Ein Ziel der interdisziplinären S3-Leitlinie zur Klassifikation, Diagnose, Pathophysiologie und Therapie des Fibromyalgiesyndroms (FMS) war [19], einen Beitrag zu einer verbesserten Versorgungsqualität der Betroffenen zu leisten. Die Leitlinie wurde als Hilfe konzipiert, die Fehlversorgung bezüglich Diagnostik und Therapie von Betroffenen mit FMS zu reduzieren und die Krankheitslast zu senken. Dabei stand insbesondere die Reduktion der in der Literatur beschriebenen hohen Krankheitskosten und krankheitsbedingten Beeinträchtigungen körperlicher und sozialer Aktivitäten im Alltag im Vordergrund.

Eine Fehlversorgung [hohe Anwendungshäufigkeit von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), Opioiden, passiven physikalischen und invasiven Maßnahmen] von deutschen FMS-Patienten wurde bis zum Zeitpunkt der Publikation der Leitlinie nur in klinischen Stichproben [7, 16] beschrieben. Ebenso lagen aus Deutschland keine Daten vor, welche die in angloamerikanischen Ländern beschriebenen erhöhten Krankheitskosten von FMS-Patienten im Vergleich zu alters- und geschlechtsgematchten Kontrollen in bevölkerungsbasierten Stichproben bestätigten [11, 14]. Inzwischen wurden zwei Studien aus Deutschland zur medizinischen Versorgung von FMS-Patienten veröffentlicht. In einer Kohortenstudie wurde die Inanspruchnahme ambulanter Leistungen von 4983 FMS-Patienten mit 4983 alters- und geschlechtsgematchten Kontrollen im Zeitraum 2/2006–2/2007 verglichen. Grundlage der Analyse war IMS Medi Plus, eine Datenbank von 900 allgemeinmedizinischen Praxen in Deutschland. FMS-Patienten wiesen im Untersuchungszeitraum doppelt so viele Besuche beim Allgemeinarzt, Überweisungen zum Facharzt und Krankschreibungen wie die Kontrollpatienten auf. Die Krankheitskosten (Arztbesuche, Medikamente, stationäre Behandlungen und Krankschreibungen) wurden nicht berechnet. Die Art der stationären Behandlungen wurde nicht weiter differenziert. Die Studie wurde von Pfizer finanziert [2]. Aufgrund der Beschränkung auf Allgemeinärzte war die Stichprobe nicht repräsentativ für deutsche Krankenversicherte. In einer Analyse von Daten der ehemaligen GEK wurde die medikamentöse und nichtmedikamentöse ambulante Therapie von FMS-Patienten während des Jahres 2007 untersucht. Stationäre Behandlungen sowie Krankheitskosten wurden nicht betrachtet [18]. Da in der GEK zum Untersuchungszeitpunkt 2% der gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland versichert waren, ist die Repräsentativität der Stichprobe eingeschränkt.

Aufgrund der postulierten Fehlversorgung und hohen Krankheitskosten von FMS-Patienten in Deutschland sowie der methodischen Einschränkungen der genannten Studien analysierten wir Umfang, Art und Kosten der Behandlung von FMS-Patienten aus einer Stichprobe von 7 Mio. Versicherten der ehemaligen BARMER mit folgenden Fragestellungen:

  • Welche medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapien werden bei der BEK versicherten FMS-Patienten verordnet?

  • Welche stationären Behandlungen werden bei der BARMER versicherten FMS-Patienten durchgeführt?

  • Wie hoch sind die Krankheitskosten der versicherten FMS-Patienten?

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Die nachfolgenden Analysen basieren auf Abrechnungsdaten der BARMER vor Fusion mit der GEK. Von den etwa 7 Mio. Versicherten wurden bei 14.870 Versicherten in den Jahren 2007 und 2008 die Diagnose M79.7 (Kodierung des Fibromyalgiesyndroms) während einer ambulanten Behandlung gestellt. Um FMS-Verdachtsdiagnosen zu eliminieren, wurde zusätzlich gefordert, dass in den 8 Quartalen mehr als 2 Abrechnungsfälle vorlagen. Ein Abrechnungsfall bildet den Kontakt eines Versicherten zu einem Arzt in einem Quartal ab. Für die Patienten mit mehr als 2 Abrechnungsfällen wurden die Arzneimittelverordnungen im Zeitraum 1.7.2008 bis 30.6.2009 analysiert.

Weiterhin wurden die stationären Behandlungen ausgewertet. Hierzu wurden die Versicherten ermittelt, die im Zeitraum 1.7.2008 bis 30.6.2009 stationär mit der Entlassungsdiagnose FMS behandelt wurden.

Die Leistungsausgaben wurden nach Hauptleistungsbereichen in direkte Krankheitskosten (Arzneimittel, ambulante und stationäre Behandlung) und indirekte Krankheitskosten (Krankengeld) zusammengefasst. Um die Ausgaben für das FMS zu identifizieren, wurde die Datenanalyse unter Ausschluss sehr kostenintensiver Komorbiditäten wie Krebs, Dialysetherapie, Demenz oder humanes Immundefizienz-Virus (HIV), durchgeführt.

Ergebnisse

Prävalenz

Bei 14.870 BARMER-Versicherten wurde im Betrachtungszeitraum eine FMS-Diagnose in mindestens zwei Quartalen kodiert. Bei 11.532 Versicherten wurde ein FMS nur in einem Quartal kodiert. Diese Patienten wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Insgesamt 6130 Patienten wurden im Betrachtungszeitraum stationär behandelt. Von den betrachteten 14.870 Versicherten mit ambulant abgerechnetem FMS wurden 1.410 Patienten auch stationär behandelt. Eine FMS-Diagnose wurde bei insgesamt 19.592 ambulant und/oder stationär Behandelten von 6.897.846 BEK-Gesamtversicherten (0,3%) gestellt.

Alters-und Geschlechtsverteilung

Von den 19.592 Versicherten wurden Alter und Geschlecht ermittelt, deren Verteilung Abb. 1 zeigt. Das auf Alter und Geschlecht bezogene Morbiditätsprofil bei der BEK wurde auf die Alters- und Geschlechtsstruktur der gesamten gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) übertragen, um die untypische Alters- und Geschlechtsstruktur der BARMER GEK auszugleichen. Das Verhältnis von Frauen zu Männern betrug 12:1. Vor allem in den Altersgruppen der 40- bis 80-Jährigen war dieser Unterschied auffällig und hatte im Alter von 50–60 Jahren seinen Höhepunkt. Der Anteil der Männer mit FMS bleibt im Lebensverlauf nahezu konstant.

Abb. 1
figure 1

Verteilung nach Alter und Geschlecht

Komorbiditäten

Bei 45% wurde eine somatoforme Störung (F45), bei 50% eine depressive Episode (F32), bei 17% eine Angststörung (F41) und bei 82% Rückenschmerzen (M40–54) kodiert.

Arzneimittel

Aus den Arzneimittelverordnungen wurden die Gruppen analysiert, zu denen konkrete Verordnungsempfehlungen in der interdisziplinären S3-Leitlinie [21] bestehen. Dazu gehören Psychopharmaka, Analgetika, Muskelrelaxanzien, Antikonvulsiva, 5-HT3-Rezeptorantagonisten, Lokalanästhetika, Dopaminagonisten, Virostatika und Hormone wie Kortikosteroide oder Schilddrüsenhormone. Von 14.870 ambulanten FMS-Fällen erhielten nur 60 Patienten keine Arzneimittelverordnung aus diesen Substanzklassen. Exemplarisch werden Analgetika- und Psychopharmakaverordnungen dargestellt:

Analgetika

Insgesamt erhielten 67% der Patienten mit FMS Analgetikaverordnungen. Nichtsteroidale Analgetika (NSAR) wie Ibuprofen, Diclofenac oder Naproxen wurden insgesamt bei 48% der Betroffenen verordnet. Insgesamt 21% der Patienten mit FMS bekamen schwache Opioide wie Tramadol oder Tilidin-Kombinationen verordnet, 11% lösten spezielle Betäubungsmittelrezepte für starke Opioide wie Morphin ein (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Anteil der Analgetikaverordnungen bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS) der BARMER Ersatzkasse

Psychopharmaka

Insgesamt 56% aller Patienten mit FMS erhielten Psychopharmaka. Davon wurden Antidepressiva bei 70,9%, Hypnotika und Sedativa bei 11,6%, Anxiolytika bei 11,2% und Neuroleptika bei 1,2% der Patienten verordnet.

Fast 20% aller untersuchten Patienten erhielten den Wirkstoff Amitriptylin rezeptiert. Dieses Medikament ist in Deutschland zur Therapie chronischer Schmerzen innerhalb eines therapeutischen Gesamtkonzeptes und zur Therapie depressiver Störungen zugelassen. Mit großem Abstand auf Platz 2 konnte das Antidepressivum Duloxetin analysiert werden. Dieses Medikament wurde bei knapp 8% der Patienten verschrieben. Duloxetin ist in den USA zur Therapie des FMS und in Deutschland zur Therapie depressiver Störungen, der generalisierten Angststörung und der diabetischen Polyneuropathie zugelassen. Knapp weniger als 7% der untersuchten Versicherten erhielten die Verordnung eines anderen Antidepressivums, nämlich Citalopram (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Anteil an Patienten mit Verordnungen von Psychopharmaka

Ambulante Behandlung

Schmerztherapeutische Leistungen

Bei den 14.870 Versicherten wurden während des beobachteten Zeitraumes 132.649 EBM-Ziffern abgerechnet. Insgesamt 80.025 Ziffern entfielen auf schmerztherapeutische Ziffern. Die am häufigsten abgerechneten schmerztherapeutischen Ziffern waren Akupunktur (bei 12%), Injektionstechniken am Spinalnerven (bei 6,8%) und Anleitung des Patienten zur Selbstanwendung der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS, bei 6,6%; Tab. 1).

Tab. 1 Top 5 EBM-Ziffern, die eine Schmerztherapie anzeigen (n=14.870 Patienten)

Psychotherapeutische Leistungen

Insgesamt 52.624 Ziffern entfielen auf psychotherapeutische Leistungen. Als häufigstes psychotherapeutisches Verfahren wurde die psychosomatische Grundversorgung bei 44,4% der Versicherten abgerechnet. Bei 4,4% bzw. 3,9% der Patienten erfolgte eine Verhaltenstherapie bzw. eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (Tab. 2).

Tab. 2 Top 5 EBM-Ziffern, die eine Psychotherapie anzeigen (n=14.870 Patienten)

Stationäre Behandlung im Krankenhaus

Während des 12-monatigen Beobachtungszeitraumes wurden 6.130 Patienten mit der Haupt- (2140 Patienten) oder Nebenentlassungsdiagnose (3990 Patienten) FMS stationär im Krankenhaus behandelt. Insgesamt wurden 16.600 Prozeduren (OPS-Ziffern) durchgeführt und abgerechnet. Die 10 am häufigsten durchgeführten OPS-Prozeduren sind in Tab. 3 dargestellt;14,3% wurden mit multimodaler Therapie behandelt. Mit großem Abstand folgte mit 7,6% Psychotherapie. Sechs der10 häufigsten durchgeführten schmerztherapeutischen Verfahren waren interventionelle Verfahren (Tab. 4). Von 875 Patienten, die stationär eine multimodale Schmerztherapie erhielten, wurden 47 Personen auch mit invasiven Maßnahmen behandelt. Davon erhielten 21 Patienten epidurale Injektionen und Infusionen zur Schmerztherapie, 14 eine Medikamenteninjektion an Nervenwurzeln an der Wirbelsäule und 5 eine Medikamenteninjektion oder -infusion an andere periphere Nerven.

Tab. 3 Top 10 OPS-Prozeduren (stationäre Therapie) bei 6130  Patienten mit Fibromyalgiesyndrom
Tab. 4 Top 10 Schmerztherapie-Prozeduren (stationäre Therapie) bei 6130 Patienten mit Fibromyalgiesyndrom

Krankheitskosten

Die Leistungsausgaben pro Patient differierten stark. Im analysierten Zeitraum fielen pro Patient durchschnittliche Leistungsausgaben von 4331 € an, davon 3602 € direkte Krankheitskosten (Tab. 5). Die Standardabweichung lag bei 6097 €. Das Minimum lag bei 229 €, das Maximum bei 32.738 €

Tab. 5 Durchschnittliche Ausgaben in Hauptleistungsbereichen für Versicherte mit Fibromyalgiesyndrom

Diskussion

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse

Bei 19.592 von etwa 7 Mio. Versicherten der ehemaligen BARMER mit der Diagnose FMS wurden vom 1.7.2008 bis 30.6.2009 Art, Umfang und Kosten der ambulanten und stationären Behandlung erfasst. NSAR wurden bei 48%, schwache Opioide bei 21% und starke Opioide bei 11% der Betroffenen ambulant verordnet. Insgesamt 8% wurden ambulant psychotherapeutisch behandelt, 31% wurden stationär behandelt. Bei nur 6% aller FMS-Fälle erfolgte eine stationäre schmerztherapeutische oder rheumatologische Komplexbehandlung. Die durchschnittlichen Leistungsausgaben lagen bei 4331 €.

Vergleich mit anderen Studien

Methodik

In der GEK- [18] und IMS-Medi-Plus-Studie [2] wurde ein FMS angenommen, wenn die Diagnose M79.7 mindest einmal im Erfassungszeitraum kodiert worden war. In die vorliegende Studie wurden nur Patienten eingeschlossen, für die in den 8 betrachteten Quartalen in mehr als 2 Abrechnungsfällen eine FMS-Diagnose kodiert war. Dieses Vorgehen kann zu einer niedrigeren Prävalenz des FMS in der BARMER-Stichprobe führen.

Prävalenz und Geschlechterverteilung

Die Prävalenz der Diagnose M79.7 bei den BARMER-Versicherten lag mit 0,3% unter der Prävalenz von 3,8% nach den Survey-Kriterien einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe des Jahres 2008 [9]. In der GEK-Stichprobe des Jahres 2007 lag die 1-Jahresprävalenz bei 0,2% und das Verhältnis Frauen: Männer bei 7:1 [18]. Die niedrigere Prävalenz des FMS sowie der hohe Anteil von Frauen in den Krankenkassenstichproben kann, wie folgt, erklärt werden: Die Diagnosekategorie FMS wird von einigen Orthopäden, Psychiatern, Psychosomatikern und Schmerztherapeuten in Deutschland weiterhin abgelehnt [8]. Stattdessen werden multiple orthopädische Diagnosen des Bewegungsapparates bzw. psychische Störungen kodiert. Weiterhin ist von einer Dunkelziffer von Patienten mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen auszugehen, welche die FMS-Diagnosekriterien erfüllen, aber als lokale Schmerzsyndrome kodiert und behandelt werden. Da das FMS als Frauen-Krankheit gilt, wird das FMS bei Männern mit chronischen multilokulären Schmerzen manchmal nicht in die möglichen Differenzialdiagnosen eingeschlossen [17]. Die Verwendung der Klassifikationskriterien des US-amerikanischen Kollegiums für Rheumatologie (ACR) zur Diagnose des FMS [23] kann wegen des „Tender-point”-Kriteriums Männer mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen von der FMS-Diagnose ausschließen, da diese aufgrund einer höheren Schmerzschwelle im Vergleich zu Frauen die für die FMS-Diagnose erforderliche Zahl von positiven „tender points“ seltener erreichen [10].

Komorbiditäten

Die Häufigkeit kodierter komorbider depressiver Störungen mit 50% ist identisch mit der Prävalenzrate der GEK-Studie [18] und höher als die der IMS-Medi-Plus-Studie mit 20% [2]. Auch die Prävalenz von Angststörungen mit 17% in dieser Studie ist doppelt so hoch wie die der IMS-Medi-Plus-Studie mit 8% [2]. Die Prävalenz von depressiven und Angststörungen dieser Stichprobe liegen im mittleren Bereich der Prävalenzen von Übersichtsarbeiten zu komorbiden depressiven und Angststörungen bei FMS-Patienten aus verschiedenen klinischen internationalen Kontexten [5]. Die niedrigen Prävalenzen psychischer Störungen in der IMS-Medi-Plus-Datenbank kann durch die Tatsache erklärt werden, dass bis zu 60% psychischer Störungen in Hausarztpraxen nicht erfasst werden [13].

Besonders imponiert, dass bei 82% der Patienten mit FMS zusätzliche Rückenschmerzen diagnostiziert wurden. Dies ist deshalb bemerkenswert, da die ACR-Klassifikationskriterien Rückenschmerzen für die Diagnose eines FMS voraussetzen [23]. Der unspezifische Rückenschmerz ist daher ein integraler Bestandteil des FMS. Komorbide spezifische Rückenschmerzen sind in Anbetracht des niedrigen Anteils spezifischer Ursachen chronischer Rückenschmerzen beim FMS selten. Der hohe Anteil von Rückenschmerzdiagnosen kann daher auf die Kodierung von (unspezifischem) Rückenschmerz (anstelle des FMS) durch Ärzte, welche die Diagnose eines FMS ablehnen oder dieses nicht in Erwägung ziehen, zurückgeführt werden, aber auch abrechnungstechnische Gründe (siehe unten) sind mehr als wahrscheinlich.

Arzneimittel

Der hohe Anteil an Verordnungen geht über die bisherigen Erkenntnisse zur Versorgungssituation hinaus. Bisher wurde davon ausgegangen, dass 3/4 aller FMS-Patienten medikamentös behandelt werden und über 1/3 der Betroffenen dauerhafte Medikamentenverordnungen wegen des FMS erhalten [3]. Die BARMER-Daten können hier ein sehr realistisches Bild der Versorgung zeigen. Arzneimitteldaten einer Krankenkasse umfassen alle in Apotheken ausgegebenen Medikamente, die verschreibungspflichtig sind. Abgegebene OTC-Präparate ohne ärztliche Verordnung werden nicht erfasst. Die Arzneimitteldaten wurden unabhängig von einem erfolgten Arztkontakt betrachtet.

Die Häufigkeit der Verordnungen verschiedener medikamentöser Substanzklassen und nichtmedikamentöser Therapien aus Studien mit deutschen FMS-Patienten ist in Tab. 6 zusammengefasst. Im Vergleich mit den 10 Jahre alten Daten aus den rheumatologischen Einrichtungen [16] ist in den Daten der allgemeinmedizinischen Datenbank (IMS Medi Plus, [2]) und der beiden Ersatzkassen ein Trend zur häufigeren Verordnung von Opioiden auszumachen. Die Häufigkeit der NSAR-Verordnungen ist im Laufe der Jahre eher gleich geblieben. Eine Therapie des FMS mit NSAR und starken Opioiden wird von der interdisziplinären S3-Leitlinie des FMS nicht empfohlen [21]. Auch unter Berücksichtigung möglicher Komorbiditäten, welche eine (vorübergehende) Einnahme von NSAR (z. B. aktivierte Arthrose) oder von starken Opioiden (z. B. Polyneuropathie, Arthrose) rechtfertigen könnten, ist eine fehlerhafte Überversorgung der FMS-Patienten mit diesen Substanzklassen abzulesen.

Tab. 6 Vergleich der Häufigkeit von Therapien bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom in Deutschland

In beiden Ersatzkassenstichproben war Amitriptylin das am häufigsten verordnete Antidepressivum. Die Behandlung von Schmerzen und Schlafstörungen mit dieser Substanz wurde von der Leitlinie empfohlen [21].

Ambulante Behandlungen

Komplementäre alternative Verfahren wie Akupunktur haben eine hohe Akzeptanz bei Patienten. FMS-Patienten fordern Akupunktur unserer klinischen Erfahrung nach in der Therapie ein, auch wenn Belege zur Wirksamkeit widersprüchlich sind [15, 19]. Hier ergänzen sich Patientenwunsch und ökonomische ärztliche Interessen. Akupunkturleistungen werden in der Behandlung chronischer Rückenschmerzen und chronischer Knieschmerzen (Gonarthrose) von den gesetzlichen Krankenversicherungen vergütet, nicht jedoch bei FMS. Die Notwendigkeit einer Rückenschmerzdiagnose zur Abrechnung der Akupunkturleistung kann ein weiterer Grund für die hohe Prävalenz von 82% Rückenschmerzdiagnosen bei den FMS-Patienten sein.

TENS-Behandlungen wurden ebenfalls – trotz einer Evidenz für fehlende Wirksamkeit und einer negativen Empfehlung in der FMS-Leitlinie [19] – bei 7% der FMS-Patienten eingesetzt.

Die Häufigkeit von psychotherapeutischen Leistungen mit etwa 8% erscheint sehr gering, zumal bei 50% der Betroffenen zusätzlich eine Depression, und bei 17% gleichzeitig eine Angststörung diagnostiziert wurde. Eine Psychotherapie wurde in der Leitlinie bei komorbiden seelischen Störungen empfohlen [22]. Diese Zahlen scheinen klinische Erfahrungen zu bestätigen, wonach die Betroffenen in der Erkrankung eher eine körperliche Ursache vermuten und eine Fokussierung auf die seelische Ebene durch die Psychotherapie ablehnen. Eine alternative Erklärung ist, dass ambulante Psychotherapeuten es versäumen, für FMS-Patienten passende Psychotherapieangebote zu machen, in die auch Erkenntnisse der psychologischen Schmerztherapie einfließen. Die relative häufige Anwendung von Gesprächsleistungen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung ist jedoch leitlinienkonform [12].

Im ambulanten Sektor waren interventionelle Injektionstechniken in den Top 5 der erbrachten Leistungen vertreten entgegen den Empfehlungen der Leitlinie [19]. Die Häufigkeit der Anwendung interventioneller Verfahren lässt sich unseres Erachtens nicht durch mögliche Komorbiditäten erklären. Auch hier scheinen sich Patientenwunsch und ökonomische Anreize bei der Vergütung zu verbinden.

Stationäre Behandlungen

Auch wenn bei den stationären Leistungen leitlinienkonform die multimodale Schmerztherapie überwog [1], wurden – wie im ambulanten Bereich – interventionelle Verfahren eingesetzt, deren Häufigkeit unseres Erachtens nicht durch mögliche Komorbiditäten zu erklären ist. Auch hier dürften ökonomische Anreize eine nicht unerhebliche Rolle spielen, zumal diese Verfahren nicht zwingend einen stationären Aufenthalt erfordern.

Krankheitskosten

Aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden ist der Vergleich mit anderen Studien eingeschränkt. Die jährlichen direkten Krankheitskosten von 3160 € und indirekten Krankheitskosten von 721 € der BARMER-Stichprobe liegen im Bereich der Schätzungen der IMS-Medi-Plus-Studie [2]. Lachaine et al. [14] berechneten jährliche direkte Krankheitskosten von 4065 $ in Kanada [14]. Kleinman et al. [11] berechneten jährliche direkte und indirekte Krankheitskosten für FMS-Patienten von 8452 $ vs. 11,253 $ für Arthrose und 4013 $ für Nicht-FMS-Kontrollen [11]. Die Krankheitskosten bei deutschen Patienten scheinen denen der kanadischen Patienten vergleichbar. Die Krankheitskosten bei den US-amerikanischen Patienten liegen höher, vermutlich wegen des höheren Anteils berufstätiger Patienten mit Bezug von Krankengeld sowie des Einschlusses von Rentenzahlungen in die Kalkulation der indirekten Krankheitskosten.

Einschränkungen

Die Sensitivität und Spezifität der in der Studie verwendeten Definition eines FMS ist nicht bekannt, da die zur FMS-Diagnose verwendeten Kriterien der jeweiligen Ärzte unbekannt sind. Es gibt jedoch keinen Goldstandard zur Diagnose des FMS [6].

Die Daten zum Medikamentengebrauch beschränken sich auf verschreibungspflichtige Medikamente. Ob die verschriebenen Medikamente auch eingenommen wurden bzw. ob zusätzlich frei verkäufliche Medikamente verwendet wurden, lässt sich nicht erfassen.

Datenauswertungen einer Krankenkasse können stets nur mit Einschränkungen die Versorgungsrealität abbilden. Krankenkassendaten sind Abrechnungsdaten, dies bedeutet, dass nur das kodiert wird, was auch erlösrelevant ist. Die stationären Abrechnungsdaten weisen die höchste Datenqualität aller bei einer Kasse verfügbaren Daten auf.

Trotz der hohen Patientenzahl ist die Stichprobe vermutlich nicht vollständig repräsentativ, da AOK- und Privatversicherte nicht erfasst wurden. Es ist z. B. möglich, dass nicht empfohlene teurere Behandlungen, wie interventionelle Verfahren, bei privatversicherten FMS-Patienten häufiger eingesetzt werden als bei Patienten von Ersatzkassen der allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK).

Die 1-Jahresprävalenz des FMS bei Versicherten der BEK lag mit 0,3% deutlich unter den Punktprävalenzraten von 3,2–3,8% aus epidemiologischen Studien in Deutschland [9]. Aufgrund der hohen Raten psychischer Komorbiditäten in der vorliegenden Stichprobe ist es möglich, dass in der Stichprobe schwere und chronifizierte Verlaufsformen überwogen und die Krankheitskosten des FMS daher überschätzt wurden. Weiterhin ist bei den Prävalenzen zu beachten, dass in die Stichprobe nur die Versicherten eingeschlossen wurden, die in den betrachteten Quartalen mehr als zwei Abrechnungsfälle mit der Diagnose M79.7 (FMS) erhielten. Damit wurden die Patienten ausgeschlossen, bei denen nur einmalig diese Diagnose kodiert wurde.

Ein Vergleich der Krankheitskosten mit einer alters- und geschlechtsgematchten Kontrollgruppe von Patienten mit anderen chronischen Schmerzsyndromen (z. B. Arthroseschmerz) erfolgte nicht.

Schlussfolgerungen

Zusammen mit der GEK- und IMS-Medi-Plus-Studie belegt die Analyse der BARMER die Fehlversorgung eines hohen Anteils von FMS-Patienten sowie die hohen FMS-assoziierten Krankheitskosten in Deutschland. Krankenkassendaten können in Zukunft die Grundlage einer Überprüfung der Umsetzung der Empfehlungen der S3-Leiltinie zum FMS, aber auch weiterer Leitlinien sein.

Leitlinien sind für Ärzte nicht rechtlich bindend und haben weder haftungsbegründende noch -befreiende Wirkung [4]. Daher bleibt es den Ärzten in der Patientenversorgung überlassen, ob sie ihre Therapieentscheidungen an den Leitlinienempfehlungen ausrichten oder nicht. Ökonomische Aspekte fließen neben dem Patientenwunsch in ärztliche Therapieentscheidungen ein. So lange vor allem interventionelle Therapieverfahren wie Nervenblockaden ambulant wie stationär gut bezahlt werden, werden diese auch weiterhin angewendet werden. Diskutiert werden muss daher die Frage, ob Leitlinien allein eine Änderung des ärztlichen Verordnungsverhaltens herbeiführen können, oder ob hierzu nicht zielgerichtete Vergütungsanreize im Rahmen von abgestimmten Versorgungsprozessen notwendig sind.

Fazit für die Praxis

Die Daten der ehemaligen BARMER belegen eine nichtleitlinienkonforme Behandlung eines erheblichen Teils der FMS-Patienten mit NSAR, starken Opioiden, Akupunktur und invasiven Maßnahmen (Injektionen an der Wirbelsäule und Nervenwurzeln) in Deutschland. Die Fehlversorgung mit invasiven Maßnahmen kann durch Abrechnungsanreize und den vergeblichen ärztlichen Versuch bzw. Patientenwunsch, einen chronischen Schmerz in mehreren Körperregionen lokal zu behandeln, erklärt werden. Insbesondere bildet sich in den Daten die Kollision ethischer und wirtschaftlicher Aspekte ab.

Die Fehlversorgung mit NSAR und starken Opioiden kann auf dem vergeblichen ärztlichen Versuch bzw. Patientenwunsch beruhen, einen hohen polysymptomatischen Leidensdruck mit starken Medikamenten zu lindern.

Die BARMER-Daten belegen, dass psychische Komorbiditäten beim FMS häufig und für das therapeutische Vorgehen zu berücksichtigen sind.

Die interdisziplinäre S3-Leitlinie zum Fibromyalgiesyndrom stellt dem Praktiker einen Handlungskorridor für sinnvolle therapeutische Maßnahmen beim FMS zur Verfügung. Im Langzeitmanagement von FMS-Patienten sind aktivierende körperliche und psychologische Maßnahmen sowie eigenständig anwendbare Ganzkörperwärmemaßnahmen zu bevorzugen [12].