Beruf arbeiten. Die größte negative Diskriminierung träfe einen Griechen mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 2802 €, während die größte positive Diskriminierung bei einem Schweden mit 3537 € zu beobachten ist.

Richtung und Stärke der Diskriminierungseffekte sind im Zusammenhang mit der relativen Positionierung der Arbeitsmarktfelder des Herkunfts- und des Ziellandes zu sehen. EU-Ausländer aus wirtschaftlich starken Herkunftsländern werden positiv diskriminiert. EU-Ausländer aus wirtschaftlich schwächeren Herkunftsländern werden dagegen negativ diskriminiert. Dahinter stehen Kalküle von Akteuren der Angebots- und der Nachfrageseite im deutschen Feld. Um Arbeitskräfte aus anderen Ländern anzuziehen und zu halten, besteht für einheimische Arbeitsnachfrager eine Veranlassung, identische Ausstattungsmerkmale bei Ausländern mit vergleichsweise guten Wirtschafts- und Arbeitsmarktbedingungen im Herkunftsland teurer zu bezahlen als die von Deutschen bzw. mutatis mutandis Ausländer mit vergleichsweise schlechteren Wirtschafts- und Arbeitsmarktbedingungen im Herkunftsland entsprechend geringer zu entlohnen. Auf der Nachfrageseite des Marktes kann es für negativ diskriminierte Anbieter von Arbeitskraft rational sein, eine schlechtere Bewertung zu akzeptieren, sofern sie sich damit besser stellen als in ihrem Herkunftsland. Positiv diskriminierte Arbeitskraftanbieter aus wirtschaftlich starken Ländern können es sich dagegen eher leisten, Aufschläge auf nationale Standardlöhne zu fordern und durchzusetzen. Die Arbeitsmarktsituation in ihrem Herkunftsland gibt ihnen eine glaubhafte Alternative zum deutschen Arbeitsmarkt. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt verblieben dann nur die Arbeitnehmer, deren Entlohnung einem Vergleich mit dem Lohnniveau im Herkunftsland standhält. Unsere Daten deuten darauf hin, dass sie diese Exit-Option auch nutzen: Die Ausländergruppen mit der höchsten positiven Diskriminierung (Schweden, Dänen und Finnen) weisen deutlich kürzere Beschäftigungs-, Betriebszugehörigkeits- und Arbeitslosigkeitsbezugsdauern auf als alle anderen Gruppen.

Es liegt ein – aus Sicht des europäischen Politikfeldes – verkehrter Effekt vor. Kontrollkonzept und Binnenmarktparadigma gehen davon aus, dass die Beseitigung von rechtlichen Diskriminierungen die Faktormobilität erhöht. Tatsächlich verbessern die supranationalen Binnenmarktpolitiken (mit der Arbeitnehmerfreizügigkeitspolitik in ihrer Mitte) vor allem die europaweite Sichtbarkeit nationaler Arbeitsmärkte und steigern deren Relevanz für individuelle Bewertungen und Mobilitätsentscheidungen. Mit den nationalstaatsübergreifenden Vergleichen vervielfältigen sich auch die Kontexte, in denen sich EU-Ausländer positionieren. Anders formuliert: Griechen und Schweden auf dem deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigen bei der Bewertung ihrer Positionen die Bedingungen in ihrem Herkunftsland und ziehen entsprechende Konsequenzen. Die deutschen Arbeitgeber tun das Gleiche. Das Besondere an der europäischen Konstellation ist nun, dass die Binnenmarktpolitiken die Mobilitätshürden der EU-Binnengrenzen abgeschafft haben und dadurch die Bedingungen in anderen Arbeitsmarktfeldern leichter beobachtet werden können. Solange die Vergleiche primär bilateral zwischen Herkunfts- und Zielland hergestellt werden, stärken oder schwächen sie (je nach Herkunftsland) die Position ausländischer EU-Arbeitnehmer in Deutschland. Daraus entsteht ein paradoxer Effekt: Eine Politik, der die Beseitigung von Diskriminierungen Mittel und Zweck ist, trägt dazu bei, dass nach nationalstaatlicher Herkunft diskriminierende Faktorbewertungen akzeptabel werden.

Obwohl sich das Diskriminierungsverbot des supranationalen Feldes im deutschen Kontext keine Geltung verschaffen konnte, ist die europäische Politik dennoch nicht ohne Folgen geblieben. EU-Bürger können sich Vergleichskontexte leichter vergegenwärtigen. Durch grenzüberschreitende Vergleiche werden nationale Felder zueinander in Beziehung gesetzt und nach der Arbeitsmarktsituation hierarchisiert. Allerdings handelt es sich um eine hybride Konstellation, denn einerseits haben grenzübergreifende Vergleiche an Bedeutung gewonnen, andererseits sieht es so aus, als ob diese Vergleiche auf das Herkunftsland konzentriert sind. Das würde bedeuten, dass nicht systematisch europaweit Bezugskontexte für die Bewertung der Positionierung konstruiert werden. Inwieweit dieses hybride Vergleichsmuster in Zukunft stabil bleiben wird, muss sich zeigen. Bisher ist die europäische Integration ihrem Anspruch und Wesen nach ein fortschreitender Prozess. Im Fall der Arbeitnehmerfreizügigkeit entspricht eine fortschreitende Integration der Ausweitung der Vergleichskontexte auf den gesamten europäischen Mobilitätsraum und der Entstehung einer einheitlichen Bewertungshierarchie nationaler Arbeitsmarktfelder als Ordnungsprinzip eben dieses transnationalen Mobilitätsraumes. Das könnte herkunftsspezifische Auf- und Abschläge bei der Entlohnung, wie wir sie für den deutschen Fall beobachtet haben, mittelfristig untergraben. In theoretischer Hinsicht bedeutete dies den Übergang von einem europäischen Mobilitätsraum zu einem europäischen Mobilitätsfeld. Eine solche Vertiefung der Integration zwischen den nationalen Arbeitsmarktfeldern ist allerdings keineswegs ein zwangsläufiger Prozess, auch wenn man sie in der europäischen Politik als Zeichen eines funktionierenden gesamteuropäischen Arbeitsmarktes sicher begrüßen würde.