1 Einleitung

Das deutsche Bildungssystem gilt gemeinhin als ein Bildungssystem, das soziale Ungleichheit beim Bildungserwerb eher zementiert als ausgleicht. Im Blickpunkt stehen in aller Regel die Mehrgliedrigkeit der Sekundarbildung sowie die damit verbundene frühe Aufteilung auf die weiterführenden Schulen. Dahinter steht die Annahme, dass vor allem diese beiden Merkmale einen großen Anteil an der im internationalen Vergleich sehr ausgeprägten sozialen Ungleichheit beim Erreichen von Bildungsabschlüssen haben. Entsprechend deutet sich in ländervergleichenden Studien an, dass in mehrgliedrigen Bildungssystemen der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg systematisch stärker ausfällt als in Bildungssystemen mit eingliedriger Sekundarbildung (Bol und van de Werfhorst 2013; Brunello und Checchi 2007; Hanushek und Wößmann 2006; Pfeffer 2008). Zudem existiert zum deutschen Bildungssystem mittlerweile ein recht breiter Bestand an Arbeiten, die sich mit dem Übergang an die weiterführenden Schulen beschäftigen und das hohe Ausmaß an sozialer Ungleichheit an diesem Übergang dokumentieren (z. B. Becker 2000; Dollmann 2011; Gresch et al. 2010; Neugebauer 2010). Dennoch erwies sich das Konzept der Mehrgliedrigkeit als sehr beharrlich in der deutschen Bildungspolitik. Obwohl bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit und dann wieder im Rahmen der großen Bildungsreformdebatte der 1960er-Jahre (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970, S. 26) Stimmen für eine längere gemeinsame Beschulung laut wurden, hielt man an der frühen Aufteilung auf parallele Schulformen fest. Stattdessen sollte das Schulsystem nach dem Übergang an die weiterführenden Schulen durchlässiger gestaltet werden, gerade auch um soziale Disparitäten in der Bildungsbeteiligung abzubauen. Im Zuge der Bildungsexpansion wurde somit eine zunehmende Öffnung und Diversifizierung von Bildungsgängen in und nach der Sekundarstufe I betrieben: Wechsel zwischen den weiterführenden Schulen wurden erleichtert und mehr Möglichkeiten zum Nachholen von Bildungsabschlüssen wurden geschaffen.

Dies hat zur Konsequenz, dass mit dem zunehmenden Ausbau der Möglichkeiten zur Korrektur des ursprünglich eingeschlagenen Bildungsweges die Bedeutung des ersten Bildungsübergangs an Gewicht verlieren sollte. Das Ausmaß sozialer Ungleichheit beim Bildungserwerb sollte sich demnach erst an späteren Stellen des Bildungsverlaufs verfestigen. Für die Analyse von Bildungsungleichheit ist dann zunehmend relevant, welche sozialen Gruppen mehr von den Möglichkeiten zur Korrektur der Bildungswege profitieren, oder anders formuliert, ob sich soziale Ungleichheiten über den Bildungsverlauf verstärken oder abschwächen. Genau dies soll im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden.

Die Beschäftigung mit der Entwicklung sozialer Ungleichheit über den Bildungsverlauf ist nicht neu. Untersuchungen zu nachgeholten Bildungsabschlüssen, wenngleich aus heutiger Sicht auf Basis suboptimaler Daten, finden sich bereits ab den 1960er-Jahren (Hamacher 1968; Zapf 1971). Fundierte Analysen individueller Bildungsverläufe wurden jedoch erst mit der Verfügbarkeit von auf der Individualebene erhobenen Längsschnittdaten ermöglicht. Eine Pionierrolle kommt hierbei der vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführten Deutschen Lebensverlaufsstudie (GLHS) zu.Footnote 1 In diesem Zusammenhang veröffentlichte Ursula Henz (1997a, b) die ersten systematischen Analysen zur Veränderung der Bildungsungleichheit über den Bildungsverlauf für verschiedene Geburtsjahrgänge zwischen 1929 und 1961. Auf Basis neuerer Erhebungen der Lebensverlaufsstudie führten Steffen Hillmert und Marita Jacob weitere Analysen für die Geburtsjahrgänge 1964 und 1971 durch (Hillmert und Jacob 2005a, b, 2010). In der Rezeption der Befunde wird in der Regel deren (vielleicht überraschendes) Ergebnis hervorgehoben, dass sich die sozialen Bildungsungleichheiten über den Bildungsverlauf hinweg verstärken (z. B. Becker 2009, S. 582; Glaesser und Cooper 2011, S. 573; Schuchart 2006, S. 417; Trautwein et al. 2011, S. 449). Die nachträglichen Korrekturmöglichkeiten des Bildungssystems kommen demnach eher den privilegierten sozialen Gruppen zugute.

Stellt man diesen Erkenntnissen hingegen die Arbeiten gegenüber, die sich in neuester Zeit mit den institutionellen Öffnungsprozessen in der Sekundarbildung beschäftigen, dann liest sich deren Befundlage etwas anders. Im Zentrum stehen hier die Arbeiten um die TOSCA-Studie, die ebenfalls am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung entstanden ist.Footnote 2 Die Schlussfolgerungen der Analysen, die sich mit den nicht-traditionellen Wegen zum Abitur beschäftigen, vermitteln eher das Bild, dass soziale Ungleichheiten durch diese in der Regel nachgeholten Bildungsgänge verringert werden (Maaz et al. 2004; Trautwein et al. 2011). Ähnlich lassen sich die Befunde von Schindler (2014) interpretieren, die auf amtlichen Daten sowie Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) basieren.

Im Folgenden sollen die vermeintlich widersprüchlichen Befundlagen etwas entzerrt und systematisiert werden. Dabei werden einerseits wichtige konzeptionelle Unterscheidungen des konkreten Verständnisses von Bildungsungleichheit getroffen, die dafür maßgeblich sind, zu welchen Schlussfolgerungen man bei einer Betrachtung von Ungleichheitsentwicklungen in der Bildungs- oder Lebensverlaufsperspektive gelangt. Andererseits werden auf dieser Grundlage die angeführten Studien etwas detaillierter hinterfragt als dies vielleicht bisher geschehen ist. Hierzu werden die Daten der Lebensverlaufsstudien 1964 und 1971 reanalysiert und mit den Befunden der BIBB-Übergangsstudie 2006 verglichen. Zudem werden diese Analysen mit den neueren Daten der Startkohorte 6 des Nationalen Bildungspanels (NEPS) repliziert.

2 Theoretische und konzeptionelle Erwägungen

2.1 Bildungspolitische Relevanz und theoretische Erwartungen

Das gegliederte Schulsystem scheint zu den unverrückbaren Prinzipien der deutschen Bildungspolitik zu gehören. Selbst in Bundesländern, in denen sich Befürworter einer längeren gemeinsamen Beschulung einigermaßen durchsetzen konnten, bestehen Gesamtschulen lediglich als Ergänzung zum gegliederten Schulsystem. Auch die neuesten Reformbemühungen in der Sekundarstufe haben maximal zur Einführung von zweigliedrigen Schulsystemen geführt. Das Hauptargument hinter der frühen Aufteilung der Schüler ist die begabungsadäquate Beschulung von Schülern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen. Da Begabungen jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten erkennbar werden und zudem bei der weiterführenden Schulwahl auch begabungsunabhängige Entscheidungen eine Rolle spielen, ist der Übergang in die Sekundarstufe anfällig für Fehlallokationen (im Sinne des Arguments). Wie die oben zitierten Studien zeigen konnten, sind diese Fehlallokationen stark mit der sozialen Herkunft korreliert. Um eine Korrektur der Fehlallokationen zu ermöglichen, wurde die Durchlässigkeit des Bildungssystems nach dem ersten Übergang durch die Vereinfachung von Schulartwechseln durch Aufbauschulformen und nachgeholte Bildungswege zunehmend erhöht. Im Bereich der Sekundarstufe II zählen hierzu insbesondere die Einführung und der Ausbau verschiedener berufsorientierter Bildungswege, wie Fachgymnasien, Fach- und Berufsoberschulen sowie doppelt qualifizierender Berufsausbildungsgänge (vgl. Schindler 2014).

Unter dem bildungspolitischen Aspekt der Bildungsungleichheit stellt sich daher die Frage, ob das systembedingt hohe Niveau sozialer Selektivität am ersten Bildungsübergang durch diese Öffnungsprozesse korrigiert werden kann. Dies lässt sich schlicht auf die Frage herunterbrechen, ob die Korrekturmöglichkeiten des Bildungssystems eher den beim ersten Bildungsübergang privilegierten oder eher den benachteiligten sozialen Herkunftsgruppen nützen. Die theoretischen Erwartungen hierzu wurden umfassend und sehr detailliert von Hillmert und Jacob (2005a) erörtert und sollen nicht im Einzelnen wiederholt werden. Sie lassen sich jedoch in zwei gegenläufige Prozesse zusammenfassen. Der erste Prozess besteht darin, dass durch die Öffnungsprozesse eine zusätzliche Sequenzierung des Bildungssystems entsteht, womit mehrere neue Entscheidungspunkte etabliert werden. Dies kommt grundsätzlich den beim Zugang zu Bildung traditionell benachteiligten sozialen Gruppen zugute, da deren Entscheidungsverhalten eher von risiko-aversen Erwägungen geleitet wird (vgl. Breen et al. 2014). Der zweite Prozess besteht darin, dass durch diese Sequenzierung nun auch mehr Korrekturmöglichkeiten für die Schüler aus privilegierten sozialen Gruppen eröffnet werden, die sich aus verschiedenen Gründen nicht in den höheren Bildungsgängen befinden. Aufgrund von Statuserhaltserwägungen sollte innerhalb dieser Gruppen der Antrieb zur Korrektur der Bildungslaufbahn grundsätzlich ausgeprägter sein als bei Schülern aus weniger privilegierten Familien. Ob nun die Bildungsungleichheit durch die institutionell eröffneten Korrekturmöglichkeiten abgemildert oder verstärkt wird, hängt davon ab, welcher der beiden Prozesse stärker wiegt. Letztendlich ist dies eine empirische Frage, deren Antwort jedoch auch davon abhängt, welchen konkreten Aspekt der Ungleichheit man betrachtet. Dies soll im Folgenden näher ausgeführt werden.

2.2 Konzeptionelle Perspektiven der Betrachtung von Bildungsungleichheit

2.2.1 Lebensverlauf vs. Bildungsverlauf

Die Veränderung der Bildungsungleichheit in der (intra-generationalen) Längsschnittperspektive lässt sich auf zwei verschiedene Weisen betrachten (vgl. Hillmert und Jacob 2005a). Man kann sich entweder am Lebensalter orientieren und die Ungleichheit beim Erreichen eines bestimmten Abschlusses wiederholt zu verschiedenen Alterszeitpunkten ermitteln (Lebensverlaufsperspektive). Veränderungen der Ungleichheit ergeben sich dann, wenn eine soziale Gruppe den jeweiligen Abschluss systematisch häufiger oder seltener in einem höheren Alter erwirbt. Oder man orientiert sich an institutionellen Bildungsetappen und ermittelt die Ungleichheit wiederholt an aufeinander folgenden Bildungssequenzen, zum Beispiel am Übergang in die Sekundarbildung, beim ersten Sekundarabschluss, beim höchsten Sekundarabschluss etc. (Bildungsverlaufsperspektive). Veränderungen der Ungleichheit ergeben sich hier, wenn eine soziale Gruppe den jeweiligen Abschluss systematisch häufiger als nachgeholten Abschluss erwirbt.

Lebensverlaufs- und Bildungsverlaufsperspektive sind zwar korreliert, aber nicht notwendigerweise deckungsgleich. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Besteht an einer institutionalisierten Etappe, wie zum Beispiel dem Erreichen des ersten Sekundarschulabschlusses, soziale Ungleichheit, dann folgt daraus, dass man über den Altersverlauf ansteigende Bildungsungleichheit beobachtet, da höhere Abschlüsse erst später im Lebensverlauf erworben werden. Andererseits sinkt die Bildungsungleichheit im Altersverlauf dann, wenn nachgeholte Sekundarabschlüsse dazu beitragen, dass soziale Ungleichheit reduziert wird. Wenn sich beide Prozesse zeitlich überlagern, können sie durch eine bloße Betrachtung der Entwicklung im Altersverlauf nicht differenziert werden. Die nachfolgenden Ausführungen nehmen aus diesem Grund ausschließlich die Bildungsverlaufsperspektive ein.

2.2.2 Unkonditionale vs. konditionale Betrachtung der Ungleichheit

Unabhängig von der Wahl der beiden dargestellten längsschnittlichen Perspektiven besteht eine weitere wichtige konzeptionelle Unterscheidung zwischen der Betrachtung unkonditionaler Bestandsquoten und der Betrachtung konditionaler Bildungsübergänge bei der Analyse von Bildungsungleichheit (vgl. Hillmert und Jacob 2005a). Die unkonditionale Variante erfasst die Ungleichheit beim Erreichen eines bestimmten Bildungsabschlusses als Bestandsgröße zu bestimmten Zeitpunkten des Bildungs- oder Lebensverlaufs und bezieht sich immer auf die Gesamtpopulation. Beispielsweise könnte man ermitteln, wie viel Prozent der Kohorte bereits beim ersten Bildungsabschluss ein Abitur erworben haben und dies mit dem entsprechenden Anteil beim höchsten Abschluss vergleichen. Die konditionale Betrachtung bezieht sich hingegen auf Zustandsübergänge. Sie erfasst die Ungleichheit beim Erreichen eines Abschlusses oder beim Vollzug eines Bildungsübergangs lediglich unter denjenigen, die noch die Möglichkeit dazu haben. Personen, welche die entsprechenden Abschlüsse bereits erreicht haben, sind nicht mehr Teil der Analysepopulation. Da diese Unterscheidung grundlegend für die Interpretation der oben dargestellten Befundlage ist, soll die Beziehung zwischen konditionalen und unkonditionalen Quoten im Folgenden anhand einer formalisierten Erörterung eingehender erläutert werden.Footnote 3

Betrachtet man die Bildungskarriere in Anlehnung an das einflussreiche Mare-Modell (vgl. Mare 1980) als Abfolge von sukzessiven Bildungsübergängen (t), dann ergibt sich allgemein die Quote (P) der Schüler, die erfolgreich einen bestimmten Bildungsübergang (T) bewerkstelligen, als Produkt aller vorausgegangenen Übergangsquoten (p) dieses Bildungspfades:

$$ {{P}_{T}}|Mare=\prod\limits_{t}^{T}{{{p}_{t}}} $$
(1)

Zur Veranschaulichung dient der Weg zum Abitur als Beispiel. Nach dem Mare-Modell könnte man den Anteil der Abiturienten an der gesamten Schülerschaft (P Abi ) berechnen, indem man zwei Übergangsquoten miteinander multipliziert: Erstens, die Übergangsrate auf das Gymnasium (p Gym ), und zweitens, die Abiturquote unter denjenigen Schülern, die auf das Gymnasium übergegangen sind (p Abi|Gym ):

$$ {{P}_{Abi}}|Mare={{p}_{Gym}}*{{p}_{Abi|Gym}} $$
(2)

Wie bereits verschiedene Autoren angemerkt haben, ist das sequenzielle Mare-Modell jedoch nur eingeschränkt zur Analyse von Bildungssystemen geeignet, die über mehrere parallele Bildungsgänge verfügen oder nicht strikt sequenziell aufgebaut sind (vgl. z. B. Breen und Jonsson 2000; Schimpl-Neimanns 2000). Im deutschen Bildungssystem bestehen beispielsweise neben dem allgemeinbildenden Gymnasium weitere Bildungspfade, über die ein Abitur erreicht werden kann. Formel (2) stellt in diesem Fall eine unzureichende Zerlegung der Abiturientenquote in Bildungsübergänge dar, da diese weiteren Bildungspfade nicht berücksichtigt werden. Daher muss die rechte Seite der Gleichung noch um entsprechende Terme ergänzt werden. In einer einfachen Variante hat dies die folgende Form:

$$ {{P}_{Abi}}={{p}_{Gym}}*{{p}_{Abi|Gym}}+(1-{{p}_{Gym}}*{{p}_{Abi|Gym}})*{{p}_{Abi|\neg Gym}} $$
(3)

In Formel (3) wird ein Term angefügt, der alle nicht-direkten Wege zum Abitur beinhaltet. Dieser umfasst zwei Quoten, die wieder miteinander multipliziert werden: Erstens, den Anteil all jener, die kein Abitur über den direkten gymnasialen Weg erworben haben (1–p Abi *p Abi|Gym ), und zweitens, den Anteil unter diesen Schülern, der doch noch über andere Wege ein Abitur erwirbt (p Abi|¬Gym ). Kurz gesagt: Vor dem Pluszeichen steht die unkonditionale Quote des direkt am Gymnasium erworbenen Abiturs (P D ), dahinter die unkonditionale Quote des nachgeholten Abiturs (P N ):

$$ {{P}_{D}}={{p}_{Gym}}*{{p}_{Abi|Gym}} $$
(3a)
$$ {{P}_{N}}=(1-{{p}_{Gym}}*{{p}_{Abi|Gym}})*{{p}_{Abi|\neg Gym}} $$
(3b)

Anhand von Formel (3) kann nun der Unterschied zwischen einer längsschnittlichen Betrachtung von unkonditionalen Bestandsquoten und der Betrachtung von konditionalen Übergangsraten veranschaulicht werden. Analysen konditionaler Übergangsraten beschränken sich auf die Auseinandersetzung mit einzelnen Faktoren der rechten Seite von Gl. (3), um sozial selektive Allokationsprozesse an bestimmten Bildungsübergängen oder innerhalb bestimmter Teilpopulationen zu identifizieren. Unkonditionale Analysen interessieren sich dafür, wie sich das Ergebnis links des Gleichzeichens insgesamt verändert, je nachdem ob man nachgeholte Abschlüsse berücksichtigt oder nicht (hier der Unterschied im Ergebnis zwischen Formel (3) und Formel (2)). Das Erkenntnisziel solcher Analysen besteht in der Einschätzung der Gesamtwirkung bestimmter Bildungswege auf das Ausmaß der Bildungsungleichheit.

2.2.3 Konsequenzen für die Interpretation von Bildungsungleichheit

Unter Bildungsungleichheit wird in der Regel die Ungleichheit der Bildungschancen verstanden. Als Ungleichheitsmaß wird dann das Chancenverhältnis (Odds Ratio) zwischen zwei sozialen Herkunftsgruppen herangezogen. Angenommen, man möchte in einer unkonditionalen Analyse untersuchen, wie groß die Ungleichheit beim Erwerb des Abiturs ist, wenn man die höchsten jemals erworbenen Sekundarabschlüsse heranzieht. Das Odds Ratio (OR) zwischen zwei Gruppen i und j ergibt sich dann als das Verhältnis der gruppenspezifischen Chancen:

$$ O{{R}_{Abi,ij}}=\frac{\frac{{{P}_{Abi,i}}}{1-{{P}_{Abi,i}}}}{\frac{{{P}_{Abi,j}}}{1-{{P}_{Abi,j}}}}\, $$
(4)

Um zu ermitteln, wie nachgeholte Abschlüsse das Gesamtausmaß an Ungleichheit beeinflussen, kann man die Abiturientenquoten (P Abi ) wie in den Formeln (3a) und (3b) in direkte und nachgeholte Zertifikate zerlegen:

$$ O{{R}_{Abi,ij}}=\frac{\frac{{{P}_{D,i}}+{{P}_{N,i}}}{1-({{P}_{D,i}}+{{P}_{N,i}})}}{\frac{{{P}_{D,j}}+{{P}_{N,j}}}{1-({{P}_{D,j}}+{{P}_{N,j}})}}\, $$
(5)

Wenn sich die Quoten nachgeholter Abschlüsse (P N ) zwischen beiden Gruppen unterscheiden, wird sich das Odds Ratio im Vergleich zur Ungleichheit bei den direkt erworbenen Abschlüssen (P D ) verändern. Angenommen, es besteht Ungleichheit beim direkten Erwerb des Abiturs zugunsten der Gruppe i (P D, i > P D, j ), dann werden nachgeholte Abschlüsse tendenziell diese Ungleichheit verringern, wenn die unkonditionalen Quoten der nachgeholten Abschlüsse in Gruppe j größer sind als in Gruppe i (P N, j > P N, i ).Footnote 4

Der Beitrag nachgeholter Abschlüsse zur Veränderung des gesamten unkonditionalen Ungleichheitsniveaus kann jedoch nicht alleine aus den Befunden zu den konditionalen Ungleichheiten abgeleitet werden. Dies veranschaulicht ein Blick auf die Formel (3b). Selbst wenn unter denjenigen Schülern, die über kein Abitur verfügen, höhere Anteile der Gruppe i das Abitur nachholen als aus der Gruppe j (p Abi|¬Gym, i > p Abi|¬Gym, j ), ist es möglich, dass durch die nachgeholten Abschlüsse das gesamte (unkonditionale) Ungleichheitsniveau sinkt. Dies liegt daran, dass die Quote der nachgeholten Abschlüsse P N auch davon abhängt, wie groß der Anteil einer Gruppe ist, der noch nicht über den Abschluss verfügt (1– p Gym *p Abi|Gym ). Ist dieser Anteil beispielsweise in Gruppe j größer als in Gruppe i, kann es sein, dass der Term P N trotz niedrigerer konditionaler Nachholquote für die Gruppe j insgesamt größer ausfällt. In solchen Fällen würde man also beobachten, dass nachgeholte Abschlüsse dazu beitragen, die (unkonditionale) Ungleichheit zu verringern, während die konditionalen Chancen auf einen nachgeholten Abschluss zugunsten der bereits privilegierten Gruppe ausfallen.

Zusammenfassend hängt also die Veränderung der Ungleichheit in der Bestandsperspektive nicht nur von der konditionalen Ungleichheit beim Nachholen von Bildungsabschlüssen ab, sondern auch von den herkunftsspezifischen Gruppengrößen der Nachholer.

3 Bisherige Befundlage

Anhand der konzeptionellen Unterscheidung zwischen konditionaler und unkonditionaler Ungleichheit werden nun die bisherigen Befunde zur Entwicklung sozialer Ungleichheit über den Bildungsverlauf systematisch anhand der beschriebenen Unterscheidungen dargestellt und verglichen. Es werden nur Ergebnisse berücksichtigt, die sich auf Bildungswege zur Hochschulreife beziehen.

In der Studie von Henz (1997a) werden soziale Selektivitäten bei Schulformwechseln in der Sekundarstufe untersucht. Die Untersuchung bezieht sich somit auf konditionale Übergänge. Datengrundlage ist die GLHS, die eine Analyse verschiedener Geburtskohorten zwischen 1929 und 1961 ermöglicht. Es zeigt sich, dass ein Abitur im Elternhaus oder ein hoher Berufsstatus des Vaters mit signifikant höheren Chancen einhergehen, von der Realschule auf das Gymnasium zu wechseln. Umgekehrt erhöht eine niedrige Bildung der Eltern oder ein niedriger Berufsstatus des Vaters die Chancen eines Wechsels auf eine niedrigere Schulform.

Mit den gleichen Daten führt Henz (1997b) eine weitere Untersuchung durch, in der einerseits die Analysen zu den Schulformwechseln um Analysen zu nachgeholten Abschlüssen ergänzt werden und andererseits die Analysen der konditionalen Übergänge um Analysen zur Veränderung der Ungleichheit in der unkonditionalen Bestandsperspektive erweitert werden. Auch bei den konditionalen Chancen zum Erwerb eines nachgeholten Abschlusses zeigt sich ein positiver Zusammenhang mit der Bildung der Eltern. Hingegen findet sich bei der unkonditionalen Betrachtung, dass sowohl Schulformwechsel als auch nachgeholte Abschlüsse tendenziell dazu beitragen, dass sich die Bildungsungleichheit im Bildungsverlauf verringert. Allerdings ist das Ausmaß der Verringerung äußerst gering. Da keine formalen Signifikanztests präsentiert werden, bleibt unklar, inwieweit diese minimalen Veränderungen möglicherweise eher als konstante Ungleichheit aufgefasst werden sollten.

Hillmert und Jacob (2005b) betrachten die Entwicklung der Bildungsungleichheit über verschiedene institutionelle Etappen aus der unkonditionalen Bestandsperspektive. Ihre Analysen basieren auf der GLHS-West der Geburtsjahrgänge 1964 und 1971. Sie unterscheiden vier Stufen der Bildungslaufbahn: Übergang nach der Grundschule, erster Sekundarschulabschluss, Verlassen des Schulsystems und nachgeholte Abschlüsse. Im Gegensatz zu Henz (1997b) finden sie einen kontinuierlichen Anstieg der sozialen Ungleichheit zwischen Schülern, deren Eltern höchstens über den Hauptschulabschluss verfügen und Schülern, deren Eltern ein Abitur besitzen. Allerdings unterscheidet sich die Herangehensweise zur Bestimmung der Ungleichheit: Während Henz betrachtet, inwieweit sich die soziale Zusammensetzung am Gymnasium oder unter den Abiturienten über den Bildungsverlauf der Verteilung in der Gesamtpopulation annähert, berechnen Hillmert und Jacob die Chancen, das Gymnasium/Abitur anstelle der/des Hauptschule/Hauptschulabschlusses zu besuchen/erwerben. Es ist insgesamt unklar, welche Erkenntnisse auf Grundlage einer solchen Operationalisierung abgeleitet werden können, da die Entwicklung der Odds Ratios dann auch zusätzlich von den sich verändernden Hauptschulabschlussquoten abhängig ist (vgl. Formel 4). Ferner variiert die Untersuchungspopulation durch Wechsel in und aus der Realschule je nach betrachteter Bildungsetappe. Zudem werden keine Informationen zur statistischen Signifikanz der Ungleichheitsveränderungen präsentiert.

In der Betrachtung der Veränderung der Bestandsquoten über den Altersverlauf finden Hillmert und Jacob (2005a) auf Grundlage der GLHS-Kohorte 1964 ebenfalls einen Anstieg der Ungleichheit im Zugang zur höheren Sekundarbildung. Allerdings fällt die Zunahme etwas weniger drastisch aus als bei der oben beschriebenen Betrachtung der Ungleichheitsentwicklung über die Bildungsstufen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die dortige Kontrastierung der Hauptschul- und Gymnasialquoten extremere Werte produziert. Hillmert und Jacob untersuchen zudem die konditionalen Übergangsquoten in eine höhere Sekundarschule. Hierbei zeigt sich, dass die Ungleichheit der Übergangschancen über den Altersverlauf abnimmt, jedoch immer zugunsten der Schüler aus gebildeten Elternhäusern ausfällt. Auch in diesem Beitrag finden sich keine inferenzstatistischen Angaben.

In einem dritten Beitrag untersuchen Hillmert und Jacob (2010) ebenfalls auf Basis der GLHS-Kohorte 1964 die Veränderungen der Ungleichheit über den akademischen Bildungsweg, d. h. über verschiedene Bildungssequenzen, die zum Abitur und letztlich ins Studium führen. Rechnet man die abgedruckten Beteiligungsquoten in Bestandsgrößen-Chancenverhältnisse um, ergibt sich folgendes Bild: Die Ungleichheit vergrößert sich zunächst zwischen dem Bildungsübergang nach der Grundschule und dem Verlassen des Schulsystems – einerseits durch spätere Wechsel an das Gymnasium, andererseits durch Abgänge vom Gymnasium. Durch nachgeholte Abschlüsse sinkt die Ungleichheit wieder, bleibt jedoch über dem Niveau der Ungleichheit, das nach dem Übergang von der Grundschule zu beobachten ist. Bei der Betrachtung der konditionalen Übergangsraten zeigt sich hingegen, dass sich diese mit jeder weiteren Bildungssequenz verringern. Inferenzstatistiken werden nicht berichtet.

Glaesser (2008) untersucht auf Basis der LifE-Studie (Lebensverläufe ins frühe Erwachsenenalter) den Einfluss der Bildungsherkunft auf die Chancen des Schulformaufstiegs und –abstiegs. Hierbei vergleicht sie die im Alter von 15 Jahren besuchte Schulform mit dem höchsten erreichten Sekundarschulabschluss. Nach ihren Befunden sind die (konditionalen) Chancen eines Aufstiegs aus der Realschule für Kinder, deren Eltern über ein Abitur verfügen, höher als für Kinder, deren Eltern höchstens einen Hauptschulabschluss besitzen. Bei Abstiegen aus dem Gymnasium verhält sich das entsprechende Chancenverhältnis umgekehrt. Statistisch signifikante Koeffizienten ergeben sich nur, wenn im ersten Fall individuelle Merkmale, wie Schulnoten, Leistungsbereitschaft und die individuell eingeschätzte Begabung, konstant gehalten werden.

Die Untersuchung von Trautwein et al. (2011) basiert auf der TOSCA-10-Studie, in der die Bildungswege von Schülern der 10. Klassenstufe aus Gymnasien und Realschulen in Baden-Württemberg längsschnittlich weiterverfolgt wurden. Auch hier zeigt sich, dass die Chancen des (konditionalen) Übergangs von der Realschule in die gymnasiale Oberstufe für solche Schüler höher sind, deren Eltern über einen hohen Bildungsabschluss oder hohen sozioökonomischen Status verfügen. Die Autoren versuchen ferner zu bestimmen, wie diese Wechsel die Bestandsungleichheit des Gymnasialbesuchs verändern, indem sie die Ungleichheit unter den Gymnasiasten mit geradlinigem Bildungsweg mit der Ungleichheit aller Gymnasiasten (unter Einschluss der aus der Realschule rekrutierten Schüler) vergleichen. Sie finden heraus, dass das Ausmaß der Chancenungleichheit im letzteren Fall geringer ist, woraus sie schließen, dass die nach dem Realschulabschluss vollzogenen Wechsel in die gymnasialen Oberstufen zum Abbau der Ungleichheit beim Zugang zum Abitur beitragen. Die Verallgemeinerbarkeit der Befunde wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass sich die Stichprobe lediglich auf Realschüler und Gymnasiasten bezieht sowie nachgeholte Abschlüsse noch nicht in die Untersuchung einbezogen werden konnten.

Schindler (2014) untersucht anhand der BIBB-Übergangsstudie 2006 die Veränderung der Bestandsungleichheit beim Zugang zur Hochschulreife für Geburtskohorten aus den 1980er-Jahren. Es werden drei Bildungsetappen betrachtet: Übergang auf das Gymnasium nach der Grundschule, Hochschulreife als erster allgemeinbildender Abschluss und Hochschulreife als höchster allgemeinbildender Abschluss. Die Ungleichheit bleibt über die drei Etappen konstant, wenn man Dienstklassen- mit Arbeiterkindern vergleicht. Sie nimmt geringfügig ab, wenn man Kinder von Akademikern mit Kindern vergleicht, deren Eltern höchstens über einen Hauptschulabschluss verfügen. Eine deutliche Abnahme zeigt sich jedoch bei einer Gegenüberstellung der beiden Extremgruppen aus der Kombination von Bildungs- und Klassenhintergrund, wobei dieser Befund nicht über einen statistischen Signifikanztest abgesichert ist.

Tab. 1 Übersicht über bisherige Studien und Befunde

Fasst man die Befundlage aus den beschriebenen Studien zusammen (vgl. Tab. 1), ergeben sich folgende übereinstimmenden Muster: Erstens zeigen sich bei allen Studien, welche die konditionalen Ungleichheiten bei späteren Übergängen in höhere Bildungsgänge untersuchen, höhere Chancen für Schüler aus Elternhäusern mit höherer Schulbildung. Zweitens verringern sich diese konditionalen Ungleichheiten über den Alters- oder institutionellen Bildungsverlauf. Abweichende Befunde finden sich hingegen unter den Studien, welche die Entwicklung der Ungleichheit aus der unkonditionalen Bestandsperspektive betrachten. Während Hillmert und Jacob (2005a, b, 2010) zunehmende Trends der Ungleichheit berichten, finden sich in den Studien von Henz (1997b), Schindler (2014) und Trautwein et al. (2011) Anzeichen für konstante oder gar rückläufige Ungleichheitsentwicklungen über den Bildungsverlauf.

Damit stellt sich die naheliegende Frage, worauf diese abweichenden Befunde zurückgeführt werden können. Die genannten Studien unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, wie den zugrundeliegenden Daten, der betrachteten Kohorten und nicht zuletzt der gewählten Operationalisierungen. Eine uneindeutige Befundlage ist jedoch aus bildungspolitischer Sicht unbefriedigend. Daher werden nachfolgend die GLHS- und BIBB-Daten auf Basis vereinheitlichter Operationalisierungen reanalysiert und um neue Analysen der NEPS-Daten ergänzt. Da für jüngere Kohorten noch keine Analysen zu Ungleichheiten aus der konditionalen Übergangsperspektive vorliegen, werden zunächst entsprechende Ergebnisse auf Basis der BIBB-Daten vorgestellt, um zu prüfen, ob auch mit diesen neueren Daten das bisherige Befundmuster repliziert werden kann. Der Schwerpunkt der Analysen liegt jedoch auf der Betrachtung der Ungleichheiten aus der Bestandsperspektive. Es wird diskutiert, welche Faktoren die Abweichungen in den berichteten Befunden hervorrufen können.

4 Daten und Operationalisierung

4.1 Datengrundlagen

Die Deutsche Lebensverlaufsstudie (GLHS) besteht aus einer Reihe von retrospektiven Längsschnitterhebungen, die vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung durchgeführt wurden und umfangreiche Informationen zu individuellen Bildungs- und Erwerbsverläufen enthalten. Hieraus werden die Erhebungen zu den Geburtskohorten 1964 und 1971 herangezogen, die 1998 durch CAPI oder CATI-Interviews erhoben wurden (doi: 10.4232/1.3927). Damit wurden die Befragten in einem Alter von etwa 34 bzw. 27 Jahren interviewt. Die Stichprobe bezieht sich auf die westdeutsche Wohnbevölkerung und enthält Informationen zu 1474 (1964) und 1435 (1971) Personen (vgl. auch Mayer 2008).

Die Übergangsstudie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) folgt einem sehr ähnlichen Design (doi:10.4232/1.10099). Sie wurde ebenfalls als retrospektive Erhebung der Bildungs- und Erwerbskarriere konzipiert. Befragt wurde eine Stichprobe von Personen der Geburtsjahrgänge 1982–1988 mit Wohnsitz in Deutschland. Die Befragung fand 2006 statt, womit die Befragten im Alter von etwa 18–24 Jahren interviewt wurden. Der Datensatz enthält Informationen zu 7230 Personen (vgl. auch Beicht und Friedrich 2008). Um zu vermeiden, dass die Ergebnisse zu den Bildungsabschlüssen stark von Schülern beeinflusst werden, die sich noch in der Schulausbildung befinden, werden alle Personen von der Analyse ausgeschlossen, die zum Befragungszeitpunkt jünger als 20 Jahre waren. Dennoch sind die Befragten in der BIBB-Studie im Vergleich zur GLHS jünger, was zu einer Untererfassung nachgeholter Abschlüsse führen kann.Footnote 5 Da sich die Stichproben der GLHS- und BIBB-Daten zudem in ihrer geografischen Abdeckung unterscheiden, werden für letztere zusätzlich auf die alten Bundesländer (ohne Berlin) beschränkte Befunde berichtet.

Die Analysen werden jeweils ungewichtet durchgeführt. In den GLHS-Datensätzen wird aufgrund der Art und Weise der Stichprobenziehung kein Gewicht bereitgestellt. Auf Basis von Vergleichen der Randverteilungen mit der amtlichen Statistik ist aber zu erwarten, dass Personen mit höheren Bildungsabschlüssen oder in höheren Bildungsgängen überrepräsentiert sind. Im BIBB-Datensatz wird zwar eine Gewichtungsvariable bereitgestellt, die jedoch als problematisch betrachtet wird.Footnote 6 Analysen unter Verwendung des Gewichts haben entsprechend zu unplausiblen Ergebnissen geführt (vgl. Rohrbach-Schmidt 2010). Auf Basis von Abgleichen mit der amtlichen Statistik ist auch in den BIBB-Daten zu erwarten, dass die Bildungsbeteiligung in höheren Bildungsgängen überschätzt wird. Unter der Annahme, dass dieser Bildungsbias nicht sozialgruppenspezifisch variiert, sollte dies die Analysen zur Entwicklung der Ungleichheit im Bildungsverlauf nicht maßgeblich beeinflussen.

Als weitere Ergänzung werden Analysen mit den NEPS-Daten der Startkohorte 6 präsentiert. Diese basieren auf einer Stichprobe von Personen, die zwischen 1944 und 1986 geboren und seit 2007 in mittlerweile drei Wellen befragt wurden.Footnote 7 Aus diesen Daten wurden analog zu den anderen Datensätzen die entsprechenden Bildungsverläufe rekonstruiert. Damit erlauben die NEPS-Daten einen Vergleich verschiedener Geburtskohorten, welche sich mit den Zeiträumen der beiden anderen Datensätze überschneiden und dabei nicht von den genannten Problemen der Vergleichbarkeit betroffen sind. Um jedoch ausreichend fallzahlstarke Kohorten analysieren zu können, müssen jeweils mehrere Geburtsjahrgänge zusammengefasst werden. Berichtet werden die Analysen der Kohorten 1945–1954, 1955–1964, 1965–1974, 1975–1985 jeweils unter Verwendung eines Designgewichts und unter Ausschluss von Befragten, die bei der letzten Befragung jünger als 27 Jahre alt waren. Aus Gründen der Vergleichbarkeit werden die Analysen wieder auf Westdeutschland beschränkt.Footnote 8

In allen Datensätzen werden Personen mit fehlenden Werten auf mindestens einer Modellvariablen sowie Schüler von Sonderschulen oder Schüler, die einen Abschluss an ausländischen Schulen erworben haben, von den Analysen ausgeschlossen. Die Fallzahlen der jeweiligen Datenzuschnitte werden in den Tabellen berichtet.

4.2 Variablen

Mit Ausnahme der Studien von Schindler (2014) und Trautwein et al. (2011) wird die soziale Herkunft in den oben beschriebenen Studien immer anhand des Bildungsniveaus der Eltern operationalisiert. Aus Gründen der Vergleichbarkeit wird nachfolgend ebenfalls das Chancenverhältnis zwischen Schülern, deren Eltern höchstens einen Hauptschulabschluss besitzen und Schülern mit mindestens einem Elternteil mit Hochschulreife betrachtet.

Die abhängigen Variablen beziehen sich auf verschiedene Etappen der Bildungskarriere in der Sekundarbildung. In Anlehnung an die referierten Studien richtet sich der Blick hierbei auf das Erreichen der Hochschulreife (inklusive Fachhochschulreife). Unterschieden werden folgende Etappen: Erste weiterführende Schulform nach der Grundschule (oder Orientierungsstufe), erster allgemeinbildender Abschluss, höchster Abschluss bei Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems und höchster insgesamt erreichter Sekundarabschluss. Für jede dieser Etappen wird eine dichotome Variable gebildet, die anzeigt, ob eine Hochschulreife erreicht wurde. In der ersten Etappe bezieht sich diese Variable entsprechend darauf, ob eine Schulform besucht wurde, die direkt zur Hochschulreife führt (allgemeinbildende Gymnasien). Problematisch ist hierbei die Kodierung der Gesamtschulen, da diese auch zur Hochschulreife führen können, jedoch ebenso als Ersatz für Haupt- oder Realschulen in Anspruch genommen werden. Aus diesem Grund wird die erste Etappe bei den Analysen aus der Bestandsperspektive in zwei Varianten betrachtet. In der ersten Variante werden Gesamtschulen als zur Hochschulreife führende Schulformen kodiert, in der zweiten Variante nicht.

5 Analysen

Dieser Abschnitt widmet sich zunächst den Befunden zu konditionalen Ungleichheiten auf Basis der neueren Datensätze, bevor die Untersuchungen zu Ungleichheitsverläufen in der Bestandsperspektive vorgestellt werden. Aus Platzgründen werden einige Analysen nur berichtet, aber nicht abgebildet.Footnote 9

5.1 Analysen zur Ungleichheit in den konditionalen Bildungsübergängen

Den Analysen zur Ungleichheit in den konditionalen Bildungsübergängen liegen die Daten der BIBB-Übergangsstudie 2006 für Gesamtdeutschland zugrunde. Sie beziehen sich auf Schüler, die zu Beginn der 1980er-Jahre geboren wurden. In den oberen beiden Bereichen der Abb. 1 sind für jede Bildungsetappe die konditionalen Quoten der erreichten Hochschulzugangsberechtigungen (HZB) getrennt nach der Bildungsherkunft dargestellt. Die Quoten werden also jeweils ausschließlich für Schüler berechnet, die zu Beginn der Etappe noch keine Hochschulreife erreicht hatten. Wie der Abbildung zu entnehmen ist, sind die Hochschulberechtigtenquoten durchweg in allen Etappen für diejenigen Schüler höher, deren Eltern selbst über die Hochschulreife verfügen. Dies spiegelt sich auch im unteren Abschnitt des Schaubilds wider, in dem die jeweiligen Quoten der beiden Herkunftsgruppen in Odds Ratios umgerechnet wurden. In der oberen Teilgrafik dieses Abschnitts werden die Bildungspfade danach abgegrenzt, ob nach dem ersten Übergang ein Gymnasium besucht wurde oder nicht. In der unteren Teilgrafik des Abschnitts werden ausschließlich die Abschlüsse betrachtet.

Abb. 1
figure 1

Konditionale Quoten der Hochschulreife nach sozialer Herkunft und Odds Ratios im Bildungsverlauf.

Es zeigt sich folgender Befund: In allen Teilpopulationen der Schüler, die noch nicht über die Hochschulreife verfügen, sind die Chancen, diese zu erreichen, für Schüler aus den höher gebildeten Elternhäusern höher als für Schüler aus den niedriger gebildeten Elternhäusern. An der unteren Teilgrafik lässt sich erkennen, dass sich diese konditionalen Chancenverhältnisse über den Bildungsverlauf hinweg verringern. Damit decken sich diese Ergebnisse auf Basis der neueren BIBB-Daten mit den Mustern, die auch die bisherigen Studien zu Tage gefördert haben: Betrachtet man die Allokationsprozesse unter den Populationen, die noch nicht über die Hochschulreife verfügen, fallen die Chancenverhältnisse stets zugunsten der Schüler privilegierter sozialer Herkunft aus. Wie oben gezeigt wurde, können aus den Befunden zu den konditionalen Übergängen keine Rückschlüsse auf die Entwicklung der Ungleichheit in der Bestandsperspektive abgeleitet werden, da diese nur einen Teilaspekt des ungleichheitsgenerierenden Prozesses beschreiben. Die Veränderungen der Bestandsungleichheit über den Bildungsverlauf sind daher Gegenstand der folgenden Analysen.

5.2 Analysen zur Ungleichheit aus der Bestandsperspektive

Im oberen Teil der Tab. 2 sind die unkonditionalen Gymnasial- oder Hochschulberechtigtenquoten über die verschiedenen Bildungsetappen für die GLHS- und BIBB-Kohorten aufgeführt. Zudem sind die entsprechenden Quoten getrennt nach den beiden Kategorien sozialer Herkunft abgebildet. Beispielsweise besuchen von allen 1964 geborenen Kindern zunächst 32 % eine Schule, die direkt zum Abitur führt (28 %, wenn man die Gesamtschulen nicht als solche Schulen wertet), 22 % erwerben als ersten Abschluss eine Hochschulreife, 26 % verlassen das allgemeinbildende Schulsystem mit einer Hochschulreife und 32 % weisen letztendlich eine Hochschulreife als höchsten Abschluss auf. Die Werte in Klammern geben zudem die entsprechenden Zahlen nur für die allgemeine Hochschulreife an.

Tab. 2 Schüleranteile in zur Hochschulreife führenden Schulen sowie Hochschulberechtigtenquoten nach verschiedenen Bildungsetappen, nach Geburtskohorte und Bildung der Eltern

Ein Abgleich der Werte für die Gesamtkohorten mit der amtlichen Statistik deutet wie erwartet auf eine Überschätzung der Quoten in allen drei Datensätzen hin. Im unteren Teil der Tabelle sind die entsprechenden Werte für die NEPS-Kohorten abgebildet, wobei die Quoten tendenziell etwas niedriger liegen als in den anderen Datensätzen.

Aus der Tabelle lassen sich folgende allgemeine Entwicklungen ablesen. Erstens nehmen die Beteiligungsquoten in jeder Etappe über die Kohorten zu. Dies spiegelt schlicht den andauernden Prozess der Bildungsexpansion wider. Zweitens zeigt sich innerhalb jeder Kohorte ein ähnliches Muster über den Bildungsverlauf: Die Hochschulberechtigtenquoten liegen beim ersten Sekundarabschluss deutlich und beim höchsten Sekundarabschluss im allgemeinbildenden Schulsystem geringfügig unter den Übergangsquoten auf das Gymnasium. Dies bedeutet, dass Abstiege vom Gymnasium häufiger vorkommen als Schulformwechsel auf das Gymnasium. Allerdings liegen die unter Berücksichtigung der nachgeholten Abschlüsse letztlich erreichten Hochschulberechtigtenquoten in jeder Kohorte über den Übergangsquoten auf das Gymnasium. Schulformabstiege vom Gymnasium werden durch nachgeholte Studienberechtigungen demnach überkompensiert.

Zur Berechnung der Entwicklung sozialer Ungleichheit über den Bildungsverlauf werden aus den abgebildeten Quoten der sozialen Herkunftsgruppen nun Chancenverhältnisse nach Formel (4) gebildet. Diese sind in den folgenden Abbildungen dargestellt. Zur Bewertung der Veränderungen über den Bildungsverlauf enthalten die Schaubilder jeweils zusätzlich die 95 %-Konfidenzintervalle.Footnote 10

Abb. 2
figure 2

Besuch zur Hochschulreife führender Schulen und Erwerb der Hochschulreife im Bildungsverlauf, Odds-Ratios zwischen Schülern aus niedrig und hoch gebildeten Familien.

In Abb. 2 wird die Entwicklung der Ungleichheit anhand der Gegenüberstellung der beiden Kategorien der Bildungsherkunft dargestellt. Es lassen sich zunächst folgende Beobachtungen festhalten: Erstens nimmt das Niveau der Bildungsungleichheit insgesamt über die drei Kohorten ab. Dieser Befund ist bereits aus einer Vielzahl von Studien bekannt (z. B. Klein et al. 2009; Müller und Haun 1994). Zweitens scheint der Einbezug der neuen Bundesländer in den BIBB-Daten gegenüber einer Beschränkung auf die westdeutschen Länder keinen gravierenden Unterschied zu machen. Drittens unterscheidet sich mit Ausnahme der 1971er-Kohorte die Ungleichheit in der ersten Etappe kaum in Abhängigkeit davon, ob man die Gesamtschule als zur Hochschulreife führende Schule betrachtet oder nicht.Footnote 11

Das eigentliche Interesse gilt jedoch der Entwicklung der Ungleichheit über den Bildungsverlauf. Hierbei zeigt sich lediglich in der Kohorte der 1964 Geborenen, dass die Ungleichheit zunimmt. Dies ist in erster Linie auf den Anstieg zwischen dem ersten Übergang und dem ersten Sekundarabschluss zurückzuführen. Demgegenüber findet sich für die beiden anderen Kohorten eher ein Trend des Ungleichheitsrückgangs. Allerdings sieht man an den überlappenden Konfidenzintervallen, dass in jeder Kohorte diese Trendaussagen nur unter sehr hoher statistischer Unsicherheit gemacht werden können. Insbesondere in den GLHS-Daten sind die Konfidenzintervalle aufgrund der relativ geringen Fallzahlen sehr weit.

Wie verhalten sich diese Befunde nun zu den oben geschilderten Studien? Die Analyse von Hillmert und Jacob (2010) auf Grundlage der GLHS-Kohorte 1964 ergibt ein identisches Muster des Verlaufs der Odds Ratios. Allerdings werden dort keine Informationen zur statistischen Signifikanz der Werte bereitgestellt. Da es sich um dieselben Daten handelt, ist anzunehmen, dass die Konfidenzintervalle ähnlich weit ausfallen und dort getroffenen Aussagen zum Trendverlauf nicht statistisch abgesichert sind. Zur Kohorte 1971 existiert keine isolierte Studie, die Aussagen über die Entwicklung der Ungleichheit im Lebensverlauf trifft. Lediglich die Studie von Hillmert und Jacob (2005b) enthält gepoolte Analysen der 1964er- und 1971er-Kohorten. Dort wird ein kontinuierlicher Anstieg der Ungleichheit festgestellt. Wie oben beschrieben, wird dort als abhängige Variable nicht die Abiturientenquote, sondern das Verhältnis zwischen Abiturienten- und Hauptschulabschlussquote betrachtet. Inhaltlich ist diese Studie daher nicht vergleichbar mit den hier durchgeführten Analysen und es ist auch nicht ersichtlich, inwieweit die dort festgestellten Ergebnisse eventuell durch die 1964er-Kohorte getrieben sein könnten.Footnote 12 Die Analysen zur 1980er-Kohorte decken sich weitgehend mit den Befunden von Schindler (2014), obwohl die Operationalisierungen etwas unterschiedlich sind. Insgesamt zeigen die durchgeführten Replikationen in der Tendenz also ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den wenigen bisher durchgeführten Studien zur Entwicklung der Bestandsungleichheit im Bildungsverlauf. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch auch, dass die bisher identifizierten Trends nicht auf statistisch eindeutig abgesicherten Befunden beruhen.

Abb. 3
figure 3

Replikation der Analyse aus Abb. 2 mit NEPS-Daten.

In Abb. 3 werden analoge Analysen auf Basis der NEPS-Daten präsentiert. Aufgrund zu kleiner Fallzahlen ist es nicht möglich, die Kohorten identisch zu den GLHS-Daten zuzuschneiden. Selbst durch eine Gruppierung von jeweils zehn Jahrgängen weisen auch hier die Schätzer ein hohes Maß an Unsicherheit auf, wie sich an den breiten und jeweils überlappenden Konfidenzintervallen erkennen lässt. Dennoch zeigt sich auch in den NEPS-Daten in der Tendenz für die meisten Kohorten eher eine Abnahme der Ungleichheit. Lediglich für die Kohorte 1965–1974 steigt das Odds Ratio im Bildungsverlauf an. Damit erscheint auch in den NEPS-Daten das Muster ansteigender Ungleichheit eher als Ausnahme denn als Norm, wobei dies im Vergleich zu den GLHS-Daten für etwas spätere Kohorten auftritt.

Zusammengenommen lässt sich als inhaltliches Ergebnis festhalten, dass die weit verbreitete und oftmals pauschal vorgetragene Ansicht, die Ungleichheit nehme über den Bildungsverlauf zu, weder anhand der oben diskutierten bisherigen Forschungsliteratur noch auf Basis der hier präsentierten Analysen haltbar ist, wenn die Bildungsungleichheit aus der Bestandsperspektive betrachtet wird. Diese Ansicht scheint hauptsächlich auf den Analysen der GLHS-Kohorte 1964 zu beruhen. In Verbindung mit den Ergebnissen der NEPS-Analysen drängt sich eher der Verdacht auf, dass sich eine Zunahme der Ungleichheit über den Bildungsverlauf auf Kohorten konzentriert, die etwa Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre geboren wurden. Für alle anderen untersuchten Kohorten ergeben sich eher konstante oder gar abnehmende Ungleichheitsverläufe. Statistisch abgesicherte Aussagen sind jedoch in keinem der Fälle möglich.

5.3 Sensitivitätsanalysen

Als weitere Kontrollen zur Robustheit der obigen Befunde werden drei Sensitivitätsanalysen besprochen. Diese beinhalten eine Veränderung der anhängigen Variablen, alternative Konzepte der sozialen Herkunft sowie gepoolte Analysen der verschiedenen Datensätze.

5.3.1 Allgemeine Hochschulreife als abhängige Variable

In der ersten Sensitivitätsanalyse wird die Kodierung der abhängigen Variable verändert. Diese bezog sich in der obigen Variante auf den Zugang zur Hochschulreife, wobei darunter auch die Fachhochschulreife gefasst wurde. Es stellt sich die Frage, ob ähnliche Entwicklungen auch festgestellt werden können, wenn man lediglich den Zugang zur allgemeinen Hochschulreife betrachtet. Inhaltlich wäre zu erwarten, dass sich im Zuge der Bildungsexpansion soziale Selektivitäten hinsichtlich der Art der Hochschulreife herausgebildet haben, wenn zunehmend mehr Schüler eine Studienberechtigung erreichen (für empirische Hinweise vgl. Schindler 2014). Daher sollte vor allem der Zugang zur allgemeinen Hochschulreife eine relevante Dimension sozialer Ungleichheit sein.

Abb. 4
figure 4

Sensitivitätsanalyse, Ungleichheit beim Erwerb der allgemeinen Hochschulreife.

In Abb. 4 ist zu erkennen, dass über die Kohorten das Niveau der Ungleichheit auch beim Zugang zur allgemeinen Hochschulreife abnimmt. Auch die Verlaufsmuster der Ungleichheit innerhalb der Kohorten unterscheiden sich so gut wie nicht von den Befunden aus Abb. 2. Gleiches gilt für entsprechende Analysen auf Basis der NEPS-Daten. Die Ergebnisse erscheinen also robust – unabhängig davon, ob man die Fachhochschulreife miteinbezieht oder nicht.

5.3.2 Alternative Operationalisierung der sozialen Herkunft

In der zweiten Sensitivitätsanalyse wird die Operationalisierung der sozialen Herkunft variiert. Statt der Bildung der Eltern wird in vielen Studien zur Bildungsungleichheit ein berufsbasiertes Maß der sozialen Herkunft verwendet. Entsprechende Analysen unter Verwendung der EGP-Klassen (vgl. Erikson et al. 1979), in denen Schüler mit Eltern aus den Dienstklassen und Schüler mit Eltern aus den Arbeiterklassen verglichen werden, ergeben jedoch keine signifikanten Veränderungen der Ungleichheit im Bildungsverlauf. Allenfalls in den NEPS-Daten zeigen sich nicht-signifikante Ungleichheitsreduktionen für die beiden ältesten Kohorten (s. Online-Anhang). Da bei Schindler (2014) die deutlichste Abnahme der Ungleichheit für eine Kombination aus Bildungs- und Klassenherkunft festgestellt wurde, soll auch diese Variante überprüft werden. Verglichen werden einerseits Schüler mit mindestens einem Elternteil in einem Dienstklassenberuf und mindestens einem Elternteil mit Hochschulabschluss und andererseits Schüler, deren Eltern maximal über den Hauptschulabschluss verfügen und Arbeiterberufe ausüben. Die Befunde sind in Abb. 5 dargestellt.

Abb. 5
figure 5

Sensitivitätsanalyse, Bildung/EGP-Klassen-Kombination als Maß der sozialen Herkunft.

Bei diesem Extremgruppenvergleich sind die Ungleichheiten insgesamt ausgeprägter als bei den zuvor präsentierten Vergleichen. Ein abnehmender Trend zwischen Gymnasialbesuch und höchstem Abschluss zeigt sich auch hier in den BIBB-Daten, wobei in den GLHS-Daten eher konstante Verläufe zu beobachten sind. Durch den sehr spezifischen Zuschnitt der sozialen Herkunftsgruppen werden die Fallzahlen innerhalb der beiden Vergleichsgruppen sehr klein. Dies führt zu sehr weiten Konfidenzintervallen, die sich in allen Fällen überlappen, womit der in den BIBB-Daten festgestellte Trend nicht statistisch abgesichert ist.

5.3.3 Gepoolte Analysen verschiedener Datensätze

Obwohl für einige der untersuchten Kohorten Trends in den Ungleichheitsverläufen ausgemacht werden konnten, waren diese stets mit großer statistischer Unsicherheit behaftet. Eine Möglichkeit, durch größere Fallzahlen die Standardfehler zu verringern, besteht im Zusammenfassen ähnlicher Geburtsjahrgänge aus verschiedenen Datensätzen. Mögliche Überlappungen ergeben sich zwischen den GLHS- und NEPS-Daten einerseits und den BIBB- und NEPS-Daten andererseits. Die erste Variante erbringt jedoch aufgrund der geringen Jahrgangsgrößen im NEPS keine maßgebliche Erweiterung der GLHS-Kohorten. Eine Zusammenfassung mehrerer Geburtskohorten führt hingegen aufgrund der Einzeljahrgänge der GLHS zu stichprobentechnischen Problemen in einer gepoolten Analyse. Verschiedene Szenarien solcher Analysen konnten in keinem Fall statistisch signifikante Veränderungen der Ungleichheit zu Tage fördern. Die Jahrgänge 1980-1986 aus den BIBB- und NEPS-Daten eignen sich eher für eine gepoolte Analyse. Bei der Berechnung der Odds-Ratios wird nun zusätzlich eine Variable für den Datensatz in die Modelle aufgenommen. Bei der Berechnung der Standardfehler wird die Clusterung nach Datensätzen berücksichtigt. Abbildung 6 bezieht sich wieder auf einen Vergleich von Schülern mit hoch (Hochschulreife) und niedrig (maximal Hauptschulabschluss) gebildeten Eltern und weist die Ergebnisse getrennt für West- und Gesamtdeutschland aus.

Abb. 6
figure 6

Sensitivitätsanalyse, gepoolte BIBB/NEPS-Daten.

Zusätzlich zu den gepoolten Analysen sind in der Abbildung auch die Ungleichheitsverläufe auf Basis der einzelnen Datensätze dargestellt. Hierdurch wird ein Problem solcher gepoolter Analysen deutlich: Die Werte variieren in den frühen Bildungsetappen stark zischen den Datensätzen, was wiederum zu großen Konfidenzintervallen führt. In der gesamtdeutschen Analyse liegen die beiden Datensätze beim höchsten erreichten Abschluss jedoch sehr nahe beieinander. Das entsprechende Odds Ratio liegt signifikant (auf dem 95 %-Niveau) unterhalb der Odds Ratios der beiden vorangegangenen Etappen. Ferner überlappt dessen Konfidenzintervall nur minimal mit dem Konfidenzintervall des Odds Ratios beim Gymnasialbesuch als erster weiterführenden Schule (GS = 0). Aufgrund dieser Analyse könnte man tatsächlich von einer Abnahme der Ungleichheit über den Bildungsverlauf ausgehen.

6 Zusammenfassung und Diskussion

In der deutschen Bildungssoziologie scheint eine allgemein akzeptierte Vorstellung vorzuherrschen, wonach soziale Bildungsungleichheiten über den Lebens- oder Bildungsverlauf zunehmen. Eine bloße Durchsicht der bisher erschienenen Studien in diesem Bereich legt aber offen, dass diese Vorstellung, zumindest in der Pauschalität, in der sie oftmals wiedergegeben wird, keineswegs einen etablierten und fundierten Forschungsstand widerspiegelt. Dass sich dennoch so etwas wie ein allgemein anerkannter Wissensstand in dieser Frage herausgebildet hat, der gleichermaßen in Fachpublikationen und Lehrbüchern kommuniziert wird, mag wahrscheinlich hauptsächlich an begrifflicher Unschärfe bei der Wiedergabe der Befundlage liegen. Dabei sind die Autoren der bisher vorliegenden Studien selbst sehr präzise bei der Beschreibung dessen, was sie im Einzelnen untersuchen. Ein wesentliches Problem bei der Rezeption der bisherigen Befunde mag darin bestehen, dass oftmals eine zentrale konzeptionelle Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung zwischen der Ungleichheit in den konditionalen Übergangsquoten und der Ungleichheit als unkonditionaler Bestandsgröße am jeweiligen Ende sukzessiver Bildungsetappen, nicht explizit gemacht wird. Es ergibt sich im ersteren Fall tatsächlich eine etablierte und unstrittige Befundlage: Beschäftigt man sich mit den konditionalen Übergangsquoten, dann deuten alle Analysen darauf hin, dass bei nachgeholten oder über den zweiten Bildungsweg erworbenen Hochschulzugangsberechtigungen soziale Ungleichheiten zugunsten der bereits privilegierten sozialen Gruppen bestehen.

Was bedeutet dieser Befund? Bei der Betrachtung konditionaler Ungleichheiten in den Nachholquoten von Abschlüssen setzt man sich mit den sozial selektiven Allokationsprozessen einer bestimmten Teilpopulation auseinander. Man fragt danach, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass innerhalb dieser Teilpopulation manche Schülergruppen häufiger den jeweiligen Abschluss erwerben als andere. Diese Faktoren lassen sich in der Regel auf systematische Unterschiede in der Zusammensetzung oder den Eigenschaften dieser Gruppen zurückführen. Erkenntnisse hierüber sind dann im Prinzip dazu geeignet, bildungspolitische Maßnahmen zu fundieren. Die Ergebnisse zu den konditionalen Übergangsquoten dokumentieren, dass unabhängig von der konkreten Bildungsetappe soziale Kräfte wirken, durch die Schüler aus den privilegierten Familien immer vergleichsweise häufiger in den höheren Bildungsalternativen landen. Als theoretisches Argument für deren höhere Nachholquoten werden oft Motive zur Statusreproduktion angeführt, die entsprechend aus den allgemeinen Entscheidungsmodellen der Ungleichheitsforschung abgeleitet werden (z. B. Breen und Goldthorpe 1997): Während der nachgeholte Abschluss hier für die Reproduktion des elterlichen Status als notwendig erachtet wird, besteht diese Notwendigkeit nicht in den weniger privilegierten Gruppen. Dies generiert gruppenspezifische Anreizstrukturen.

Während solche Erklärungsansätze für die zentralen Bildungsübergänge von der Grundschule in die weiterführenden Schulen (z. B. Stocké 2007) oder von der Hochschulreife in die Hochschule (z. B. Lörz 2012) bereits empirisch untersucht wurden, finden sich kaum Studien, welche in gleicher Weise die Annahmen zu sozialen Mechanismen bei nachgeholten Abschlüssen testen. Dies wäre ein folgerichtiger nächster Schritt in der Bildungsverlaufsforschung, um Erkenntnisse bereitzustellen, warum auch bei solchen indirekten Bildungspfaden ausgeprägte soziale Selektivitäten auftreten. Dies wird insbesondere auch aus bildungspolitischer Perspektive relevant, wenn das Bildungssystem zunehmend differenzierter wird und die nicht geradlinigen Bildungswege an Bedeutung gewinnen. Erkenntnisse zu sozialen Selektivitäten in den Allokationsmechanismen können dazu beitragen, Interventionsmaßnahmen effektiv zu gestalten.

Dass bei der konditionalen Betrachtung nachgeholter Abschlüsse ein eindeutiges Muster sozialer Selektivität auftritt, bedeutet jedoch nicht, dass die bestehenden Möglichkeiten zum Nachholen der Hochschulreife faktisch dazu beitragen, dass sich das Ausmaß der Ungleichheit über den Bildungsverlauf insgesamt verstärkt. Die Ausführungen im konzeptionellen Teil dieses Artikel haben veranschaulicht, dass dies immer auch davon abhängt, wie groß der Anteil einer bestimmten sozialen Herkunftsgruppe ist, der überhaupt noch vor der Entscheidung steht, einen Bildungsabschluss nachzuholen. Weder die Auseinandersetzung mit den bisherigen Studien noch die hier präsentierten Analysen haben belastbare Hinweise dafür geliefert, dass sich die Ungleichheit auch in der Bestandsperspektive pauschal im Bildungsverlauf vergrößert. Eine leicht ansteigende Tendenz kann lediglich für die zwischen Mitte der 1960er- und Mitte der 1970er-Jahre geborenen Kohorten beobachtet werden, während sich sowohl für ältere als auch für jüngere Kohorten eher eine leicht abnehmende Tendenz andeutet. Allerdings sind mit den bisher verfügbaren Daten keine statistisch abgesicherten Aussagen zu den Ungleichheitstrends über den Bildungsverlauf möglich.

Wie ist nun diese Befundlage zu den unkonditionalen Analysen einzuordnen? Bei der Betrachtung der Ungleichheit im Bildungsverlauf aus der Bestandsperspektive setzt man sich mit dem Beitrag auseinander, den bestimmte institutionelle Komponenten des Bildungssystems zum Auf- oder Abbau der Bildungsungleichheit insgesamt leisten. Man fragt danach, ob die Eröffnung von Möglichkeiten zum Nachholen von Abschlüssen unter dem Strich dazu beiträgt, dass das Ausmaß der Ungleichheit korrigiert wird. Im Gegensatz zur konditionalen Perspektive ist man hier nicht an den Prozessen interessiert, welche die Ungleichheiten punktuell generieren, sondern an den Resultaten. Hierbei geht es also nicht um das Wie und Warum, sondern um das Ob. Eine vorsichtige Interpretation der (nicht-signifikanten) Ungleichheitsverläufe in den verschiedenen Kohorten könnte auf folgenden Gedanken basieren: Eine Zunahme der Ungleichheit ist, wenn überhaupt, dann für jene Geburtsjahrgänge zu verzeichnen, die sich während der Implementierungsphase der Bildungsreformen ab den 1970er-Jahren im Schulsystem befanden. Möglicherweise profitieren Schüler privilegierter Herkunft in solchen Phasen tatsächlich mehr von neu eingerichteten Institutionen, wohingegen mit deren zunehmender Etablierung wieder eher die Schüler aus weniger privilegierter Herkunft die Möglichkeiten zum Nachholen von Bildungsabschlüssen in Anspruch nehmen. Aber auch ein strukturelles Argument spricht dafür, dass die Ungleichheit beim Zugang zur Hochschulreife in den jüngsten Kohorten über den Bildungsverlauf abnimmt. Eine Studienberechtigung wurde gerade für diese Jahrgänge eine immer wichtigere Voraussetzung beim Zugang zum Berufsausbildungsmarkt, was insbesondere die Anreize zum Nachholen der Hochschulreife für die Schüler aus niedrig gebildeten Elternhäusern erhöht hat (vgl. hierzu ausführlich Schindler 2014). Weiterführende Analysen deuten an, dass die konditionalen Nachholquoten (p Abi|¬Gym nach Formel 3b) in der jüngsten Kohorte speziell für diese Gruppe stark angestiegen sind (vgl. Online-Anhang). Dies hat wesentlich zur Umkehrung des Verlaufsmusters der Ungleichheit beigetragen.