Evidenzbasierte Therapieleitlinien gewinnen in allen Bereichen der Medizin immer größere Bedeutung. Die höchste Evidenz wird randomisierten, kontrollierten Studien (RCT) zuerkannt. Die Anwendbarkeit von evidenzbasierten Therapieleitlinien auf Patienten der klinischen Routineversorgung ist jedoch aus folgenden Gründen eingeschränkt:

  • Die Auswahl der in RCT auf ihre Wirksamkeit überprüften Verfahren wird bestimmt durch kommerzielle (z. B. Finanzierung von Medikamentenstudien durch die Produkthersteller) oder akademische Interessen (z. B. Durchführung von Psychotherapiestudien durch Lehrstuhlinhaber oder Ausbilder eines psychotherapeutischen Verfahrens). Es ist daher möglich, dass in der Routineversorgung häufig angewendete Therapieverfahren ohne Aussicht auf finanziellen und/oder akademischen Gewinn nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Beim Fibromyalgiesyndrom (FMS) weisen Befragungen von FMS-Patienten deutscher klinischer Einrichtungen [7, 17] und Analysen von Krankenkassendaten [16] darauf hin, dass zahlreiche Therapieverfahren, z. B. aus dem Bereich der Komplementär- und Alternativmedizin [“complementary and alternative medicine“ (CAM)], eingesetzt werden, deren Wirksamkeit nicht durch Studien überprüft ist und/oder die in der S3-Leitlinie zum FMS [8] nicht erwähnt werden. Eine Studie zur Häufigkeit von beim FMS eingesetzten medikamentösen und nichtmedikamentösen Verfahren mit Patienten aller Versorgungsstufen wurde unseres Wissens bisher in Deutschland nicht durchgeführt.

  • Die externe Validität von RCT ist eingeschränkt. In RCT zur Therapie des FMS wurden häufige komorbide Störungen (psychische Störungen, entzündlich-rheumatische Erkrankungen) ausgeschlossen. Die Studien wurden in Studienzentren durchgeführt (spezialisierte Praxen, Universitätsambulanzen; [2, 9, 11]).

Der Psychologe Seligman [20] forderte in Zusammenhang mit dem Bericht zur Wirksamkeit von Psychotherapie der Konsumentenzeitschrift Consumer Reports, dass RCT um andere Methoden ergänzt werden müssen, um die Wirksamkeit von Therapieverfahren unter Alltagsbedingungen zu untersuchen. Studien zur Wirksamkeit von Therapieverfahren außerhalb des Rahmens kontrollierter Studien werden unter dem Oberbegriff „effectiveness research“ zusammengefasst. Verschiedene Methoden werden dabei eingesetzt, z. B. ein retrospektives Katamnesedesign [5] oder die Befragung von Patienten nach Nutzen (positive Effekte) und Schaden (Nebenwirkungen), sog. „consumer reports“ [20]. Verbraucherberichte werden mithilfe von Fragebögen durchgeführt, die von Organisationen verschickt oder Patienten- bzw. Verbraucherzeitschriften beigelegt werden und/oder auf Internetseiten zugänglich sind [4, 20].

Unseres Wissens wurden Verbraucherberichte zum FMS bisher nur bei englischsprachigen Patienten erstellt, oder sie sind im Internet nur für englischsprachige Patienten zugänglich. In einer Internetbefragung der US-amerikanischen National Fibromyalgia Association (NFA) beantworteten 2596 FMS-Betroffene auch Fragen zur Häufigkeit und Wirksamkeit von medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungen des FMS. Mögliche Schäden (Nebenwirkungen) von Therapien wurden nicht erfragt [1]. Auf der englischsprachigen Onlineplattform PatientsLikeMe können Patienten die Wirksamkeit und Nebenwirkungen medikamentöser Behandlungen des FMS beurteilen. Auf der Seite der Fibromyalgia Community sind >15.000 FMS-Betroffene registriert. Es finden sich Angaben von bis zu 1920 Patienten zu Medikamenten. Die Betreiber der kommerziellen Plattform werden von US-amerikanischen pharmazeutischen Firmen unterstützt [18].

Der erste europäische FMS-Verbraucherbericht wurde durchgeführt, um die Häufigkeit der Verwendung sowie die Wirksamkeit und den Schaden von beim FMS eingesetzten medikamentösen und nichtmedikamentösen Therapieverfahren aus der Erfahrung von FMS-Betroffenen zu erfassen.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Fragebögen

Wir übernahmen die Fragen zu demographischen Daten (Alter, Geschlecht, Lebensform, Schulabschluss, aktueller Berufsstatus, Mitglied einer FMS-Selbsthilfeorgansisation) und medizinischen Daten [Dauer seit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen und Diagnose eines FMS, Begleiterkrankungen (entzündlich-rheumatische Erkrankung)] einer früheren multizentrischen Studie an FMS-Patienten [12].

Ein Fragebogen zur Erfassung von Nutzen und Schaden verschiedener Therapieverfahren beim FMS aus Sicht der Betroffenen wurde von den an der Studie interessierten Leitern der klinischen Einrichtungen und von den Vorständen der Deutschen Rheuma-Liga sowie der Deutschen Fibromyalgie-Vereinigung (DFV) entwickelt. Der Fragebogen der NFA [1] diente als Orientierung. Die zu bewertenden Therapieverfahren wurden wie folgt ausgewählt: in der deutschen S3-Leitlinie zum FMS erwähnt [8] und/oder von den Autoren und/oder nach Ansicht der Patientenvertreter häufig eingesetzt. Diese Verfahren wurden im Fragebogen in folgende Abschnitte gegliedert: eigenständige Aktivitäten inklusive Trainingstherapien (z. B. Funktionstraining, Muskeldehnung), physikalische Therapie und Krankengymnastik, psychologische Verfahren und Psychotherapie, (teil-)stationäre Therapien, Medikamente sowie komplementäre und alternative Verfahren. In jedem Abschnitt war die Möglichkeit gegeben, in Freifeldern weitere im Fragebogen nicht aufgeführte Therapieverfahren mit ihrem individuell erlebten Nutzen und Schaden zu ergänzen. Nach Erfahrung der Autoren häufig eingesetzte Medikamente waren einzeln (mit generischem und Firmenname) aufgeführt. Nach Erfahrung der Autoren seltener eingesetzte Medikamente wurden in Medikamentengruppen, z. B. starke Opioide oder „Schmerzpflaster“, mit generischen und Firmennamen zusammengefasst. Die Teilnehmer wurden gefragt, ob sie das jeweilige Therapieverfahren aktuell, früher oder noch nie angewendet haben. Der individuell erlebte Nutzen (Symptomreduktion) und Schaden (Nebenwirkungen) von Therapieverfahren wurde auf einer Skala von 0–10 (0= kein, 10= maximaler Nutzen bzw. Schaden) eingeschätzt. Die Augenscheinvalidität sowie die Verständlichkeit der Formulierungen der ersten Version des Fragebogens wurden von 4 an der Studie nicht beteiligten Ärzten (Rheumatologie, Schmerzmedizin, psychosomatische Medizin) sowie 10 Patienten aus 2 Settings (Komplementärmedizin, Schmerzmedizin) qualitativ beurteilt. Einige Items des Fragebogenpakets zum Nutzen von Therapieverfahren wurden aufgrund der Rückmeldungen vor Studienbeginn modifiziert.

Die deutsche Version des Fragebogens „Fibromyalgia criteria and severity scales for clinical and epidemiological studies“ enthält die modifizierten vorläufigen diagnostischen Kriterien des FMS für Umfragen („survey criteria“) des American College of Rheumatology (ACR) von 2010. Der Fragebogen enthält einen Symptomschwerescore [Symptom Severity Score (SSS)] mit 3 Hauptsymptomen (Tagesmüdigkeit, Probleme beim Denken oder Gedächtnis, nichterholsamer Schlaf), die von 0–3 (0= “nicht vorhanden“ bis 3= “extrem ausgeprägt“) codiert werden können, und 3 Nebensymptome (Schmerzen/Krämpfe im Unterbauch, Depression, Kopfschmerzen), die als vorhanden (1) bzw. als nichtvorhanden (0) codiert werden können. Weiterhin enthält der Fragebogen den Widespread Pain Index (WPI) mit 19 vorgegebenen nichtartikulären Schmerzlokalisationen. Die Symptome bzw. Schmerzlokalisationen sollen für mindestens 3 Monate vorgelegen haben [21].

Der SSS war von 4 Ärzten – davon 2 mit mehrjährigem Forschungsaufenthalt in den USA – mithilfe einer Hin- und Rückübersetzung ins Deutsche übertragen worden. Der WPI ist mit der validierten deutschen Version der regionalen Schmerzskala identisch [10]. Im Rahmen einer postalischen Befragung bzw. Internetbefragung ohne Möglichkeit einer klinischen und ggf. laborchemischen Untersuchung liegt ein mögliches FMS vor, wenn entweder der WPI ≥7 und der SSS ≥5 oder der WPI=3–6 und der SSS ≥9 ist [21].

Der Patient Health Questionnaire (PHQ) Modul 4 enthält je 2 Screeningfragen zu Depression und Angst [13]. Wir verwendeten die validierte deutsche Version des PHQ-4. Werte ≥3 sind als Grenzwert für eine mögliche depressive Störung bzw. eine mögliche generalisierte Angststörung, Panikstörung oder posttraumatische Belastungsstörung anzusehen und korrespondieren mit einem Perzentilrang von 93,4% (Depression) bzw. 95,2% (Angst) in Bezug auf eine repräsentative deutsche Bevölkerungsstichprobe [15].

Patienten

Untersuchungszeitraum und -ablauf

Vom 1. November 2010 bis zum 30. April 2011 wurden alle konsekutiven Patienten der teilnehmenden Einrichtungen mit einem bekannten oder neu diagnostizierten FMS gebeten, an der Studie teilzunehmen. Die Fragebögen wurden während der Konsultation vom Arzt mit einem standardisierten Begleitschreiben und persönlichen Erläuterungen an den Patienten ausgehändigt und konnten vom Patienten nach der aktuellen bzw. bei der nächsten Konsultation abgegeben werden. Die beantworteten Fragebögen wurden von den Patienten an die Ärzte anonym in einem verschlossenen Umschlag zurückgegeben, separat von der Krankenakte aufbewahrt und am Studienende an das Studienzentrum zurückgeschickt.

Das Fragebogenpaket wurde von der Geschäftsstelle des Bundesverbands der Deutschen Rheuma-Liga an die Landes- und Mitgliedsverbände mit der Bitte geschickt, dieses an die Leiter der regionalen FMS-Gruppen zur Verteilung an die Teilnehmer weiterzuleiten. Die ausgefüllten Fragebögen wurden in einem verschlossenen Umschlag an die Regionalleiter zurückgegeben, von diesen an die Geschäftsstelle des Bundesverbands zurückgeschickt und von dort unter Entfernung der Adresse des Absenders an das Studienzentrum geleitet.

Das Fragebogenpaket wurde der mit einem Aufruf zur Teilnahme durch den Vorstand und den medizinischen Beirat Ausgabe 04/2010 von Optimisten, dem Publikationsorgan der DFV, beigelegt. Weiterhin war der Fragebogen in dem genannten Zeitraum auf der Homepage der DFV abrufbar. Ausgefüllte Fragebögen wurden an die Geschäftsstelle der DFV gesendet und von dort unter Entfernung der Adresse des Absenders an das Studienzentrum geleitet. Die Geschäftsstellen beider Selbsthilfeorganisationen wiesen darauf hin, dass nicht alle Studienteilnehmer Mitglied einer Selbsthilfeorganisation waren, da die Trainingsgruppen der Deutschen Rheuma-Liga sowie die Homepage der DFV auch Nichtmitgliedern offen stehen und der im Optimisten enthaltene Fragebogen auch an Nicht-DFV-Mitglieder weitergegeben werden oder auf der Homepage der DFV von Nicht-DFV-Mitgliedern aufgerufen werden konnte.

Weiterhin war der Fragebogen während der Studiendauer auf den Internetseiten der Deutschen Rheuma-Liga (Rückversand an Geschäfsstelle des Bundesverbands per Fax oder Post) und der DFV (Formular online ausfüllbar, Rückversand an Geschäftsstelle per E-Mail möglich) abrufbar.

Ein- und Ausschlusskriterien

Für die über die Selbsthilfeorganisationen rekrutierten Teilnehmer wurde gefordert, dass sie angaben, dass bei ihnen die Diagnose eines FMS von einem Arzt gestelllt worden war. In den klinischen Einrichtungen wurden Patienten mit einem bekannten oder neu diagnostizierten FMS in die Studie aufgenommen. Da es keinen Goldstandard zur klinischen Diagnose des FMS gibt [6], wurde es den teilnehmenden Ärzten freigestellt, welche Kriterien zur Diagnose verwendet wurden. Die Zahl der Schmerzlokalisationen durfte nicht durch andere Erkrankungen ausreichend erklärt sein. Patienten mit komorbiden inaktiven oder gering aktiven entzündlich-rheumatischen Erkrankungen oder mono- bzw. oligolokulären Arthrosen, welche die Zahl der Schmerzlokalisationen nicht ausreichend erklärten, wurden eingeschlossen. Teilnehmer, die der deutschen Schriftsprache nicht ausreichend mächtig waren bzw. deren Schmerzlokalisationen durch körperliche Krankheiten ausreichend erklärbar waren, wurden ausgeschlossen. Andere primäre Ausschlusskriterien wurden nicht definiert. Für die Analyse der Wirksamkeit von Therapieverfahren wurden Patienten ausgeschlossen, bei denen die FMS-Diagnose <1 Monat zuvor gestellt worden war.

Statistische Auswertung

Die Daten wurden von je 4 Paaren studentischer Hilfskräfte in eine vorgefertigte Excel-Datenbank eingetragen. Die Eingaben wurden stichprobenartig von 2 Autoren überprüft. Der Gesamtdatensatz wurde von 2 Autoren auf Plausibilität und Eingabefehler überprüft.

Fehlende Antworten im SSS, WPI und PHQ-4 wurden mit 0 codiert. Waren >50% der Items in diesen Fragebögen nicht beantwortet, wurde der Fragebogen aus der Analyse ausgeschlossen.

Die Daten wurden deskriptiv durch Mittelwerte und Standardabweichungen bzw. Absolut- und Prozentwerte dargestellt. Gruppenvergleiche kontinuierlicher Variablen erfolgten mit nichtparametrischen Tests. Der χ2 -Test wurde für kategoriale Variablen verwendet. Alle Tests wurden 2-seitig mit einem α-Wert von 0,05 durchgeführt. Alle Berechnungen wurden mit dem Statistikprogramm SPSS (Version 17.0) durchgeführt.

Finanzierung

Die Durchführung der Studie wurde von der Deutschen Rheuma-Liga finanziell unterstützt. Die Deutsche Rheuma-Liga war nicht an der Auswertung der Daten und Erstellung des Manuskripts beteiligt. Die Studienteilnehmer erhielten keine Aufwandsentschädigung oder vorfrankierte Umschläge für den Versand der Fragebögen. Sachkosten wurden von den teilnehmenden Einrichtungen selbst getragen.

Ethik

Die Bestimmungen des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht wurden von allen Studienleitern beachtet. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Ludwig-Maximilians-Universität München geprüft.

Ergebnisse

Teilnehmende Institutionen

An der Studie nahmen 9 von 14 angesprochenen klinischen Einrichtungen teil. Deren Schwerpunkte waren Schmerztherapie und Psychotherapie (n=3), Rheumatologie (n=2), komplementäre Verfahren (n=2), physikalische Medizin (n=1) und Schmerztherapie (n=1). Die Settings waren ambulant (n=6), stationär (n=2) und tagesklinisch (n=1). Versorgungsstufen waren die Sekundärversorgung (n=6), Tertiärversorgung (n=2) und Rehabilitation (n=1). Je eine rheumatologische Praxis, rheumatologische Abteilung eines Akutkrankenhauses der Sekundärversorgung, rheumatologische Rehabilitationsklinik, Schmerzambulanz der Tertiärversorgung und psychosomatische Rehabilitationsklinik waren an der Studienteilnahme interessiert und beteiligten sich an der Konzeption des Fragebogens, waren aber aus organisatorischen Gründen nicht in der Lage, die Studie durchzuführen. Aus organisatorischen Gründen konnte nur ein Teil der Patienten des Algesiologikums München in einem Zeitraum von 2 Monaten für die Studie angesprochen werden.

Patienten

Klinische Einrichtungen

Von 123 Patienten wurden die primären Einschlusskriterien nicht erfüllt (unzureichende deutsche Sprachkenntnisse, keine Bestätigung einer bestehenden FMS-Diagnose nach klinischer Untersuchung). Die Teilnahme an der Studie lehnten 40 Patienten primär ab. Von den 1691 Patienten, die die Fragebögen ausfüllten, wurden 30 ausgeschlossen, weil die Diagnose eines FMS <1 Monat zuvor gestellt worden war.

Selbsthilfeorganisationen

Die Deutsche Rheuma-Liga berichtete auf Anfrage, dass etwa 10.000 Mitglieder FMS-Betroffene sind. Von der Deutschen Rheuma-Liga wurden 721 in die Analyse eingeschlossene Personen rekrutiert. Die DFV berichtete auf Anfrage, dass etwa 4000 ihrer Mitglieder, die den Optimisten erhalten, FMS-Betroffene sind. Von der DFV wurden 456 in die Analyse eingeschlossene Personen rekrutiert.

Gesamte Stichprobe

In die Analyse wurden 1661 FMS-Betroffene eingeschlossen. Die Mehrzahl der Studienteilnehmer waren Frauen mittleren Alters mit langjährigen Schmerzen in mehreren Körperregionen (Tab. 1).

Tab. 1 Demographische und klinische Charakteristika der Stichprobe (n=1661)

Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf Alter und Geschlecht zwischen den Patienten, die die Studienteilnahme ablehnten, und denen, die in die Studie bzw. Auswertung eingeschlossen wurden.

Von den Befragten gaben 276/1351 (20,4%) an, zusätzlich unter einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung zu leiden, 889/1634 (54,4%) erfüllten die PHQ-4-Kriterien einer möglichen depressiven Störung, 891/1631 (54,6%) erfüllten die PHQ-4-Kriterien einer möglichen Angststörung.

Aktuell am häufigsten angewendete einzelne Therapien und -verfahren

Die aktuell am häufigsten von den Studienteilnehmern angewendeten einzelnen Therapien waren eigenständige Aktivitäten (Spazierengehen, Ablenkung und Hinlegen). An siebter Stelle wurde von 42% der Teilnehmer die Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika (NSAR) genannt (Tab. 2; Gesamtaufstellung aller aktuell eingesetzten Therapiemaßnahmen in Tab. 3).

Tab. 2 Aktuell am häufigsten verwendete einzelne Therapieverfahren
Tab. 3 Rangliste der häufigsten aktuellen Therapiemaßnahmen (nach absoluten Werten)

Bei der Zusammenfassung aktueller einzelner Therapieverfahrensklassen (mindestens 1 Therapieverfahren) ergab sich folgende Reihenfolge: aktivitätsbezogenes Selbstmanagement (95,3%), ruhebezogenes Selbstmanagement (81,6%), Nicht-CAM-Medikamente (Analgetika, Muskelrelaxanzien, Psychopharmaka; 81,5%), Selbstmanagement mit physikalischen Verfahren (Wärme, Kälte; 67,0%), Ausdauertraining (58,6%), manuelle physikalische Verfahren (52,7%), CAM-Medikamente (35,2%), technische physikalische Verfahren (28,5%), Psychotherapie (24,2%), Entspannungsverfahren (23,1%), CAM-Bewegungstherapien (18,4%) und andere psychologische Verfahren (1,3%; Tab. 4).

Tab. 4 Aktuell am häufigsten verwendete Therapieverfahrenskategorien

Nützlichste und schädlichste Therapien

Als nützlichste Therapien (aktuell, früher) wurden Wärmeanwendungen, Thermalbäder und FMS-Schulungsprogramme genannt (Tab. 5). Als schädlichste bzw. nebenwirkungsreichste Therapiemaßnahmen wurden Medikamente [starke und schwache Opioide, Antiepileptika (Pregabalin, Gabapentin), Antidepressiva (Amitriptylin, Duloxetin)] und die Kältetherapie genannt (Tab. 6).

Tab. 5 Nützlichste Therapien
Tab. 6 Nebenwirkungsreichste bzw. schädlichste Therapien

Nutzen und Schaden

Eigenständige Aktivitäten

Als Therapien mit dem größten Nutzen und dem geringsten Schaden in dieser Kategorie wurden Ganzkörperwärmeanwendungen (Infrarotkabine, Biosauna, warme Wannenbäder), Thermalbäder, Funktionstraining sowie Spazierengehen und Entspannungstraining genannt (Tab. 7)

Tab. 7 Eigenständige Aktivitäten. Nutzen und Schaden

Physikalische Therapie und Physiotherapie

Als Therapien mit dem größten Nutzen und dem geringsten Schaden in dieser Kategorie wurden die Osteopathie, Lymphdränagen und Bäder genannt. Bei der Kältekammer überwogen die Angaben zum Nutzen nur knapp den Schaden (Tab. 8).

Tab. 8 Physikalische Therapien und Krankengymnastik. Nutzen und Schaden

Psychologische Verfahren und Psychotherapie

Als Therapien mit dem größten Nutzen und dem geringsten Schaden in dieser Kategorie wurden FMS-Schulungen, Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Psychotherapie, Gesprächspsychotherapie) und Meditation genannt (Tab. 9).

Tab. 9 Psychologische Verfahren und Psychotherapie. Nutzen und Schaden

Medikamente

Nur bei Schlafmitteln (z. B. Zolpidem, Flunitrazepam) wurde ein größerer Nutzen als Schaden gesehen. Bei starken Opioiden, „Schmerzpflastern“, Antiepileptika (z. B. Pregabalin, Gabapentin) und Neurolepetika (z. B. Olanzapin, Sulpirid) wurde ein größerer Schaden als Nutzen angegeben. Bei den übrigen Medikamenten (alle Stufe-1-Analgetika, Muskelrelaxanzien, Antidepressiva) hielten sich die Einschätzungen von Nutzen und Schaden die Waage (Tab. 10).

Tab. 10 Medikamente. Nutzen und Schaden

Betroffene, die angaben, auch unter einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung zu leiden, nahmen aktuell mehr NSAR [134/276 (48,6%)] ein als Betroffene, die angaben, nicht unter einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung zu leiden [408/1075 (40,0%); χ2=10,3, p=0,001].

Betroffene, die angaben, auch unter einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung zu leiden, nahmen aktuell mehr schwache [184/1240 (14,8%)] und starke [71/1233 (5,8%)] Opioide ein als Betroffene, die angaben, nicht unter einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung zu leiden [65/1240 (5,2%) bzw. 41/1233 (3,3%)].

Komplementäre Verfahren

Als Therapiemaßnahmen mit dem größten Nutzen und dem geringsten Schaden in dieser Kategorie wurden die Tanztherapie, Atemtherapie, Fußzonenreflexmassage und Ernährungsumstellung genannt. Mit der Quadrantenoperation nach Bauer behandelt worden zu sein, gaben 9 Betroffene an. Die Hälfte gab keinen Nutzen bzw. einen hohen Schaden an (Tab. 11).

Tab. 11 Komplementäre und alternative Verfahren. Nutzen und Schaden

Stationäre Therapien

Mindestens eine aktuelle oder frühere (teil-)stationäre Therapie (Naturheilverfahren, Orthopädie, Psychosomatik, Rheumatologie, Schmerztherapie) gaben 1152/1560 (75,8%) an. Als Therapiemaßnahmen mit dem größten Nutzen und dem geringsten Schaden in dieser Kategorie wurden stationäre Behandlungen in Kliniken für Naturheilverfahren/integrative Medizin, rheumatologische Rehabilitationen und Schmerzkliniken genannt (Tab. 12).

Tab. 12 (Teil-)stationäre Therapien. Nutzen und Schaden

Diskussion

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Für den ersten in Europa durchgeführten Verbraucherbericht zu Therapieverfahren des FMS konnten die Daten von 1661 Teilnehmern analysiert werden. Die häufigsten aktuellen Therapieverfahrenskategorien waren aktivitäts- und ruhebezogene Selbstmanagementstrategien und Medikamente. Nichtmedikamentöse (Bewegungstherapie, physikalische Maßnahmen, Psychotherapie, multimodale und die meisten komplementären Verfahren) erhielten eine günstigere Nutzen-Schaden-Einschätzung als alle medikamentösen Behandlungen.

Vergleich mit anderen Studien

Die Geschlechterverteilung (95% Frauen) in dieser Studie war vergleichbar mit der Internetbefragung der NFA (97% Frauen, [1]), der BEK-Studie (14.870 Versicherte mit FMS-Diagnose; 95% Frauen, [16]) und einer deutschen multizentrischen Studie klinischer Einrichtungen (91% Frauen, [12]). Das Durchschnittsalter in dieser Studie war mit 54 Jahren etwas höher als das der NFA-Studie (47 Jahre, [1]) und der deutschen multizentrischen Studie (51 Jahre, [12]). Die Rate (möglicher) depressiver Störungen war vergleichbar mit der BEK-Studie (54% vs. 50%); die Rate (möglicher) Angststörungen deutlich höher als in der BEK-Studie (55% vs. 17%; [16]). Die Rate komorbider entzündlich-rheumatischer Erkrankungen in der Studie (20%) war identisch mit der Häufigkeit von 20% bei Patienten mit rheumatoider Arthritis aus der National Data Bank of Rheumatic Diseases, die mindestens einmal die Survey-Kriterien eines FMS während des Studienzeitraums erfüllten [22]. Zusammengefasst sind die Teilnehmer der Studie bezüglich ihrer demographischen Daten und Komorbiditäten als repräsentativ für FMS-Patienten der klinischen Routineversorgung anzusehen.

In dieser Untersuchung wie auch in der NFA-Studie [1] wurden als häufigste Therapien Ausruhen (86% in beiden Studien) und Ablenkung (86% vs. 80%) genannt. Der Anteil an Patienten mit Ausdauertraining (56% vs. 32%) und verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln (81% vs. 66%) war höher als in der NFA-Studie. Antidepressiva wurden seltener eingenommen als von US-amerikanischen Patienten (46% vs. 63%; [1]). Psychotherapeutische Behandlungen wurden in der NFA-Studie seltener angegeben (Beratung: 29%, kognitive Verhaltenstherapie: 8%) als in der deutschen Studie (Psychotherapie: 24%). US-amerikanische und deutsche Patienten schätzten Ausruhen, Wärmebehandlungen, Massagen und Pooltherapien als die wirkungsvollsten Therapiemaßnahmen ein (USA: 6,0–6,3; Skala: 0–10). US-amerikanische Verbraucher schätzten den Nutzen von Analgetika (keine Unterteilung der verschiedenen Substanzklassen vorgenommen) als wirkungsvoller ein (6,2–6,3) als deutsche Verbraucher (alle Einschätzungen <6).

In einer internationalen Studie mit 800 FMS-Patienten aus 6 europäischen Ländern sowie Mexiko und Südkorea gaben 70% der Patienten die Einnahme von Schmerzmitteln, 48% die Durchführung von aerobem Training und 45% die Durchführung von Entspannungstraining an. Die Arten der Schmerzmittel wurden in der Publikation nicht differenziert, eine Nutzen-Schaden-Einschätzung durch die Patienten wurde nicht vorgenommen [3]. Die Teilnehmer der vorliegenden Studie gaben eine seltenere Anwendung von Entspannungstraining (23%) und höhere Rate von aerobem Training (58%) an.

Im Vergleich zur BEK-Studie [16] gaben die Teilnehmer dieser Studie häufiger als BEK-Versicherte eine aktuelle ambulante Psychotherapie (24% vs. 8%) und den Einsatz von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln an (81% vs. 67%). Die Häufigkeit der Einnahme von Antidepressiva war gleich (46% in beiden Studien). In beiden Stichproben war Amitriptylin das am häufigsten verordnete Antidepressivum (31% vs. 20%), gefolgt von Duloxetin (9% vs. 8%). Der Anteil der Patienten unter Opioiden war in beiden Stichproben gleich (29% vs. 32%).

Internetplattformen, die sich durch Werbeanzeigen finanzieren, bieten Patienten, Ärzten und Apothekern die Möglichkeit, sich über Erfahrungen mit Medikamenten auszutauschen. Auf der Internetseite www.sanego.de fanden sich Eintragungen von 257 Personen mit FMS. Am häufigsten fanden sich Berichte zu Duloxetin (17%; Durchschnittswert auf einer 10-stufigen Skala: 7,2), Pregabalin (13%; Durchschnittswert: 5,5) und Amitriptylin (Durchschnittswert: 7,2). Die Angaben zur Verträglichkeit sowie zur Häufigkeit von Nebenwirkungen erfolgen nicht nach Krankheiten getrennt [18].

Vergleich mit den Empfehlungen der ersten Version der deutschen FMS-Leitlinie

Den Empfehlungen der ersten Version der interdisziplinären FMS-Leitlinie wurden Daten zur Wirksamkeit (Nutzen) von Therapieverfahren in der Reduktion von FMS-Symptomen zugrunde gelegt. Daten zu potenziellen Schäden durch Therapieverfahren wurden nicht berücksichtigt [8].

Die Mehrzahl der Teilnehmer des Verbraucherberichts gab eine leitlinienkonforme Therapie mit Selbstmanagement (körperliche Aktivität, Entspannung, Wärmeanwendungen) an. Leitlinie und Verbraucherbericht billigen aeroben Trainingsformen, Balneotherapien, Bewegungstherapien im Wasser, kognitiven Verhaltenstherapien und multimodalen Therapien einen Nutzen zu. Diese Verfahren erhielten in der Leitlinie den Evidenzgrad 1a und einen Empfehlungsgrad A [8]. Ein Anteil von 76% der Teilnehmer gab eine aktuelle oder frühere Therapie in einer multimodal arbeitenden Klinik (Naturheilkunde, Psychosomatik, Rheumatologie, Schmerz) an. Die empfohlene Therapie mit Antidepressiva wurde von 46% angewendet. Die häufige Verwendung komplementärer Verfahren in Kombination mit den o. g. Verfahren stimmte ebenfalls mit den Leitlinienempfehlungen überein [14].

Nicht leitlinienkonform [8] war die häufige Verwendung von NSAR und Opioiden – auch wenn man berücksichtigt, dass diese Medikamente bei einem Teil der Teilnehmer aufgrund von komorbiden Arthrosen oder entzündlich-rheumatischen Erkrankungen indiziert gewesen sein könnten. Die mit Empfehlungsgrad A (Amitriptylin) oder B (Duloxetin, Fluoxetin, Paroxetin, Pregabalin) versehenen medikamentösen Therapien schnitten im Verbraucherbericht schlechter ab. Die Ergebnisse des Verbraucherberichts, dass die Anzahl der Patienten, die von diesen Medikamenten profitieren, ebenso hoch ist wie die Anzahl der Patienten, die einen Schaden (relevante Nebenwirkungen) durch die Medikamente angeben, bilden die Ergebnisse aktueller systematischer Übersichtsarbeiten zum Einsatz von Antidepressiva und Antikonvulsiva beim FMS ab [11]. Wie die indirekten Vergleiche der genannten systematischen Übersichtsarbeiten erlauben die Ergebnisse des Verbraucherberichts keine Bevorzugung eines Antidepressivums bzw. Antikonvulsivums.

In der Leitlinie erhielten einige Therapieoptionen der physikalischen Medizin, z. B. Chirotherapie/Osteopathie, Lymphdränage und Massage, sowie CAM-Verfahren, z. B. Ernährungsumstellung, Homöopathie, Yoga, Tai-Chi, Musik- und Tanztherapie, eine offene Empfehlung innerhalb eines multimodalen Therapiekonzepts [14]. Diese Verfahren erhielten im Verbraucherbericht eine sehr günstige Nutzen-Schaden-Bewertung. Es besteht die dringende Notwendigkeit, die Wirksamkeit und Verträglichkeit dieser von Patienten als wirksam und verträglich eingeschätzten Therapieverfahren in größeren RCT zu überprüfen.

Die Angaben zur Quadrantenoperation nach Bauer unterstützen die starke Empfehlung der Leitlinie, diese Maßnahme nicht anzuwenden [19].

Einschränkungen der Studie

Studien in naturalistischen Settings weisen zahlreiche methodische Probleme auf. Einschränkungen der Gültigkeit von Verbraucherberichten sind das globale und zeitlich unbestimmte retrospektive Design, fehlende Angaben zur Quantität und Intensität der verwendeten Verfahren, das Fehlen einer Kontrollgruppe, die pauschale Erfassung von positiven und negativen Wirkungen der Therapieverfahren sowie die alleinige Verwendung von Selbstbeurteilungsverfahren [5]. Es konnten keine Daten zur Einschätzung der Wirksamkeit von Therapieverfahren durch Nichtstudienteilnehmer erhoben werden. Bei den Teilnehmern der Studie überwogen FMS-Betroffene, die über Selbsthilfeorganisationen rekrutiert wurden. Es nahmen jedoch nur 7% der über die Deutsche Rheuma-Liga und nur etwa 10% der über die DFV organisierten FMS-Betroffenen an der Studie teil. Patienten aus Einrichtungen der Primärversorgung (Hausärzte) wurden nicht eingeschlossen, da uns keine Hausarztpraxis mit einer für die Studie ausreichenden Anzahl von FMS-Patienten bekannt war. Die Mehrzahl der Studienärzte war auch an der FMS-Leitlinienentwicklung beteiligt. Aufgrund der Rekrutierungswege und der beteiligten Studienzentren ist davon auszugehen, dass ein möglicher Selektionsbias von FMS-Betroffenen mit aktiver Krankheitsbewältigung, positiver Einstellung zu psychologischen und komplementären Verfahren und eher skeptischen Einstellungen zu Medikamenten vorliegt. Weiterhin ist ein Bias der Studienzentren zu einer leitlinienkonformen Therapie möglich.

Die verschiedenen Verteilungs- und Rücklaufverfahren der Fragebögen führten zu einigen Datenverlusten, z. B. zu fehlenden Teilen des Fragebogens, und der umfangreiche Fragebogen zu vielen nichtbeantworteten Fragen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass sich die Teilnehmer nicht an alle früheren Therapien erinnerten. Obwohl es sich unseres Wissens um die größte Befragung von FMS-Betroffenen in Europa handelt, ist die Generalisierbarkeit der Studienergebnisse eingeschränkt: Es ist möglich, dass die Studienteilnehmer weder für Mitglieder von Selbsthilfegruppen und klinischen Einrichtungen noch für die Gesamtgruppe von FMS-Betroffenen repräsentativ sind.

Fazit für die Praxis

Neben Leitlinienempfehlungen können Verbraucherberichte zur Wirksamkeit und zu Schäden von Therapien für Betroffene und Behandler eine zusätzliche Informationsquelle bei der Entscheidungsfindung für oder gegen eine Behandlungsoption des FMS sein.

Die Ergebnisse des Verbraucherberichts belegen die Bedeutung von nichtmedikamentösen Therapien für die Langzeittherapie des FMS. Selbstmanagemenstrategien wie Ablenkung, Ausruhen, körperliche Aktivität und eigenständig durchgeführte Wärmetherapien wurden von den Betroffenen nicht nur am häufigsten eingesetzt, sondern auch bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit besser bewertet als alle medikamentösen Therapieoptionen. Die starken Empfehlungen für aerobes Training (zu Land und zu Wasser), Balneotherapien und kognitive Verhaltenstherapien in der interdisziplinären S3-Leitlinie zum FMS spiegeln sich in der positiven Nutzen-Schaden-Einschätzung des Verbraucherberichts wider. Der Verbraucherbericht relativiert die Bedeutung der in der Leitlinie empfohlenen Medikamente Amitriptylin, Duloxetin, Fluoxetin, Paroxetin und Pregabalin: Der durchschnittliche Nutzen und Schaden ist aus Sicht der Betroffenen ausgewogen; es gibt jeweils eine kleine Gruppe von Betroffenen, die unter dem Medikament einen relevanten Nutzen bzw. Schaden angibt.