Einleitung: Das „Autonomieparadigma“ als Kennzeichen von Patient und Kunde

Als eines der aktuell vorherrschenden medizinethischen Prinzipien gilt die Patientenselbstbestimmung oder -autonomie ([37], S. 926). Sie bezeichnet das Recht des Patienten,Footnote 1 ohne den Einfluss Dritter über Grenzen des eigenen Lebens sowie der körperlichen Unversehrtheit zu verfügen ([29], S. 24). Der Patient wird im Kontext dieses „Autonomie-Paradigmas“ als aktiver, informierter und involvierter Teilnehmer des medizinischen Versorgungsprozesses verstanden und damit, wie Stiggelbout et al. [36] schreiben, häufig in Anlehnung an das liberal individualistische Konzept von Beauchamp und Childress [4] verstanden: Patienten sind Wählende, die intentional und bewusst agieren, ohne determinierende externe Einflüsse ([36], S. 268).Footnote 2

Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Debatte um Patientenrechte erst in jüngster Zeit den „selbstbewusste(n) Beitragszahler und kritische(n) Verbraucher“ [5] betont, ist im Kontext der US-amerikanischen Medizin die Tendenz zum Bild von einem autonomen und selbstbewussten Patienten schon länger ausgeprägt. Das Verständnis vom Patienten entwickelte sich dort in den letzten 30 Jahren, so William Andereck, von einem Träger negativer Rechte, d. h. beispielsweise Abwehrrechte gegen bestimmte medizinische Behandlungen, zu einem Inhaber von positiven Rechten, die es ihm weitgehend erlauben, jederzeit über alle Aspekte der Therapie Kontrolle auszuüben ([1], S. 111).

Deutlich wird bei diesem Verständnis des autonomen Patienten die Nähe zur Kundenrolle, die aktuell durch das Schlagwort der Kundenorientierung als Leitbild des Dienstleistungssektors, aber auch generell durch Modernisierungsprozesse im Gesundheitswesen in Deutschland Fuß gefasst hat ([23], S. 157; [24]). Kunden werden aus einer ökonomischen Perspektive verstanden als „autonomous, self-regulating and self-actualizing individual actors“ ([9], S. 622–623) und sind somit „selbstbestimmte, von ihren Wünschen und Bedürfnissen geleitete Konsumenten“ ([30], S. 51), die sich vor allem durch ihre Autonomie sowie eigene Willensbildung und Selbstverantwortung charakterisieren lassen.

Im Zuge der zunehmenden Kundenorientierung sowie der Reformen im Gesundheitswesen zeichnen sich begriffliche Transformationen der Patientenrolle ab, die vor allem auf die Aspekte von Autonomie und Eigenverantwortung verweisen: Kunde, Konsument [12], Bürger [2] oder Ko-Produzent ([8], S. 250). Kritische Stimmen weisen hierbei jedoch auch auf die notwendige gesamtgesellschaftliche Abwägung der Risiken einer Übertragung von Kundeneigenschaften auf den Patienten hin [10, 27, 39]. So werden bspw. die Folgen für das Arzt-Patient-Verhältnis wie der Verlust von Vertrauen problematisiert [17], aber auch nach der tatsächlichen Selbstbestimmung von Patienten als Charakteristikum der Kundenrolle gefragt. Denn auch wenn die medizinische Praxis grundsätzlich von der Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten ausgeht, so sind Einschränkungen derselben gerade in der Arzt-Patient-Beziehung evident, hervorgerufen durch den Laienstatus des Patienten, fehlende Informationen, eingeschränkte Wahlmöglichkeiten, krankheitsbedingte Abhängigkeit etc.

Im Folgenden wollen wir deshalb der aktuellen Frage nachgehen, ob das „Kunden-Paradigma“ im Gesundheitswesen eine praktische Anwendung findet oder ob es nur eine theoretisch idealisierte Annahme von Patienteneigenschaften wie der Autonomie darstellt. Hierbei wollen wir uns auf vulnerable Patientengruppen fokussieren, da die Frage nach Kundenstatus und Autonomie vor allem in Kontexten besonderer Vulnerabilität bedeutsam wird, wie bspw. bei Patienten der Psychiatrie, Geriatrie, Notfallmedizin oder Palliativmedizin. Diese Patienten zeichnen sich dadurch aus, dass sie aufgrund der Schwere oder Art ihrer Krankheit nicht oder nur stellenweise in der Lage sind, ihre Interessen bzw. relevanten Rechte selbstbestimmt wahrzunehmen, und folglich auch leichter Objekte von Zwang, Manipulation und Ausbeutung werden können ([4], S. 89). Genauer werden wir in der vorliegenden Arbeit fragen, wie sich die Rezeption des Kundenparadigmas bei vulnerablen Patientengruppen am Beispiel von Palliativpatienten verhält: Schreiben sich diese die Kundenrolle zu und agieren sie im Prozess der Entscheidungsfindung selbstbestimmt? Und kann die Zuschreibung der Kundenrolle als Ausdruck einer Veränderung des Arzt-Patient-Verhältnisses sowie der ärztlichen Verantwortung gewertet werden?

Grundlage der Argumentation des Artikels wird eine qualitative Studie aus den Jahren 2009/2010 am Universitätsklinikum Freiburg sein, in der Palliativpatienten im Rahmen des Verbundprojekts „Chancen und Grenzen der Kundenorientierung in der Medizin“Footnote 3 hinsichtlich ihrer Sichtweise zum Thema „Der Patient als Kunde“ befragt wurden. Palliative Care soll als spezifisches Analysesetting dienen, da Palliativpatienten aufgrund ihrer schweren Erkrankung sowie der begrenzten Lebensperspektive als besonders vulnerabel gelten und den souveränen Kundenstatus konterkarieren. Gleichzeitig ist jedoch in der Palliativmedizin die Sicherung von Lebensqualität der schwerstkranken Menschen von zentraler Bedeutung, welche in einem holistischen Sinne medizinische, psychologische, soziale und spirituelle Aspekte umfasst ([15], S. 147). Der Anspruch der Palliativversorgung und ihr Motiv der Lebensqualität gehen also über die Zielsetzungen der üblichen medizinischen Versorgung hinaus: Die Wünsche und Interessen der Patienten werden nicht zurückgestellt, sondern bewusst berücksichtigt ([15], S. 148). Dies kann als kundenorientiertes Verhalten gedeutet werden, versteht man Letzteres als systematische Erfassung der leistungs- und interaktionsbezogenen Bedürfnisse von Kunden sowie als Verhaltensausrichtung an den erkannten Kundenbedürfnissen ([20], S. 174).

Wir stellen in dem vorliegenden Artikel zunächst die Studienergebnisse vor, die in der Typologisierung der Patienten die Frage verfolgen, welche Assoziationen Patienten mit den Konzepten von Kunde und Patient verbinden und ob die mit dem Konzept des Kunden postulierte Entscheidungshoheit und Selbstbestimmung des Patienten mit seinem Selbstbild einhergehen. Anschließend zeigen wir, inwieweit hiervon das Konzept der ärztlichen Verantwortung berührt wird und ob Veränderungen der ärztlichen Verantwortung gegenüber dem Patienten entstehen, wenn der Patient sich als Kunde versteht. Es wird sichtbar, dass sich ärztliche Verantwortung durch das Kundenparadigma nicht verändern darf, sondern dass die Rede vom Patienten als Kunde nur Ausdruck des Wunsches nach individualisierter Behandlung und Selbstbestimmung des Patienten ist. Deshalb muss danach gefragt werden, wie diesem Wunsch nachgekommen und dies als Teil ärztlicher Verantwortung begriffen werden kann. Auf der Grundlage der in der Medizinethik noch relativ wenig beachteten „Ethics of Care“ zeichnen wir dann ein Bild der ärztlichen Verantwortung, das sich auf den Beziehungscharakter des Arzt-Patient-Verhältnisses konzentriert und somit einen wichtigen Beitrag für ein differenziertes Verständnis ärztlicher Zuwendung zum Patienten leistet.

Die Studie

Die qualitative Studie „Chancen und Grenzen der Kundenorientierung am Beispiel der Palliativmedizin“ wurde innerhalb des interdisziplinären Verbundprojekts „Chancen und Grenzen der Kundenorientierung in der Medizin“ durchgeführt. Ausgehend vom Topos des selbstbestimmten Patienten wurden Palliativpatienten zu ihren subjektiven Konzepten von Selbstbestimmung in Verknüpfung bzw. Abgrenzung zum jeweiligen Patienten- und Kundenverständnis befragt. Folgende Fragestellungen standen im Mittelpunkt:

  • Inwieweit attribuieren sich Palliativpatienten die Rolle des Patienten, inwieweit die Rolle des Kunden und wo zeigen sich Brüche in diesen Konstruktionen?

  • Inwieweit erleben sich Palliativpatienten angesichts des Autonomieparadigmas als selbstbestimmt und

  • inwieweit manifestiert sich Selbstbestimmung am Prozess der Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient?

Das qualitative Design wurde für die Studie gewählt, da es Raum lässt für die Relevanzsetzungen der Befragten im Kontext ihrer eigenen Lebenswelt. Durch die offenen Fragestellungen und das bewusste Zurückstellen eigener Deutungen des Interviewenden ist es in ganz besonderer Weise möglich, einen offenen Äußerungsraum zu schaffen, der durch Bedeutungen, Strukturierungen und Sinnzuweisungen des Befragten gefüllt werden kann. Erst hierdurch wird die Rekonstruktion des Sinns der Aussagen der Befragten in der Tiefe möglich. Dies bot sich für die vorliegende Erhebung besonders an, da sich bisher keine Studie zur Patientenperspektive findet, welche Kundenorientierung im Kontext von Vulnerabilität fokussiert.

Studiendesign

Das Studiensample umfasst 25 Palliativpatienten, die sich stationär auf der Palliativstation des Universitätsklinikums Freiburg befanden. Inklusionskriterien für das Sampling der Patienten waren: die unheilbare, progressive und fortgeschrittene Krankheit sowie die geistige, mentale und körperliche Verfasstheit, um ein 30- bis 50-minütiges Interview zu führen. Nach der Zustimmung durch die Ethik-Kommission der Universität Freiburg (Antrags-Nr. EK-Freiburg: 408/09, Datum der Zustimmung: 10.12.2009) wurden folgende Befragte anhand eines Stichprobenplans von November 2009 bis August 2010 rekrutiert: 12 Männer und 13 Frauen, 5 Befragte mit Migrationshintergrund sowie eine relativ breite Altersspanne (34–86 Jahre, Durchschnittsalter: 65 Jahre).

Die Interviews wurden anhand eines semi-strukturierten Leitfadens geführt, digital aufgezeichnet und nach ihrer vollständigen Transkription in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) [35] im Analyseteam anhand der integrativen texthermeneutischen Analysemethode nach Helfferich/Kruse [19] ausgewertet. Die integrative texthermeneutische Analysemethode analysiert abschnittsweise zunächst deskriptiv neben dem inhaltlichen Faktengerüst auf vier sprachlich-kommunikativen Ebenen: 1) die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem, 2) die Syntaktik, 3) die Semantik sowie 4) die Erzählfiguren und -gestalt. Nach der umfassenden Deskription wurden in einem zweiten interpretativen Schritt für die einzelnen Passagen Lesarten – oder auch zentrale Motive genannt – vorgeschlagen, die im Analyseteam auf Konsistenz über das gesamte Interview überprüft und schließlich in Form von Fallexzerpten dokumentiert wurden.

Anschließend erfolgte die Kodierung der Fallexzerpte nach dem inhaltsanalytischen Verfahren der induktiven Kategorienbildung [28] unter Zuhilfenahme des Softwareprogramms MAXQDA. In den letzten Analyseschritten fand eine komparative Queranalyse anhand der gebildeten Kategorien statt sowie eine Typologisierung der Ergebnisse [21] (s. Abb. 1 Footnote 4).

Abb. 1
figure 1

Ergebnisse der Typologisierung: Typ 1 Interviews 1, 9, 19; Typ 2 Interview 21; Typ 3 Interviews 2, 4, 5, 8, 11, 12, 24, 25; Typ 4 Interviews 3, 6, 7, 10, 14, 17, 18, 22, 23; Typ 5 Interviews 16, 20

Ergebnisse der Studie

Insgesamt wurden 5 Typen durch den Prozess der Typologisierung identifiziert.Footnote 5 Typ 1 beschreibt sich als Kunde und gleichzeitig mit einem hohen Grad an Selbstbestimmung, die vor allem auf kognitiv-konzeptueller Ebene als Entscheidungshoheit gedacht wird. In der Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient betrachtet Typ 1 in der Folge den eigenen Willen als bestimmend. Es wird jedoch auch deutlich, dass die medizinische Kompetenz und das Wissen des Arztes zentral sind: Selbstbestimmung innerhalb der Entscheidungsfindung ist abhängig von der Kooperation des Arztes und wird damit zur relationalen Selbstbestimmung. Die Kundenrolle wird eng daran geknüpft gedacht: Als Kunde erfolgt eine individualisierte Behandlung, die sich besonders dann zeigt, wenn der Patient/Kunde in den Entscheidungsprozess einbezogen wird.

Typ 2 attribuiert sich ebenfalls die Kundenrolle, da er Aspekte derselben wie die Zentrierung auf das Individuum positiv konnotiert. In der Umsetzungspraxis beschreibt er jedoch die eigene Selbstbestimmung als eingeschränkt sowohl auf kognitiv-konzeptueller Ebene als auch auf Performanzebene. Dies zeigt sich gerade in der Entscheidungsfindung: Typ 2 konstruiert sich als abhängig vom Arzt aufgrund der eigenen physischen Konstitution sowie der Wissensasymmetrie.

Typ 3 und Typ 4 weisen viele Parallelen auf. Beide attribuieren sich die Rolle eines Patienten und weisen entsprechend die Kundenrolle als inkompatibel zur Patientenrolle zurück. Während der Kunde assoziiert wird mit einem aktiv Agierenden, der Dienstleistungen einfordert, auswählt und kauft, ist der Patientenstatus bedingt durch die Krankheit sowie die daraus resultierende notwendige Unterstützung und Betreuung im medizinischen (und sozialen) System. Zusätzlich wird die Patientenrolle durch fehlende Wahlmöglichkeiten definiert. Hieraus folgt eine Abhängigkeit vom medizinischen Personal und dem Arzt in der Entscheidungsfindung – gleich ob Letztere als gemeinsame Entscheidungsfindung oder als Entscheidung des Arztes stattfindet.

Als Unterschied zwischen Typ 3 und 4 wird jedoch deutlich, dass sich Typ 3 eine hohe Selbstbestimmung zuschreibt – vor allem auf kognitiv-konzeptueller Ebene – diese auf der Performanzebene aber nicht einlösen kann. Typ 4 hingegen nimmt deutlich die Einschränkungen in der Selbstbestimmung wahr – vor allem auf der Performanzebene – und problematisiert diese.

Typ 5 schließlich weist Selbstbestimmung in der Krankheit zurück, sowohl auf kognitiv-konzeptueller wie auf Performanzebene. Vor allem Immobilität, Schmerzen körperlicher und emotionaler Art, Abhängigkeit und Hilflosigkeit führen zu der Konstruktion von Fremdbestimmung durch die Krankheit. Entsprechend thematisiert Typ 5 seine Abhängigkeit vom Arzt in der Entscheidungsfindung aufgrund existierender Asymmetrien und negiert die Kundenrolle. Das Charakteristikum des Patienten, nämlich seine Angewiesenheit aufgrund von körperlicher Schwäche, bricht mit der Selbstständigkeit und Handlungsfähigkeit des Kunden. Kunde-Sein wird damit außerhalb des Krankenhauses und getrennt vom Patientenstatus gesehen.

Palliativpatienten als Kunden?

Betrachtet man die fünf Typen, so zeigt sich, dass keine Selbstrepräsentation dem Bild des selbstbestimmten und unabhängigen Kunden entspricht. Eingeschränkt durch Wissens- und Machtasymmetrien, durch fehlende Wahlmöglichkeiten und begrenzte Entscheidungshoheit, durch die Bindung an das Krankenhaus, körperliche Limitationen und die Angewiesenheit auf externe Hilfe und Kooperation durch medizinisches Personal konstruieren sich die Befragten zwar teilweise als Kunden, allerdings nicht als selbstbestimmte Konsumenten, die sich durch Autonomie und eigene Willensbildung charakterisieren.Footnote 6 Der Verweis auf Patienten als selbstbestimmte Konsumenten kann dabei verstärkt in der sogenannten „wunscherfüllenden Medizin“ [22] aufgegriffen werden, die sich auf Formen der Selbstverwirklichung im Bereich des Enhancement, der Schönheitschirurgie oder der Reproduktionsmedizin konzentriert. Offensichtlich vulnerable Gruppen, wie es bei Palliativpatienten der Fall ist, sind in der Diskussion um Kundenorientierung noch weitgehend unbeachtet geblieben.

Selbstbestimmung in Abhängigkeit vom Arzt?

Gerade Selbstbestimmung als ein Hauptcharakteristikum des souveränen Kunden scheint im Kontext der Palliativmedizin ambivalent belegt. Auf kognitiv-konzeptueller Ebene wird Selbstbestimmung zwar weitreichend als Selbstverständlichkeit verstanden und deren Wichtigkeit für Gesundheit und Krankheit betont. Gleichzeitig werden jedoch auch die Grenzen von Selbstbestimmung deutlich reflektiert und auf der Ebene der Performanz konstatiert. Sichtbar wird der Bruch von kognitiv-konzeptueller Ebene und Performanzebene am Beispiel der Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Palliativpatient. Durch die zentrale Bedeutung der ärztlichen Expertenrolle beeinflusst der Arzt die Entscheidungsfindung immer mit – gleich bei welchem gefundenen Typus. Dies zeigt sich also nicht nur bei den Typen, die von einer eingeschränkten Selbstbestimmung sprechen und/oder sich als Patienten repräsentieren, sondern auch bei den Typen, die sich den Kundenstatus zuschreiben sowie bei den Typen, die sich als Patienten eine hohe Selbstbestimmung attribuieren. Selbstbestimmung in der Entscheidungsfindung findet also nicht kontextfrei statt, sondern wird durch den Arzt als Professionellem beeinflusst und damit zu einer relationalen Selbstbestimmung.

Im Hinblick auf den Kundenbegriff wird außerdem deutlich, dass Palliativpatienten zwar den Wunsch nach kundenorientiertem Verhalten bzw. Kundenzentrierung ausdrücken. Sie können diesen Wunsch jedoch nicht im Sinne neuer Partizipationschancen oder eines erweiterten Empowerments gegenüber medizinischem Personal einsetzen. Denn wie aus den Typen 1 und 2, die sich die Kundenrolle attribuieren, ersichtlich wird, beschreiben diese auf performativer Ebene kein aktives Verhaltens- oder Handlungsrepertoire, das sie als Kunde kennzeichnet, sondern sie werden durch das Zugeständnis und Handeln des Arztes zum Kunden. Hierdurch reproduzieren die Palliativpatienten mit den Ärzten bisherige Machtasymmetrien. Wie auch in anderen empirischen Studien zeigt sich somit, dass „professionelle Macht und die Dominanz medizinischen Wissens auch in modernisierter Variante nicht grundlegend an Bedeutung verlieren“ ([25], S. 199).

Wunsch nach individualisierter Betreuung als Ausdruck ärztlicher Verantwortung

Dennoch werden – bei der Zusammenfassung der Studienergebnisse – auch Chancen im Hinblick auf Kundenorientierung durch die Befragten wahrgenommen. Positiv konnotiert wird die Kundenrolle vor allem aufgrund der mit ihr verbundenen Zentrierung auf das Individuum und dessen Wünsche in Beratung und Behandlung. Der Wunsch nach Orientierung am Einzelnen zeigt sich in den empirischen Daten jedoch nicht nur im Kunden-, sondern auch im Patientenbegriff inbegriffen. Die positiv belegten, (vor allem) psychosozialen Aspekte des Kundenbegriffes wie bspw. Betreuung, Aufmerksamkeit, Kommunikation, Zeit für den Einzelnen werden in der Regel auch für den Patientenstatus auf der Palliativstation thematisiert. Sichtbar wird hier der zentrale Wunsch der Palliativpatienten nach einer individualisierten Behandlung – unabhängig von der Selbstrepräsentation als Kunde oder Patient –, der sowohl im Patienten- wie auch im Kundenbegriff aufzugehen vermag.Footnote 7

Die Implikationen aus den vorliegenden Daten verweisen somit zum einen auf die zentrale Rolle des Arztes im Entscheidungsprozess und zum anderen auf die besondere Verantwortung der Ärzte zur Wahrnehmung (und Umsetzung) von Individualisierung und Patientenzentrierung bei vulnerablen Patientengruppen. Die Ergebnisse wie auch andere Autoren [6] betonen also, dass es in der Verantwortung des Arztes sowie an seiner Kooperation liegt, Patienten die Ausübung von Selbstbestimmung zu ermöglichen. Der Arzt übernimmt in medizinischen Entscheidungssituationen offensichtlich einen Großteil an Verantwortung,Footnote 8 da eine „existentielle Bedeutsamkeit der Ergebnisse medizinischen Handelns“ ([40], S. 36) für den Patienten gegeben ist. Der Arzt verfügt zugleich nicht nur über sachliche Kompetenz, sondern sollte auch eine „humanitäre Gesinnung und mitmenschliche Haltung“ ([31], S. 198) besitzen, die dem Patienten in (existentiellen) Entscheidungssituationen Orientierung bieten soll. Das heißt, die professionelle Verantwortung des Arztes kann sowohl als „backward model of liability, but also as a future-oriented model of guidance“ [33] verstanden werden.

Gerade der Punkt der Orientierungsfunktion und -kompetenz kann im Rahmen ärztlichen Handelns darauf verweisen, dass sich Verantwortung aus der Komplexität der Situation entwickelt: den (technischen) Möglichkeiten der Medizin, gewissen ökonomischen Erwägungen, aber vor allem auch den Besonderheiten des Patienten.

Wie kann man nun aber eine gelungene Arzt-Patient-Beziehung beschreiben, die diesen Faktoren, und im Speziellen dem Anspruch der individualisierten Betreuung und der Ermöglichung von Selbstbestimmung, Rechnung trägt? Dafür verweisen wir im Folgenden auf eine ethische Theorie, die Care-Ethik, deren Untersuchungsgebiet die Spezifizität von Situationen und zwischenmenschlichen Beziehungen ist und die das moralisch Gebotene aus diesen konkreten Beziehungen ableitet. Sie eignet sich folglich besonders, um den Aspekt von relationaler Autonomie und individualisierter Behandlung in der Arzt-Patient-Beziehung auszudifferenzieren.

Die Ethics of Care und ärztliche Verantwortung

Die Ethics of Care oder Care-Ethik ist eine Theorie, die sich in erster Linie mit der Abhängigkeit, Vulnerabilität, Zwischenmenschlichkeit und Partikularität von Beziehungen beschäftigt und daraus ihre normativen Forderungen ableitet. Dabei wird der Fokus trotz des weiten Spektrums der Positionen zumeist auf die moralisch relevante Praxis [7] des „Caring“ gelegt. Der Begriff der relationalen Autonomie, wie wir ihn in Bezug auf unsere Studienergebnisse eingeführt haben, ist entscheidend durch Vertreter der feministischen Ethik und der Care-Ethik geprägt [26] und auf das Arzt-Patient-Verhältnis übertragen worden [13]. Der ideale Arzt wird hierbei als Person betrachtet „who is caring, rather than objective“ ([34], S. 144). Im Mittelpunkt der Care-Ethik stehen weder die technische Expertise des Arztes, seine Autorität noch die Fokussierung auf die Patientenrechte, sondern zentral ist die Praxis der fürsorglichen Zuwendung.

Joan Tronto hat die Dimensionen des „Caring“ folgendermaßen beschrieben: „Caring About. […] It involves noting the existence of a need and making an assessment that this need should be met. […] Taking Care of. […] It involves assuming some responsibility for the identified need and determining how to respond to it. […] Care-giving involves the direct meeting of needs of care. It involves physical work, and almost always requires that care-givers come in contact with the objects of care. […] Care-receiving. The final phase of caring recognizes that the object of care will respond to the care it receives“ ([38], S. 106–107).

Angewandt auf den klinischen Kontext beinhaltet dies folgende Implikationen für die Ausübung der ärztlichen Rolle innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung: Zunächst bedarf es im Sinne des „Caring About“ einer Achtsamkeit bzw. Aufmerksamkeit gegenüber der Bedürftigkeit des Patienten sowie der Feststellung, dass dieser Abhilfe geleistet werden kann. Dies inkludiert natürlich das Fachwissen des Arztes zur Beurteilung des Krankheitsbildes.

Darüber hinaus bedarf es jedoch auch der Kompetenz des „Care-giving“, die sich nicht nur in der technischen Expertise des Arztes erschöpft, sondern eine gewisse Empathie mit dem Patienten und seiner Lebenssituation verlangt. Dieser holistische Zugang zur Gesamtverfasstheit des Patienten muss nicht über die Ebene der professionellen Zuwendung hinausgehen, d. h. es müssen nicht alle Lebensfragen und -nöte geklärt werden. Doch das Wahrnehmen der Lebensumstände eines Patienten, die seine Präferenzen und Werte mitbestimmen, ist für die Entscheidungsfindung von großer Bedeutung. Denn das Beachten der sozialen Faktoren beschützt den Patienten vor der – dem klinischen Alltag inhärenten – Asymmetrie in Macht und Wissen und liefert so eine Unterstützung der Patientenautonomie.

Der vierte Punkt des „Caring“ bei Tronto ist das „Care-receiving“, welches nicht als eine reziproke Handlung zu verstehen ist. Der Patient wird in den meisten der Fälle in irgendeiner Weise auf die Behandlung reagieren und ansprechen. Dennoch ist das „Care-receiving“ einseitig, da beim Arzt im Zuge der Behandlung nicht die Aussicht auf eine Gegengabe des Patienten in die Motivation mit einfließt ([7], S. 56–57). Die Reaktionen der Patienten dienen dem Arzt vielmehr als „a reminder of […] the dangers faced by people who are vulnerable at the hands of their care-givers“ ([3], S. 104–105) und lassen den Arzt seine Verantwortung für den Patienten erkennen.

Auf den ersten Blick scheint die Care-Ethik einer ähnlichen Verabsolutierung des Wohltuns bzw. Beneficence-Gedankens zu unterliegen, wie es in der Bioethik seit Jahrzehnten dem paternalistischen Arzt-Patient-Verhältnis vorgehalten wird. Patientenautonomie wird im Paternalismus lediglich als „patient assent […] to the physician’s determination of what is best“ ([11], S. 68) verstanden. So kommt dem Arzt die Bestimmungshoheit über das medizinisch Machbare und Sinnvolle zu – zum Wohle des Patienten. Eine wirkliche Abwägung der Positionen von Arzt und Patient ist jedoch nicht vorgesehen. In der Care-Ethik hingegen ist der Fürsorgegedanke aber gerade nicht beschränkt auf ein reines „Caring About“, d. h. auf eine Feststellung der Bedürftigkeit und die Ableitung der medizinischen Interventionen. Dies wäre paternalistisch, da hier die Perzeption des Arztes, was das Wohl des Patienten sei, im Mittelpunkt steht und außerdem fragwürdig ist, ob die Interpretation des Arztes wirklich die besten Konsequenzen für den jeweiligen Patienten bedingt. Die Care-Ethik geht mit den verschiedenen Dimensionen des „Caring“ darüber hinaus und formuliert den Anspruch, eine hohe Sensibilität in der Patientenkommunikation für die „embededness in familial and social and historical contexts“ ([18], S. 14) zu besitzen. Damit betont sie die Relationalität der Autonomieausübung, d. h. Entscheidungen von Patienten werden im Kontext ihrer Entstehungsbedingungen betrachtet, was zur Folge hat, dass Ärzte kontextsensitiv auf die Bedürfnisse ihrer Patienten eingehen sollten. Nicht die Behandlungsentscheidung zwischen Arzt und Patient steht im Vordergrund, sondern durch die Care-Ethik wird der Fokus auf die Patientenkommunikation gelegt und deren Relevanz für Behandlungsentscheidungen betont.

Natürlich existiert in der klinischen Realität ein Mangel an gelungener Care-Praxis und sie bleibt ein Ideal [3, 16]. Doch kann die Diskussion der Care-Ethik aktuell bestehende Paradigmen der klinischen Praxis – wie die einer kategorialen statt einer individualisierten Behandlung von Patienten – durch die Betonung der Situationsbedeutung sowie der spezifischen Eingebundenheit des Patienten hinterfragen. Zugleich trägt sie dazu bei, die vorherrschende Vorstellung vom individualistischen Autonomiekonzept, wie sie etwa mit dem Topos des Kunden in der Medizin impliziert wird, kritisch zu beleuchten. Wie die Ergebnisse der Studie zeigen, ist ganz unabhängig von der Selbstdefinition als Kunde oder Patient und der spezifischen Attribuierung dieser beiden Begriffe die ärztliche Kompetenz und Verantwortung (nach wie vor) äußerst bedeutsam, nämlich in Form des gemeinsamen Erarbeitens von Patientenvorstellungen und -präferenzen, um ein gelungenes Arzt-Patient-Verhältnis herzustellen.

Zusammenfassung

Die Betonung der Autonomie des Patienten und der Einzug des Kundenbegriffs in die Medizin über die letzten Jahrzehnte hinweg haben viele Fragen aufgeworfen – gerade auch Fragen nach der Beeinträchtigung des Arzt-Patient-Verhältnisses sowie der ärztlichen Verantwortung. Durch eine kritische Reflexion des liberal-individualistischen Autonomiekonzepts, wie es im Zusammenhang mit dem Kundenbegriff oftmals erwähnt wird, konnten wir die Grenzen eines solchen Verständnisses speziell bei vulnerablen Patientengruppen aufzeigen. Im Rahmen der vorgestellten Studie wurde des Weiteren hervorgehoben, dass sich ärztliche Verantwortung dem vulnerablen Patienten gegenüber unabhängig von den konzeptuellen Vorstellungen des Patienten zu Autonomie konstituiert: Der Patient befindet sich hier immer in Abhängigkeit vom medizinischen Personal. Durch den Begriff der relationalen Autonomie, wie er auch in der „Ethics of Care“ verwendet wird, wurde versucht, die Dimensionen der ärztlichen Verantwortung im Arzt-Patient-Verhältnis genauer zu bestimmen, die sich durch das Kundenparadigma nicht verändert haben, sondern vielmehr den entscheidenden Faktoren für ein gelungenes Arzt-Patient-Verhältnis neuen Nachdruck verleihen. Die Notwendigkeit einer individualisierten und kontextualisierten Betreuung statt einer Betonung von Patientenautonomie wurde herausgestellt und auf das Potenzial der „Ethics of Care“ für die medizinethische Diskussion verwiesen.