Zusammenfassung
Vergleichsweise wenige Studien haben sich bisher mit der Untersuchung alternativer Bildungswege befasst. Das Ziel der Einführung alternativer Bildungswege war es, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Ob dieses Ziel auch erreicht wurde, ist jedoch eher unklar. Schindler wies kürzlich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie darauf hin, dass diese Unklarheit auch damit zu erklären ist, dass die wenigen vorliegenden Forschungsarbeiten ein sehr unterschiedliches Verständnis davon haben, wie soziale Herkunftseffekte analysiert werden. In unserem Beitrag greifen wir dieses Argument auf und erweitern es kritisch. Unsere empirischen Analysen zeigen, dass eine angemessene Beurteilung alternativer Bildungswege erst durch eine systematische und möglichst ganzheitliche Rekonstruktion sozialer Herkunftseffekte möglich ist. Darüber hinaus schlagen wir vor, für die Beantwortung der Frage, ob und wie alternative Bildungswege Ungleichheitsstrukturen im Bildungserwerb beeinflussen, Average Marginal Effects und nicht das üblicherweise von der Bildungsforschung verwendete Ungleichheitsmaß Odds Ratios zu nutzen.
Abstract
Only a few studies have addressed the role of alternative paths in German secondary education. These paths were introduced to reduce social inequalities. However, there is much controversy regarding whether alternative paths actually do reduce inequalities. Schindler most recently discussed in the Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie that this controversy is due in part to different understandings of how empirical studies assess the effect of social origin. This article adopts and critically extends this point by arguing that, from a social inequality point of view, alternative paths can only be understood adequately if research reconstructs the effect of social origin systematically and as holistically as possible. Additionally, we raise the question whether the measure that is traditionally used by educational research to assess social inequalities (Odds Ratios) is really the most adequate one to understand how alternative paths impact on inequalities in educational attainment. Instead we suggest the estimation of Average Marginal Effects.
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1 Einleitung
Forschungsarbeiten zu Ungleichheiten in der deutschen Sekundarbildung haben sich bisher sehr einseitig auf die Untersuchung traditioneller Bildungswege, insbesondere den frühen Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulformen konzentriert (siehe z. B. Büchner und Koch 2002; Paulus und Blossfeld 2007; Gresch et al. 2010; Maaz und Nagy 2010; Neugebauer 2010; Dollmann 2011). Unbestritten ist die erste Allokation zur schulischen Sekundarbildung ein wichtiger Meilenstein im individuellen Bildungsverlauf. Die starke Konzentration der Forschung auf diesen frühen Bildungsübergang verkennt jedoch, dass individuelle Bildungskarrieren nicht immer geradlinig verlaufen und das final von Individuen erreichte Bildungsniveau nicht zwangsläufig mit dem Übergang von der Grund- auf die weiterführende Schule festgelegt sind. Die ursprüngliche Zuordnung zum Sekundarschulsystem kann über alternative Bildungswege korrigiert werden. Zum einen können Schülerinnen und Schüler zwischen Schulformen wechseln (z. B. von der Realschule auf ein Gymnasium), zum anderen können Schulabschlüsse nachgeholt werden (z. B. durch den Erwerb des Abiturs, nachdem zunächst ein Haupt- oder Realschulabschluss erworben wurde).
Mit den bildungspolitischen Reformen der 1960er und 1970er Jahre wurden alternative Bildungswege in Deutschland deutlich gestärkt. Ein zentrales Ziel der Reformen war es, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Vor allem traditionell im Bildungssystem benachteiligte Gruppen sollten eine zweite Chance auf höhere Bildung erhalten. Aus wissenschaftlicher Sicht ist bislang jedoch eher unklar, ob die Einrichtung alternativer Bildungswege tatsächlich zu einem Abbau sozialer Ungleichheiten geführt hat (Wagner et al. 2011; Schindler 2015).
Ziel unseres Beitrages ist es, die Bedeutung sozialer Herkunftseffekte in alternativen Wegen zur Hochschulreife systematisch zu rekonstruieren. Dazu werden wir auf längsschnittliche Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zurückgreifen. Konkret untersuchen wir folgende Fragen: (1) Wie beeinflusst die soziale Herkunft die Wahrscheinlichkeit, dass Haupt- und Realschulabsolventen die Hochschulreife über einen alternativen Weg nachholen? (2) Wie bedeutsam sind alternative Wege zur Hochschulreife in verschiedenen sozialen Herkunftsgruppen? (3) Wie verändern alternative Wege zur Hochschulreife das Ausmaß sozialer Ungleichheiten in der Bildungsverteilung? Wieso es für ein adäquates Verständnis alternativer Bildungswege zentral ist, den Einfluss der sozialen Herkunft aus allen drei analytischen Perspektiven in den Blick zu nehmen, werden wir im Folgenden diskutieren und theoretisch begründen.
Unser Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Zunächst legen wir die Motivation und den Forschungsbeitrag unserer empirischen Arbeit dar (Abschn. 2). Anschließend diskutieren wir den theoretischen und institutionellen Hintergrund unserer Studie (Abschn. 3). Nachdem wir das Forschungsdesign, die Daten und Methoden beschrieben haben (Abschn. 4), stellen wir die Ergebnisse unserer Analysen vor (Abschn. 5). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und kritischen Diskussion der Ergebnisse (Abschn. 6).
2 Motivation und kritische Reflektion des Forschungsstandes
Die Untersuchung alternativer Bildungswege wurde von der bisherigen Bildungs- und Ungleichheitsforschung eher vernachlässigt. Nur wenige Studien (z. B. Henz 1997a, 1997b, 1997c; Hillmert und Jacob 2005a, 2005b, 2010; Jacob und Tieben 2010; Buchholz und Schier 2015; Schindler 2015) haben sich diesem Thema gewidmet. Die Ergebnisse und die aus den Analysen gezogenen Schlussfolgerungen sind sehr unterschiedlich: Während manche Studien nahelegen, dass alternative Bildungswege existierende Ungleichheiten weiter verstärken, weisen andere Arbeiten darauf hin, dass alternative Bildungswege soziale Ungleichheiten reduzieren oder aber keinerlei Auswirkungen auf diese haben.Footnote 1
In einem kürzlich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie veröffentlichten Beitrag diskutierte Schindler (2015), dass dieses widersprüchliche Bild zumindest teilweise damit zu erklären ist, dass empirische Arbeiten ein sehr unterschiedliches Verständnis davon haben, aus welcher Perspektive soziale Ungleichheiten in den Blick genommen werden. Manche Studien untersuchen soziale Herkunftseffekte im Übergangsverhalten. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht die Frage, wer sich für die Aufnahme eines alternativen Bildungsweges entscheidet. Schindler (2015) bezeichnet dies als konditionalen Effekt der sozialen Herkunft, weil in die Analysen nur Personen einfließen, die für den untersuchten Übergang noch „at risk“ sind (nämlich Personen, die den untersuchten Bildungsabschluss, in unserem Fall die Hochschulreife, zuvor nicht erreicht haben). Andere Studien nehmen dagegen Bildungsverteilungen in den Blick und interessieren sich für „die kollektiven Konsequenzen“ (Hillmert und Jacob 2005a, S. 420) sozial unterschiedlichen Übergangsverhaltens. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht die Frage, wie alternative Bildungswege das Ausmaß sozialer Ungleichheiten in der Gesamtpopulation verändern. Dazu werden soziale Ungleichheiten im ursprünglichen und final von Individuen erreichten Bildungsniveau miteinander verglichen. Da in diesem Fall nicht nur auf eine Teilpopulation von Individuen, sondern auf die Gesamtpopulation Bezug genommen wird, nennt Schindler (2015) dies den unkonditionalenFootnote 2 Effekt sozialer Herkunft.
Das Argument, dass zwischen Ungleichheiten in Bildungsübergängen und Ungleichheitsverhältnissen in Bildungsverteilungen zu unterscheiden ist und ungleiches Übergangsverhalten nicht zwangsläufig zu zunehmenden Ungleichheiten in der Bildungsverteilung führt, stammt nicht originär von Schindler (2015). Dieser Punkt wurde für den deutschsprachigen Raum beispielsweise bereits zehn Jahre zuvor ausführlich von Hillmert und Jacob (2005a) diskutiert. Schindler hat mit seiner Publikation von 2015 jedoch eine wertvolle Systematisierung der bisherigen Befundlage vorgelegt und diese durch zusätzliche (Re‑)Analysen ergänzt.
Mit unserem Beitrag wollen wir die neu angeregte Diskussion über die adäquate Untersuchung alternativer Bildungswege kritisch aufgreifen und wie folgt erweitern:
Unseres Erachtens greift die Unterscheidung zwischen den voran diskutierten konditionalen und unkonditionalen Herkunftseffekten zu kurz, um alternative Bildungswege zu beurteilen. Eine sehr zentrale Frage wurde unseres Wissens von der bisherigen Forschung völlig vernachlässigt, nämlich die Frage, wie bedeutsam alternative Bildungswege für verschiedene Herkunftsgruppen sind, um einen bestimmten Bildungsabschluss zu erlangen. Um alternative Bildungswege aus einer sozialen Ungleichheitsperspektive angemessen zu verstehen, reicht es nicht aus zu untersuchen, wie stark sich soziale Herkunftsgruppen im Übergangsverhalten unterscheiden und wie sich alternative Bildungswege auf Ungleichheiten in der Bildungsverteilung auswirken. Es ist ebenso entscheidend zu verstehen, wie stark verschiedene Herkunftsgruppen auf alternative Bildungswege angewiesen sind, um ein bestimmtes Bildungsniveau zu erreichen. Auch bei diesem Effekt handelt es sich, um die Formulierung von Schindler (2015) aufzugreifen, um einen konditionalen Herkunftseffekt. Anders als der von Schindler (2015) diskutierte konditionale Effekt bezieht sich dieser konditionale Effekt jedoch nur auf Personen, die ein bestimmtes Bildungsniveau, in unserem Fall die Hochschulreife, erreicht haben. Wir werden in unserem Beitrag zeigen und theoretisch begründen, dass erst eine differenzierte Analyse beider konditionalen Effekte und des unkonditionalen Effektes eine adäquate Beurteilung alternativer Bildungswege zulässt.
Unser zweiter Punkt setzt an der Frage an, wie soziale Ungleichheiten bemessen werden. Es gibt sehr unterschiedliche Wege, soziale Ungleichheiten zu quantifizieren. Kein Maß ist dabei per se richtig oder falsch und jedes Maß hat spezifische Vor- und Nachteile. Die Bildungsforschung nutzt traditionellerweise Odds Ratios und somit ein relatives Distanzmaß. Für uns stellt sich jedoch die Frage, ob Odds Ratios insbesondere für die Bestimmung des Effektes alternativer Bildungswege auf das Ausmaß sozialer Ungleichheiten in der Bildungsverteilung sinnvoll sind. Wir werden in unserem Beitrag einen anderen Weg einschlagen und statt Odds Ratios durchschnittliche Marginaleffekte (Average Marginal Effects) berechnen. Anders als bei Odds Ratios handelt es sich bei durchschnittlichen Marginaleffekten nicht um ein relatives, sondern um ein absolutes Distanzmaß, da Prozentpunktdifferenzen in durchschnittlichen Wahrscheinlichkeiten bestimmt werden. So ist es möglich, direkt zu quantifizieren, ob bestimmte Gruppen, im Gesamtbild gesehen, stärker von alternativen Bildungswegen profitieren als andere. Unser Punkt ist am besten an einem einfachen Rechenbeispiel erklärt: Nehmen wir an, wir haben eine Population von jeweils 100 Kindern privilegierter und benachteiligter sozialer Herkunft. 14 % der Kinder aus benachteiligten Elternhäusern und 35 % der Kinder aus privilegierten Elternhäusern erreichen die Hochschulreife bereits im ersten Anlauf über den traditionellen Bildungsweg. Nachdem über alternative Wege nachgeholte Schulabschlüsse hinzugenommen werden, erhöht sich dieser Anteil auf 26 bzw. 53 %. Bemessen in Odds Ratios reduziert sich die soziale Ungleichheit von ungefähr 3,31 auf 3,21 – unseres Erachtens eine zu optimistische Bewertung. Denn betrachtet man die absolute Distanz zwischen den beiden Gruppen, so erhöht sich die Ungleichheit von 21 auf 27 Prozentpunkte. Kinder aus privilegierten Elternhäusern bauen also ihren Vorsprung gegenüber Kindern aus benachteiligten Elternhäusern um ein gutes weiteres Drittel aus. Deshalb erscheint es uns für die Beurteilung von Veränderungen in Bestandsgrößen, wie der Bildungsverteilung, konzeptionell überzeugender, ein absolutes Distanzmaß wie Average Marginal Effects zu verwenden.Footnote 3
Während sich die beiden voran genannten Punkte von der existierenden Forschung zu alternativen Bildungswegen im Allgemeinen abgrenzen, ist unser letzter und dritter Punkt eine Abgrenzung zur Forschung zu alternativen Wegen zur Hochschulreife im Speziellen. Unser dritter Beitrag ist, dass wir in unseren Analysen zwischen Fachabitur und Abitur unterscheiden werden. Vorliegende Studien haben sich entweder nur auf das Abitur konzentriert oder nur unzureichend zwischen Abitur und Fachabitur unterschieden. Dies ist insofern überraschend, da Fachabitur und Abitur in der Regel den Zugang zu sehr unterschiedlichen Hochschulbereichen vermitteln und somit die individuelle Studiengangwahl nachhaltig beeinflussen. Aber auch aus empirischer Sicht ist die Unterscheidung zwischen Fachabitur und Abitur wichtig. Unsere Analysen werden zeigen, dass die Art der Hochschulreife maßgeblich davon abhängt, ob Personen die Hochschulreife über den traditionellen oder einen alternativen Bildungsweg erworben haben. Auch finden wir in unseren Analysen unterschiedliche Ungleichheitsdynamiken für Abitur und Fachabitur. Deshalb ist es unseres Erachtens wichtig, bei der Untersuchung alternativer Wege zur Hochschulreife konsequent zwischen Fachabitur und Abitur zu unterscheiden.
3 Institutioneller und theoretischer Hintergrund: Unterschiedliche Perspektiven auf soziale Ungleichheiten und alternative Bildungswege
Das schulische Bildungssystem Deutschlands wird im internationalen Vergleich als hoch stratifiziert charakterisiert (Allmendinger 1989). Kennzeichnend ist für dieses System, dass Schülerinnen und Schüler relativ früh auf verschiedene Schullaufbahnen verteilt werden. In Deutschland wird typischerweise zwischen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien oder entsprechenden ZweigenFootnote 4 , Footnote 5 unterschieden und die Aufteilung auf unterschiedliche Schullaufbahnen findet bereits nach vier bis sechs gemeinsamen Grundschuljahren statt. Sowohl im wissenschaftlichen als auch im politischen und öffentlichen Diskurs wird häufig angeführt, dass die frühe Aufteilung von Kindern maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass Bildungsungleichheiten in Deutschland nach wie vor vergleichsweise stark ausgeprägt sind.
Der erfolgreiche Abschluss des Gymnasiums oder eines Gymnasialzweiges erlaubt Schülerinnen und Schülern die direkte Aufnahme eines Studiums.Footnote 6 Es muss jedoch zwischen Abitur und Fachabitur unterschieden werden.Footnote 7 Obschon auch das Fachabitur heute die Aufnahme eines Studiums an einer Universität erlaubt, so vermittelt es in der Regel doch den Übergang in ein Studium an einer Fachhochschule. Fachhochschulen zeichnen sich durch einen starken Fokus auf die Vermittlung berufspraktischer Kenntnisse in bestimmten, insbesondere technischen und sozialen Berufen aus. Tertiäre Bildung an Universitäten ist dagegen deutlich stärker akademisiert. Es überrascht deshalb nicht, dass Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern eine höhere Affinität für ein Studium an einer Fachhochschule aufweisen (vgl. z. B. Bargel 2007); dies ist ein weiterer Grund dafür, dass wir in unseren Analysen zwischen Fachabitur und Abitur unterscheiden werden.
Der traditionelle Weg zur Hochschulreife führt in Deutschland typischerweise über den Besuch eines Gymnasiums oder Gymnasialzweiges unmittelbar nach der Grundschule. Aber auch für Personen, die ursprünglich eine Haupt- oder Realschule oder entsprechende Zweige besucht haben, ist der Erwerb der Hochschulreife nicht ausgeschlossen. Es existieren im deutschen Bildungssystem alternative Wege zur Hochschulreife. Solche Wege wurden vor allem mit den bildungspolitischen Reformen der 1960er und 1970er Jahre ausgebaut. Zum einen wurde der Wechsel zwischen den verschiedenen Sekundarschulformen erleichtert, zum anderen wurde die Infrastruktur für das Nachholen von Schulabschlüssen deutlich gestärkt. Jüngere Forschungsarbeiten zeigen, dass insbesondere das Nachholen von Schulabschlüssen vergleichsweise verbreitet ist (siehe z. B. Buchholz und Schier 2015), während Schulformwechsel nach wie vor eher selten sind (Buchholz et al. 2016).
Das Ziel der Einführung und Etablierung alternativer Bildungswege war es, das hoch stratifizierte deutsche Bildungssystem zu öffnen und Bildungsungleichheiten abzubauen. Vor allem Gruppen, die bei der frühen Aufteilung auf verschiedene Sekundarschulformen benachteiligt sind, sollten eine zweite Chance auf höhere Bildung erhalten. Seither wird kontrovers diskutiert (Wagner et al. 2011), ob die Reformen diesbezüglich wirklich erfolgreich waren. Unseres Erachtens hat dies auch damit zu tun, dass die Debatte über alternative Bildungswege aus zwei sehr unterschiedlichen theoretischen Perspektiven geführt wird. Diese beiden theoretischen Perspektiven müssen jedoch strikt voneinander getrennt werden, da aus ihnen sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden können.
Bei der ersten Perspektive geht es um die theoretische Erklärung von zeitpunktspezifischen Inter-Gruppen-Unterschieden im individuellen Bildungsverhalten. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Personengruppen sich häufiger für das Nachholen eines höheren Schulabschlusses entscheiden. Aus dieser Inter-Gruppen-Perspektive ist zu erwarten, dass alternative Bildungswege vor allem bereits privilegierten Herkunftsgruppen zugutekommen. Individuelle Bildungsentscheidungen werden bekanntermaßen von der sozialen Herkunft geprägt und sind das Ergebnis der (herkunfts-)spezifischen Einschätzung und Bewertung von Bildungsinvestitionen (Erikson und Jonsson 1996; Breen und Goldthorpe 1997; Esser 1999). Deshalb kann erwartet werden, dass sich vor allem Kinder aus privilegierten Elternhäusern dafür entscheiden, die Hochschulreife (insbesondere das Abitur) nachzuholen, wenn es ihnen ursprünglich „nur“ gelungen ist, einen Haupt- oder Realschulabschluss zu erwerben. Sozial privilegierte Herkunftsgruppen haben eine bessere Kenntnis über das Bildungssystem (Bourdieu 1982; Lörz 2012). Es kann auch davon ausgegangen werden, dass sie die Kosten, Risiken und Erfolgsaussichten des Nachholens der Hochschulreife günstiger einschätzen als Kinder benachteiligter Herkunft (Becker und Hecken 2008; Maaz et al. 2013). Für Kinder aus Akademikerhaushalten kommt das Motiv des Statuserhalts hinzu (Breen und Goldthorpe 1997; Becker und Hecken 2008; Maaz et al. 2013). Argumentiert man allein aus diesem Blickwinkel, könnte man also schlussfolgern, dass alternative Bildungswege soziale Ungleichheiten weiter verstärken, da sich insbesondere bereits privilegierte Herkunftsgruppen für das Nachholen der Hochschulreife entscheiden.
Wechselt man jedoch die Perspektive und stellt die Frage, wie stark verschiedene Herkunftsgruppen auf alternative Bildungswege angewiesen sind, um die Hochschulreife zu erlangen, dann sollte sich zeigen, dass vor allem traditionell benachteiligte Gruppen von alternativen Bildungswegen profitieren. Anders als zuvor wird hier stärker aus einer Intra-Gruppen-Perspektive argumentiert. Die Annahme, die dieser Perspektive zugrunde liegt, ist, dass Individuen im Laufe ihres Lebens unabhängiger von ihrer Herkunftsfamilie werden (Müller und Karle 1993; Hillmert und Jacob 2005a). Daraus folgt: Je später Bildungsentscheidungen im individuellen Lebenslauf anstehen, desto unabhängiger sind sie von den Wahrnehmungen und Erfahrungen der Eltern. Deshalb kann erwartet werden, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien, anders als Kinder sozial privilegierter Herkunft, die Hochschulreife sehr häufig erst „im zweiten Anlauf“ über einen alternativen Bildungsweg erreichen. Zu einem späteren Zeitpunkt der Bildungskarriere haben Kinder aus benachteiligten Familien (mehr) eigenes Wissen über das Bildungssystem. Außerdem kann angenommen werden, dass benachteiligte Herkunftsgruppen die Kosten, Risiken und Erfolgsaussichten für das Erreichen der Hochschulreife zu einem späteren Zeitpunkt der Bildungskarriere optimistischer einschätzen als beim frühen Übergang von der Grund- auf die weiterführende Schule (Erikson und Jonsson 1996; Breen und Goldthorpe 1997; Esser 1999) – auch deshalb, weil sie bereits einen Schulabschluss vorweisen und im Falle eines Scheiterns auf ihr ursprüngliches Bildungsniveau zurückfallen können. Argumentiert man allein aus diesem Blickwinkel, haben alternative Bildungswege also das Potenzial, soziale Ungleichheiten zu reduzieren.
Zusammenfassend ist also zunächst einmal unklar, wie alternative Wege zur Hochschulreife soziale Ungleichheiten in ihrer Gesamtheit beeinflussen: Auf der einen Seite soll die Wahrscheinlichkeit, die Hochschulreife nach Erwerb eines Haupt- oder Realschulabschlusses nachzuholen, für Kinder privilegierter Herkunft deutlich höher sein als für Kinder aus benachteiligten Elternhäusern. Auf der anderen Seite sollen alternative Bildungswege aber für Kinder aus benachteiligten Familien deutlich wichtiger sein, um die Hochschulreife zu erlangen, als für Kinder aus privilegierten Familien. Erst eine differenzierte und vollständige Rekonstruktion sozialer Herkunftseffekte ermöglicht deshalb eine fundierte Einschätzung und Bewertung alternativer Bildungswege.
4 Forschungsdesign, Daten und Methoden
Für unsere empirischen Analysen greifen wir auf die Längsschnittdaten der Erwachsenenkohorte (Release 5.1.0) des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zurück (Blossfeld et al. 2011). In der NEPS-Erwachsenenkohorte werden knapp 17.000 Personen, die zwischen 1944 und 1986 geboren wurden, regelmäßig befragt. Alle wichtigen Lebensereignisse vor Panelbeginn wurden bei der Erstbefragung in einem Retrospektivdesign erfasst. Obschon die NEPS-Erwachsenenkohorte neben in Westdeutschland Geborenen auch in Ostdeutschland und im Ausland geborene Personen abdeckt, nutzen wir für unsere Analysen lediglich das westdeutsche Sample. So ist sichergestellt, dass die Personen unseres Samples vergleichbaren Rahmenbedingungen ausgesetzt waren. Basierend auf dieser Definition umfasst unser Sample 11.240 Personen.Footnote 8
Für unsere Analysen haben wir die detaillierten und monatsgenauen längsschnittlichen Informationen zur Bildungs- und Schulgeschichte der befragten Personen aufbereitet. So konnten wir identifizieren, wann Personen ihren ersten Schulabschluss erworben haben. Für 3204 der 11.240 Personen unseres Samples ist bereits der erste Schulabschluss eine Hochschulreife. Diese Personen wurden von uns als Personen klassifiziert, die ihre Hochschulreife über den traditionellen Bildungsweg erworben haben. Für die verbleibenden 8036 Personen, die ursprünglich „nur“ einen Haupt- oder Realschulabschluss erworben haben, haben wir alle nachfolgenden Bildungsübergänge und -ereignisse rekonstruiert. So konnten wir 1467 Personen identifizieren, die eine Hochschulreife nachgeholt haben.Footnote 9 , Footnote 10 Diese Personen haben wir gekennzeichnet als Personen, die ihre Hochschulreife über einen alternativen Weg erlangt haben.
Die soziale Herkunft operationalisieren wir über den höchsten Bildungsabschluss der ElternFootnote 11 und unterscheiden zwischen den folgenden drei Kategorien: (a) maximal Hauptschulabschluss, (b) mittlere Reife, (c) (Fach‑)Abitur oder tertiärer Abschluss. Um mögliche Veränderungen im Zeitverlauf zu untersuchen, haben wir unser Sample in vier Geburtskohorten unterteilt: (a) 1944–1953, (b) 1954–1963, (c) 1964–1973, (d) 1974–1986.Footnote 12 In unseren Modellen kontrollieren wir zusätzlich für Geschlecht und, wo nötig, den ursprünglich erworbenen Schulabschluss.Footnote 13
Neben ausgewählten deskriptiven Befunden zeigen wir die Ergebnisse logistischer Regressionen für (a) die Wahrscheinlichkeit, die Hochschulreife nachzuholen (auf Grundlage der 8036 Personen unseres Samples, die ursprünglich „nur“ einen Haupt- oder Realschulabschluss erworben haben), (b) die Wahrscheinlichkeit, die Hochschulreife über einen alternativen statt den traditionellen Weg erworben zu haben (auf Basis der 4671 Personen unseres Samples, die eine Hochschulreife erlangt haben) und (c) die Wahrscheinlichkeit, eine Hochschulreife erworben zu haben, bevor und nachdem alternativ erworbene Schulabschlüsse einbezogen werden (auf Grundlage unseres Gesamtsamples von 11.240 Personen). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Merkmale unseres Gesamtsamples und der verschiedenen Teilsample.
Im ersten Schritt unserer multivariaten Analysen zeigen wir zunächst immer die Ergebnisse binärer logistischer Regressionen, in denen noch nicht zwischen Fachabitur und Abitur unterschieden wird. Im zweiten Schritt unterscheiden wir zwischen Fachabitur und Abitur, wo nötig oder möglich durch Nutzung multinomialer statt binärer logistischer Regressionen. In allen Fällen berichten wir durchschnittliche Marginaleffekte (Average Marginal Effects) sowie durchschnittlich vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten (Predictive Margins Footnote 14). Um durchschnittliche Marginaleffekte miteinander zu vergleichen, nutzen wir Chi2-Tests (Auspurg und Hinz 2011).
5 Ergebnisse
5.1 Wie verbreitet sind alternative Wege zur Hochschulreife?
Bevor wir in die einzelnen Schritte unserer multivariaten Analyse gehen, möchten wir mit Tab. 2 zunächst einen deskriptiven Überblick über die Verbreitung alternativer Wege zur Hochschulreife geben. Fast jede dritte in unserem Datensatz identifizierte Hochschulreife wurde nachgeholt und somit erst über einen alternativen Bildungsweg erworben. Dies macht deutlich, wie wichtig es ist, dass sich die Bildungsforschung nicht allein auf die Untersuchung früher Bildungsübergänge beschränkt. Ein bedeutender Anteil der Hochschulreifen wird in Deutschland nicht über den traditionellen Bildungsweg erworben, sondern erst im Anschluss an einen Haupt- oder Realschulabschluss. Das deutsche Bildungssystem ist damit deutlich offener als landläufig unterstellt. Durch die Vernachlässigung alternativer Bildungswege und späterer Bildungsübergänge kann deshalb letztlich nur ein lückenhaftes Bild von Bildungsungleichheit gezeichnet werden.
Beim Fachabitur ist es sogar die Regel, dass es erst im zweiten Anlauf und im Anschluss an einen Haupt- oder Realschulabschluss erreicht wird. Der Anteil der über einen alternativen Weg erworbenen Schulabschlüsse beträgt beim Fachabitur fast 80 %. Beim Abitur beläuft sich der Anteil der über einen alternativen Weg erworbenen Abschlüsse auf gerade einmal 21 %. Wenn Personen in Deutschland das Abitur erreichen, dann erwerben sie es also üblicherweise über den traditionellen Bildungsweg.
Trotz allem ist das Abitur insgesamt gesehen die gängige Art der Hochschulreife: Knapp 82 % der in unserem Datensatz berichteten Hochschulreifen entfallen auf das Abitur und nur 18 % auf das Fachabitur. Diesbezüglich zeigen sich jedoch klare Unterschiede zwischen Personen, die die Hochschulreife über einen alternativen Weg nachgeholt haben, und Personen, die die Hochschulreife über den traditionellen Bildungsweg erworben haben. Während unter Personen, denen bereits im ersten Anlauf der Erwerb der Hochschulreife gelingt, das Abitur mit fast 95 % ganz klar dominiert und das Fachabitur mit gerade einmal 6 % eine Ausnahme ist, ist das Bild für Personen, die die Hochschulreife über einen alternativen Weg erlangen, deutlich anders. Hier machen Fachabitur und Abitur je ungefähr die Hälfte aus. Deshalb ist es wichtig, bei der Untersuchung alternativer Wege zur Hochschulreife zwischen Fachabitur und Abitur zu unterscheiden.
5.2 Wer holt die Hochschulreife nach?
Im ersten Schritt unserer multivariaten Analysen untersuchen wir die Bedeutung sozialer Herkunft für die Wahrscheinlichkeit, die Hochschulreife nachzuholen. Grundlage dieser Analysen sind alle Personen, die ursprünglich „nur“ einen Haupt- oder Realschulabschluss erworben haben. Deskriptive Analysen zur Relevanz solcher Korrekturprozesse zeigen: Fast jede fünfte Person unseres Samples, die ursprünglich einen Haupt- oder Realschulabschluss erworben hat, holt die Hochschulreife nach. Wie zuvor berichtet, sind Fachabitur und Abitur dabei ungefähr gleich bedeutsam.
In den Tab. 3 und 4 sind die Ergebnisse der binären und multinomialen logistischen Regressionen dargestellt. Zur Erklärung: Im ersten Modell links finden sich immer die Ergebnisse des Modells, das alle Geburtskohorten einbezieht; in den nachfolgenden Modellen werden die Ergebnisse für die einzelnen Geburtskohorten aufgeschlüsselt. In Tab. 3 wird die Art der Hochschulreife noch nicht differenziert; in Tab. 4 wird zwischen Abitur und Fachabitur unterschieden.
Die Zahl der Personen, die die Hochschulreife nach Abschluss der Haupt- oder Realschule nachholen, ist im Zeitverlauf signifikant gestiegen. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit hat sich im Kohortenvergleich fast verdoppelt (von 13 auf 22 % bzw. von 6 auf 10 % beim Fachabitur und von 7 auf 12 % beim Abitur).
Mit Blick auf den Einfluss sozialer Herkunft zeigt sich das erwartete BildFootnote 15: Es sind insbesondere Kinder bereits privilegierter Herkunftsgruppen, die sich für das Nachholen einer Hochschulreife entscheiden. Für Kinder, deren Eltern selbst eine Hochschulreife oder sogar einen Hochschulabschluss vorweisen können, beträgt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, das Fachabitur oder Abitur nach Abschluss einer Haupt- oder Realschule nachzuholen, 28 %. Für Kinder von Eltern mit maximal Hauptschulabschluss beläuft sich dieser Wert auf gerade einmal 15 %. Kinder von Eltern mit mittlerer Reife nehmen eine Zwischenposition ein – für sie beträgt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit 21 %.
Auf Basis der Ergebnisse in Tab. 4 scheinen diese Unterschiede für das Abitur ausgeprägter zu sein als für das Fachabitur. Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, das Fachabitur nachzuholen, ist für Kinder mittel und hochgebildeter Eltern „nur“ 1,25 bis 1,5 Mal höher als für Kinder gering gebildeter Eltern. Für das Abitur belaufen sich die entsprechenden Werte auf Faktor 1,5 bzw. 2,13. Kinder höhergebildeter Eltern entscheiden sich somit nicht nur häufiger für das Nachholen der Hochschulreife, sondern streben zudem auch häufiger das Abitur an.
Schlüsselt man die Ergebnisse für die einzelnen Geburtskohorten auf, zeichnet sich eine weitgehende Stabilität für die Unterschiede zwischen Kindern gering und mittel gebildeter Eltern ab: Insgesamt bewegt sich der durchschnittliche Marginaleffekt in allen Kohorten auf um die 7 Prozentpunkte (Tab. 3). Die Analysen, in denen zwischen Fachabitur und Abitur unterschieden wird (Tab. 4), verdeutlichen jedoch, dass diese Unterschiede vor allem auf signifikante Unterschiede beim Nachholen des Abiturs zurückzuführen sind. Für das Fachabitur gibt es keine klar signifikanten Unterschiede zwischen Kindern gering und mittel gebildeter Eltern. Für die Unterschiede zwischen Kindern gering und hoch gebildeter Eltern ist das Bild etwas komplexer. Zunächst ist festzuhalten, dass die älteste Geburtskohorte 1944–1953 etwas aus dem Bild fällt. Hier finden sich nur schwach oder nicht signifikante Unterschiede zwischen Kindern gering und hoch gebildeter Eltern. Dies ist jedoch auf eine geringe Zellbesetzung bzw. Fallzahl zurückzuführen und sollte deshalb nicht überbewertet werden.Footnote 16 In allen anderen Geburtskohorten zeigt sich das erwartete Bild, dass Kinder hoch gebildeter Eltern signifikant häufiger die Hochschulreife nachholen als Kinder gering gebildeter Eltern. Der durchschnittliche Marginaleffekt scheint sich sogar zu verstärken (von 0,14 in Kohorte 1954–1963 auf 0,18 in Kohorte 1974–1986). Die Ergebnisse in Tab. 4 legen nahe, dass diese wachsende Kluft vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sich Kinder hoch gebildeter Eltern in den beiden jüngsten Geburtskohorten nicht mehr nur beim Nachholen des Abiturs, sondern auch beim Nachholen des Fachabiturs signifikant von Kindern gering gebildeter Eltern abgesetzt haben.
Zusammenfassend lässt sich für den Moment also Folgendes festhalten: Wie erwartet zeigen sich deutliche Herkunftseffekte für die Wahrscheinlichkeit, die Hochschulreife im Anschluss an einen Haupt- oder Realschulabschluss nachzuholen. Im Vergleich zu Kindern gering gebildeter Eltern holen Kinder hoch und mittel gebildeter Eltern die Hochschulreife signifikant häufiger nach. Aus diesem Befund darf jedoch nicht geschlossen werden, dass alternative Bildungswege per se nachteilig sind für Kinder gering gebildeter Eltern. Für ein angemessenes Verständnis alternativer Wege zur Hochschulreife sind, wie zuvor ausgeführt, die Ergebnisse der nachfolgenden Analysen abzuwarten.
5.3 Wie bedeutsam sind alternative Wege zur Hochschulreife in verschiedenen Herkunftsgruppen?
Im zweiten Schritt unserer multivariaten Analyse interessiert uns die Frage, wie verbreitet alternative Wege zur Hochschulreife in den verschiedenen Herkunftsgruppen sind. Basis dieser Analysen sind alle Personen, die ein Fachabitur oder Abitur erworben haben, und wir untersuchen, ob die Hochschulreife über den traditionellen oder einen alternativen Weg erworben wurde. Die Ergebnisse der Analysen finden sich in den Tab. 5 und 6.
Bei der Interpretation der Ergebnisse müssen folgende, zuvor dargestellten Aspekte im Hinterkopf behalten werden (siehe Tab. 2 oben): Erstens variiert die Bedeutung alternativer Bildungswege deutlich zwischen Fachabitur und Abitur. Während der Großteil der Personen mit Fachabitur, nämlich fast 80 %, diesen Abschluss über einen alternativen Weg erworben hat, beläuft sich dieser Anteil beim Abitur auf gerade einmal 20 %. Zweitens ist der Erwerb des Fachabiturs eher eine Ausnahme. Von allen in unserem Datensatz berichteten Hochschulreifen entfallen nur 20 % auf das Fachabitur. Insbesondere bei der Interpretation der nach Kohorten aufgeschlüsselten Analysen ist also aufgrund geringer Fallzahlen für das Fachabitur eine gewisse Vorsicht angebracht.
Anders als im vorangegangenen Schritt unserer Analyse finden wir in dem alle Kohorten umfassenden Gesamtmodell keine klar signifikanten Unterschiede zwischen den Geburtskohorten. In allen Kohorten beträgt der Anteil der Personen, die die Hochschulreife über einen alternativen Weg erworben haben, ca. 30 % (bzw. rund 20 % beim Abitur und gute 80 % beim Fachabitur). Dies ist ein wichtiger Gegenbefund zu dem zuvor diskutierten Ergebnis, dass im Kohortenverlauf immer mehr Personen die Hochschulreife nachholen (siehe Tab. 3 und 4). Zusammengenommen lässt sich aus diesen Ergebnissen Folgendes ableiten: Zwar ist die absolute Zahl der Personen, die die Hochschulreife über einen alternativen Bildungsweg nachholen, signifikant gestiegen, ihr relativer Anteil (gemessen an allen Personen mit Hochschulreife) hat sich dagegen nicht verändert, da zeitgleich auch die Zahl der über den traditionellen Weg erworbenen Hochschulreifen gestiegen ist. Die bildungspolitischen Reformen haben das deutsche Sekundarschulsystem insgesamt gesehen also nicht (noch) offener gemacht. Die relative Bedeutung nachgeholter Hochschulreifen konnte nicht erfolgreich erhöht werden.
Die Befunde für soziale Herkunft entsprechen auch in diesem Analyseschritt unseren theoretisch abgeleiteten Erwartungen: Je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto seltener wird die Hochschulreife über einen alternativen Bildungsweg erworben. Im Schnitt erreichen 44 % der Kinder gering gebildeter Eltern die Hochschulreife erst über einen alternativen Bildungsweg. Dies gilt dagegen nur für 33 % der Kinder mittel gebildeter Eltern und 19 % der Kinder hoch gebildeter Eltern. Es sind also vor allem Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die auf alternative Bildungswege angewiesen sind, um die Hochschulreife zu erlangen. Dies gilt insbesondere für das Abitur.Footnote 17
Betrachtet man die Ergebnisse für die einzelnen Geburtskohorten, so deutet sich ein umgekehrt u‑förmiger Einfluss der sozialen Herkunft an: In der ältesten und der jüngsten Kohorte sind die Herkunftseffekte, gemessen in durchschnittlichen Marginaleffekten, am stärksten ausgeprägt, während sich in den mittleren Kohorten eine Annäherung zwischen den verschiedenen Gruppen abzeichnet (bedingt sowohl durch eine leichte Abnahme des relativen Anteils alternativ erworbener Abschlüsse bei Kindern gering gebildeter Eltern, als auch eine leichte Zunahme der Bedeutung alternativ erworbener Abschlüsse bei Kindern höher gebildeter Eltern). Zusätzliche Chi2-Tests zeigen, dass die kurzfristige Annäherung zwischen Kindern gering und hoch gebildeter Eltern auch signifikant war, sich der Unterschied in der jüngsten Kohorte jedoch wieder auf ein vergleichbares Niveau wie in der ältesten Kohorte eingependelt hat.
5.4 Wie verändern alternative Wege zur Hochschulreife Ungleichheiten in der Bildungsverteilung?
Für den Moment ergibt sich also folgendes Bild: Je niedriger das Bildungsniveau der Eltern, desto häufiger sind Kinder auf ihrem Weg zur Hochschulreife auf alternative Bildungswege angewiesen. Gleichzeitig gilt aber auch: Je niedriger das Bildungsniveau der Eltern, desto seltener entscheiden sich Kinder dafür, die Hochschulreife nachzuholen. Was heißt dies nun zusammengenommen, sozusagen im Gesamtbild? Das ist die zentrale Frage des dritten und letzten Schrittes unserer multivariaten Analyse. Dazu werden wir herkunftsspezifische Bildungsverteilungen in den Blick nehmen. Konkret lautet die Frage: Wie verändert sich der gruppenspezifische Anteil der Personen, die eine Hochschulreife erreichen, wenn auch über alternative Wege erworbene Schulabschlüsse in die Betrachtung einbezogen werden? Oder anders formuliert: Wie stark sind die sozialen Ungleichheiten ausgeprägt, bevor und nachdem analytisch für alternative Bildungswege Rechnung getragen wird? Die Ergebnisse unserer multivariaten Analysen finden sich in den Tab. 8 und 9.
Bevor wir die multivariaten Ergebnisse interpretieren, gilt es jedoch einen Blick auf die generelle Bildungsverteilung in unserem Sample zu werfen (Tab. 7). Bezieht man nur über den traditionellen Weg erworbene Abschlüsse (d. h. den ersten erworbenen Schulabschluss) ein, dann beträgt der Anteil der Personen mit Hochschulreife ca. 29 %. Nimmt man zusätzlich auch über alternative Wege nachgeholte Schulabschlüsse hinzu, erhöht sich dieser Anteil auf gut 42 %. Wie zuvor diskutiert (vgl. Tab. 2 oben) ist der Anteil des Fachabiturs in alternativen Bildungswegen sehr hoch. Es überrascht deshalb nicht, dass sich der Anteil der Personen mit Fachabitur von 6 auf 18 % erhöht, wenn über alternative Wege erzielte Schulabschlüsse einbezogen werden.
Kommen wir nun zu den multivariaten Ergebnissen. Völlig erwartungsgemäß im Lichte der Bildungsexpansion ist der Anteil der Personen mit Hochschulreife im Kohortenverlauf signifikant gestiegen (Tab. 8). Ein Blick auf die nach Art der Hochschulreife differenzierenden Analysen (Tab. 9) zeigt jedoch, dass sich beim Fachabitur eine Steigerung nur nach Hinzunahme alternativ erworbener Abschlüsse abzeichnet. Im traditionellen Bildungsweg ist und bleibt das Fachabitur eine Ausnahme.
Mit Blick auf die soziale Herkunft findet sich folgendes Muster: Bereits existierende soziale Ungleichheiten werden durch alternative Wege zur Hochschulreife tendenziell verstärkt. Dies gilt für alle Geburtskohorten und insbesondere für das Abitur. Nimmt man beispielsweise die Ergebnisse des ersten Modells in Tab. 8, so ist die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, die Hochschulreife zu erwerben, für Kinder mittel und hoch gebildeter Eltern um 19 bzw. 45 Prozentpunkte höher als für Kinder gering gebildeter Eltern, wenn man nur über den traditionellen Weg erworbene Abschlüsse betrachtet. Diese Werte erhöhen sich auf 23 bzw. 46 Prozentpunkte, wenn man über alternative Wege erworbene Schulabschlüsse hinzunimmt. Zusätzliche Chi2-Tests zeigen, dass die um 4 Prozentpunkte gestiegene Distanz zwischen Kindern gering und mittel gebildeter Eltern statistisch signifikant ist, während dies nicht für die wachsende Kluft zwischen Kindern gering und hoch gebildeter Eltern gilt.Footnote 18 Es ist jedoch zu beachten, dass das Ausgangsniveau bei Kindern hoch gebildeter Eltern extrem hoch istFootnote 19 und mögliche Zugewinne durch alternative Bildungswege gedeckeltFootnote 20 werden.
Differenziert man nach Art der erworbenen Hochschulreife (Tab. 9), so wird deutlich, dass sich für Abitur und Fachabitur ein unterschiedliches Bild abzeichnet: Lediglich für das Abitur findet sich eine Zunahme sozialer Ungleichheiten durch alternative Bildungswege. Wie zuvor ist die wachsende Distanz zwischen Kindern gering und mittel gebildeter Eltern signifikant. Für das Fachabitur zeigt sich dagegen, dass Ungleichheiten durch alternative Bildungswege teilweise sogar reduziert werden. So findet sich im ersten Modell für über den traditionellen Weg erworbene Schulabschlüsse, dass Kinder hoch gebildeter Eltern im Durchschnitt eine um 2 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit haben, das Fachabitur zu erreichen, als Kinder gering gebildeter Eltern. Nimmt man über alternative Wege erworbene Abschlüsse hinzu, so findet sich kein signifikanter Unterschied mehr zwischen Kindern gering- und hochgebildeter Eltern. Es ist jedoch wie zuvor betont zu beachten, dass der Erwerb des Fachabiturs insgesamt gesehen eher eine Ausnahme ist.
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die Ergebnisse unserer Studie nahelegen, dass alternative Bildungswege soziale Ungleichheiten in der Gesamtpopulation nicht reduzieren. Ganz im Gegenteil: Tendenziell verstärken alternative Wege zur Hochschulreife bereits existierende Ungleichheiten im Bildungserwerb sogar. Dies gilt insbesondere für das Abitur. Für Kinder gering und mittel gebildeter Eltern ist die wachsende Kluft auch statistisch signifikant.
6 Zusammenfassung und Diskussion
Dieser Beitrag hatte zum Ziel, sich kritisch mit der existierenden Bildungs- und Ungleichheitsforschung auseinandersetzen. Erstens ging es uns darum zu zeigen, dass das häufig als sehr rigide bezeichnete deutsche Sekundarschulsystem deutlich offener ist als in der Regel angenommen. Fast jede dritte Hochschulreife, die wir in unserer Studie identifizieren konnten, wurde über einen alternativen Bildungsweg nachgeholt. Die starke Konzentration auf traditionelle Bildungswege und frühe Bildungsübergänge kann deshalb nur ein lückenhaftes Bild von Bildungsungleichheiten zeichnen. Zweitens wollten wir verdeutlichen, dass erst eine systematische Rekonstruktion sozialer Herkunftseffekte eine angemessene Beurteilung alternativer Bildungswege zulässt: Zwar holen Kinder höher gebildeter Eltern die Hochschulreife signifikant häufiger nach als Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern und das Ausmaß sozialer Ungleichheiten im Bildungserwerb wird durch alternative Bildungswege tendenziell weiter verstärkt, es wäre jedoch kurzsichtig, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass alternative Bildungswege grundsätzlich zum Nachteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien sind. Denn es sind vor allem Kinder gering gebildeter Eltern, die die Hochschulreife erst über einen alternativen Bildungsweg erreichen.
Unser Beitrag hat sich darüber hinaus kritisch mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir als Forscherinnen und Forscher das Ausmaß sozialer Ungleichheiten quantifizieren. Anders als in der Bildungsforschung üblich haben wir zur Bestimmung sozialer Ungleichheiten nicht Odds Ratios, sondern Average Marginal Effects berechnet. Wir haben argumentiert, dass wir dies insbesondere für die Frage, wie sich alternative Bildungswege auf Ungleichheiten in Bildungsverteilungen auswirken, für konzeptionell überzeugender halten. Anders als Odds Ratios erfassen Average Marginal Effects nicht die relative, sondern die absolute Distanz zwischen sozialen Gruppen. Auf Basis dieses Ungleichheitsmaßes zeichnet sich in unserer Studie eine Zunahme sozialer Ungleichheiten durch alternative Bildungswege ab. In zusätzlichen, hier nicht abgebildeten Analysen haben wir auch Odds Ratios berechnet. Würden wir uns auf dieses Ungleichheitsmaß beziehen, gäbe es Anzeichen für einen Abbau sozialer Ungleichheiten. Es ist uns wichtig darauf hinzuweisen, dass sich dieser gegensätzliche Befund nicht damit erklären lässt, dass Odds Ratios anders als Average Marginal Effects Ungleichheiten nicht „im Durchschnitt“ ermitteln. Auch wenn man auf Basis der ausgegebenen Predictive Margins „durchschnittliche“ Odds Ratios berechnet, gibt es Anzeichen für abnehmende Ungleichheiten. Das heißt: Wir müssen uns als Forscherinnen und Forscher sehr bewusst darüber sein, dass sich, je nachdem, auf welches Ungleichheitsmaß wir uns in unserer Arbeit beziehen, nicht nur unterschiedliche, sondern sogar entgegengesetzte Schlussfolgerungen ziehen lassen. Sich kritisch mit der Frage auseinanderzusetzen, was das für die Ungleichheitsforschung im Allgemeinen bedeutet und welches Ungleichheitsmaß für welche Fragestellung sinnvoll(er) ist, sollte deshalb ein wichtiges Ziel künftiger Arbeiten sein.
Wie die meisten existierenden Forschungsarbeiten in diesem Bereich haben wir uns aus Platzgründen auf die Untersuchung alternativer Wege zur Hochschulreife beschränkt. Ob und wie alternative Bildungswege soziale Ungleichheiten auf unteren Bildungsniveaus verändert haben, wurde von der Forschung bisher weitgehend ignoriert. Jedoch erlaubt erst eine Analyse aller Bildungsniveaus eine zufriedenstellende Beurteilung alternativer Bildungswege. Ebenfalls aus Platzgründen außer Acht gelassen haben wir Abbruchrisiken in alternativen Bildungswegen. In unserer Studie untersuchen wir letztlich nur, welche Herkunftsgruppen einen alternativen Weg zur Hochschulreife erfolgreich abschließen. Um Bildungsungleichheiten adäquat zu verstehen, wäre es jedoch nötig, alle Bildungsübergänge – und damit auch Bildungsabbrüche – in den Blick zu nehmen.
Im Sinne der Vergleichbarkeit unserer Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer Forschungsarbeiten haben wir uns auf die Analyse des Einflusses des elterlichen Bildungsniveaus beschränkt. Insbesondere in jüngerer Zeit gibt es jedoch einen wachsenden wissenschaftlichen Diskurs über die Frage, wie wir als Ungleichheitsforscherinnen und -forscher die soziale Herkunft operationalisieren (Bukodi und Goldthorpe 2013; Jaeger 2007). Bukodi und Goldthorpe (2013) haben beispielsweise darauf hingewiesen, dass verschiedene Operationalisierungen sozialer Herkunft die Genese von Bildungsungleichheiten auf sehr spezifische Art und Weise beeinflussen könnten. Künftige Arbeiten sollten deshalb versuchen, die Befunde unserer Analysen mit anderen Operationalisierungen zu replizieren und zu überprüfen. Den potenziell unterschiedlichen Einfluss verschiedener Operationalisierungen sozialer Herkunft empirisch zu untersuchen und angemessen theoretisch zu begründen, hätte den Rahmen unseres Beitrages überschritten.
Die jüngere Diskussion zur „angemessenen“ Operationalisierung der sozialen Herkunft sollte unseres Erachtens zudem erweitert werden. Die Bildungsforschung muss sich letztlich nicht nur kritisch mit der Frage auseinandersetzen, ob für die Operationalisierung der sozialen Herkunft das elterliche Bildungsniveau, die elterliche Berufsklasse oder der sozioökonomische Status herangezogen wird. Insbesondere wenn längere Zeitvergleiche angestellt werden, stellt sich auch die Frage, ob die Verwendung klar festgelegter, sozusagen „absoluter“ Kategorien für die soziale Herkunft sinnvoll ist. Wir wollen dies am Beispiel unserer Studie verdeutlichen: Wir haben die soziale Herkunft in allen Geburtskohorten über das höchste, von den Eltern erreichte Bildungsniveau abgebildet. Da sich jedoch im Zeit- bzw. Kohortenverlauf die Komposition der Bevölkerung und damit die relative sozialstrukturelle Position von Eltern mit einem bestimmten Bildungsabschluss verändert hat, ist die Frage, ob es sinnvoll ist, dass in allen Geburtskohorten Eltern mit einem bestimmten Bildungsabschluss gleich behandelt werden. Eine systematische, auch theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit der Frage, wie Veränderungen in der Komposition von Elternhaushaushalten bei der Operationalisierung sozialer Herkunft angemessen berücksichtigt werden könnenFootnote 21, steht unseres Wissens noch aus.
Obschon wir in all unseren Analysen auch Geschlechtereffekte berechnet haben, haben wir diese aus Platzgründen nicht abgebildet und diskutiert. Es ist ein Manko der bisherigen Forschung zu alternativen Bildungswegen, dass die Frage von Geschlechterunterschieden außer Acht gelassen wurde. Heute gelten Mädchen gemeinhin als Bildungsgewinnerinnen und Jungen als schulisch benachteiligt. Begründet wird dies in der Regel über die höhere Gymnasialquote von Mädchen. In unseren Analysen für alternative Wege zur Hochschulreife zeigt sich jedoch eine deutliche Benachteiligung von weiblichen Jugendlichen: Sie holen seltener die Hochschulreife nach, nutzen auf ihrem Weg zur Hochschulreife seltener alternative Bildungswege und haben, sobald über alternative Bildungswege erworbene Abschlüsse einbezogen werden, schlechtere Chancen als männliche Jugendliche, die Hochschulreife zu erreichen. Neben der sozialen Herkunft, auch geschlechtsspezifische Disparitäten in alternativen Bildungswegen empirisch zu untersuchen und theoretisch zu erklären, sollte deshalb ein wichtiges Ziel künftiger Forschung sein.
Notes
Auf eine detaillierte Darstellung der Einzelergebnisse verzichten wir, da diese bereits von Schindler (2015) in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie vorgelegt wurde.
Selbstverständlich sind auch Ungleichheiten in Bildungsverteilungen konditioniert, da sie das aggregierte Produkt einzelner, individueller Bildungsentscheidungen sind. Wir danken den Herausgebern der Zeitschrift für diesen wichtigen Hinweis. Um jedoch unnötige Verwirrungen zu vermeiden, greifen wir auf die von Schindler (2015) in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie gewählten Begrifflichkeiten zurück.
Darüber hinaus haben durchschnittliche Marginaleffekte den Vorteil, dass sie Vergleiche über verschiedene Modelle hinweg erlauben (Mood 2010).
Dass Kinder in Deutschland eine voll integrierte Gesamtschule besuchen, ist nach wie vor eher eine Ausnahme (Bildungsbericht 2016).
Seit Kurzem gibt es wieder Versuche, Sekundarschularten (insbes. Haupt- und Realschulen oder entsprechende Zweige) zusammenzufassen (Bildungsbericht 2016). Das Gymnasium blieb jedoch weitgehend unangetastet. Da diese Reformen die von uns untersuchten Geburtskohorten nicht betreffen, verzichten wir auf eine Diskussion der jüngeren Reformen und Veränderungen.
In der Regel führt der Weg ins Studium in Deutschland auch heute noch über den Nachweis einer schulisch erworbenen Hochschulzugangsberechtigung (Bildungsbericht 2014; Tab. F2-21web).
Darüber hinaus gibt es neben der allgemeinen auch die fachgebundene Hochschulreife.
169 Personen ohne Angaben zum elterlichen Bildungsniveau wurden ausgeschlossen.
Da unsere jüngste Geburtskohorte zur letzten Befragung noch vergleichsweise jung ist, haben wir für eine bessere Vergleichbarkeit der Geburtskohorten nur Schulabschlüsse einbezogen, die innerhalb von 15 Jahren nach dem ersten Schulabschluss nachgeholt wurden. Die Zahl später erworbener Schulabschlüsse ist sehr gering: Nur 46 Personen unseres Samples geben an, ein (Fach‑)Abitur nach mehr als 15 Jahren nach dem ersten Schulabschluss erworben zu haben.
Wir möchten betonen, dass wir eine sehr konservative Strategie zur Identifikation nachgeholter Schulabschlüsse genutzt haben, um die Bedeutung alternativer Bildungswege nicht zu überschätzen. 123 Personen unseres Samples, die berichtet haben, das Gymnasium nicht mit der Hochschulreife verlassen zu haben, haben direkt im Anschluss weiter eine Schule besucht und dort eine Hochschulreife erworben. Diese Personen haben wir nicht der Gruppe zugeordnet, die die Hochschulreife über einen alternativen Weg erworben hat, da es sich letztlich lediglich um Schulwechsler handelt. Sie zählen deshalb in unseren Analysen zur Gruppe derer, die die Hochschulreife bereits im ersten Anlauf über den traditionellen Weg erreicht haben. 137 Personen unseres Samples geben an, ihre Hochschulreife parallel zu einer beruflichen Ausbildung erlangt zu haben. Auch diese Personen sind nicht Teil unserer Population, die die Hochschulreife über einen alternativen Weg erworben hat. Es ist ein Spezifikum des deutschen Ausbildungssystems, dass erfolgreichen Absolventen – unter bestimmten Bedingungen – ein höherer Schulabschluss zuerkannt wird. Unbestritten wäre es interessant, auch diese spezifische Population genauer in den Blick zu nehmen. Der Anteil der so zuerkannten Schulabschlüsse ist in unserem Sample jedoch so gering, dass uns eine verlässliche Analyse nicht möglich erscheint.
Mit der Operationalisierung der sozialen Herkunft über das elterliche Bildungsniveau schließen wir uns im Sinne einer Vergleichbarkeit unserer Ergebnisse dem Mainstream der Forschung in diesem Bereich an. Wir sind uns dessen bewusst, dass es seit einiger Zeit einen wachsenden wissenschaftlichen Diskurs über die „richtige“ Operationalisierung der sozialen Herkunft gibt (Bukodi und Goldthorpe 2013; Jaeger 2007). In unserer Zusammenfassung werden wir uns kritisch mit diesem Punkt auseinandersetzen.
Wir lassen das Geburtsjahr aus verschiedenen Gründen nicht als metrische Variable einfließen: Erstens ist der zeitliche Trend nicht immer linear. Zweitens ist die Zellbesetzung einzelner Geburtsjahre sehr gering (insbesondere in älteren Geburtsjahrgängen). Drittens muss eine Studie wie unsere für mögliche Veränderungen im Zeitverlauf Rechnung tragen. Ein Ziel des sukzessiven Ausbaus alternativer Bildungswege war es, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Um die Frage zu beantworten, ob sich die Muster sozialer Ungleichheiten im Zuge der Reformen tatsächlich verändert haben, ist ein Kohortenvergleich nötig. Um solche Ergebnisse übersichtlich und für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar darzustellen, ist eine Einteilung in verschiedene Kohorten nicht nur sinnvoll, sondern auch hilfreich. Die Abgrenzung der einzelnen Kohorten erfolgte auf Basis theoretischer Erwägung. Ziel war es, mit den vier Kohorten den schrittweisen Ausbau alternativer Bildungswege bestmöglich abzubilden. Die theoretischen Erwägungen wurden durch detaillierte Voranalysen zu Zellbesetzungen und Effekten einzelner Geburtsjahrgänge empirisch abgesichert. Die von uns im Folgenden berichteten Ergebnisse sind stabil und zeigen sich auch, wenn wir die Kohorten etwas anders zuschneiden.
Aus Platzgründen werden diese Ergebnisse nicht berichtet.
Die Darstellung der Predictive Margins soll den Leserinnen und Lesern ein Verständnis über die Grundlage der berichteten Average Marginal Effects ermöglichen.
Für ein Teilsample der NEPS-Erwachsenenkohorte liegen Informationen zu den Schulnoten der Befragten vor. Weiterführende Analysen haben gezeigt, dass sich die Effekte für das elterliche Bildungsniveau kaum verändern, wenn die vorangegangene schulische Leistung in die Modelle aufgenommen wird.
Die Zahl der Kinder, deren Eltern eine Hochschulreife oder einen tertiären Bildungsabschluss vorweisen können, beläuft sich für die älteste Geburtskohorte auf gerade einmal 184 Personen. Von diesen holen 28 die Hochschulreife nach.
Der Anteil der über einen alternativen Weg erworbenen Abiturabschlüsse ist für Kinder gering gebildeter Eltern 2,5 Mal höher als für Kindern hoch gebildeter Eltern (Predictive Margins 0,30 vs. 0,12). Beim Fachabitur beträgt der Faktor lediglich 1,24 (Predictive Margins 0,84 vs. 0,68).
Der Unterschied zwischen Kindern mittel und hoch gebildeter Eltern verändert sich dadurch nicht signifikant.
Fast 60 % der Kinder hoch gebildeter Eltern erreichen die Hochschulreife bereits im ersten Anlauf.
Dies ist ein Nachteil der von uns verwendeten Average Marginal Effects.
Beispielsweise indem das elterliche Bildungsniveau nicht in klar festgelegten Kategorien erfasst wird, sondern dadurch, wie viele Eltern ein bestimmtes Bildungsniveau in einer Kohorte teilen.
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Dieser Beitrag nutzt Daten des Nationalen Bildungspanels: Startkohorte Erwachsene, https://doi.org/10.5157/NEPS:SC6:5.1.0. Die Daten des NEPS wurden von 2008 bis 2013 als Teil des Rahmenprogramms zur Förderung der empirischen Bildungsforschung erhoben, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert wurde. Seit 2014 wird NEPS vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe e. V. (LIfBi) an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg in Kooperation mit einem deutschlandweiten Netzwerk weitergeführt.
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Buchholz, S., Pratter, M. Wer profitiert von alternativen Bildungswegen? Alles eine Frage des Blickwinkels!. Köln Z Soziol 69, 409–435 (2017). https://doi.org/10.1007/s11577-017-0484-8
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