Schlüsselregionen sind Körperregionen, von denen besonders häufig und intensiv Fernwirkungen –sowohl pathogenetische Verkettungen als auch therapeutische Wirkungen – ausgelöst werden [7, 8, 14, 15, 18, 19, 20]. Funktionsstörungen in diesen Bereichen erzeugen an scheinbar entfernten Stellen des Körpers Reaktionen, weitere Funktionsstörungen oder/und Schmerzsyndrome. Wir sprechen von „Verkettungssyndromen“. Beim Erwachsenen sind als Schlüsselregionen besonders die Übergangsabschnitte der Wirbelsäule bekannt, so der kraniozervikale, der zervikothorakale, der thorakolumbale und der lumbosakrale Übergang, aber auch die Fußregion.

Die pathogenetische Wirksamkeit der Schlüsselregionen wird derzeit über die statisch-dynamische Regulation erklärt, wobei Muskel- und Faszienketten die Vermittler sind [18]. Spannungen werden faszial, myofaszial und viszerofaszial weitervermittelt, wobei sich kraniokaudale und distoproximale Ketten besonders in den genannten Übergangsregionen kreuzen und verdichten. Zum anderen sind die Schlüsselregionen wesentlich zahlreicher mit propriozeptiven Afferenzen versorgt als andere Regionen. Neurophysiologisch haben sie daher Vorrang bei der Reizleitung und -beantwortung. Eine Störung in diesem Bereich wird segmental, suprasegmental und zentral bevorzugt und schneller beantwortet und erhält dadurch eine stärkere pathogenetische Bedeutung. Glücklicherweise ist durch die Dominanz der Schlüsselregionen aber auch deren Behandlung besonders erfolgreich, wie scheinbar verblüffende Erfolge, z. B. bei der Behandlung der „schiefen Säuglinge“, immer wieder zeigen [6].

Der Ablauf des Verkettungsvorganges wird beim Erwachsenen wesentlich von seiner Statik bestimmt, bspw. von den individuellen Verhältnissen seines aufrechten Standes und dem motorischen Stereotyp seines Ganges. Beim Säugling und Kleinkind sind diese Bedingungen anders: Je nach Entwicklungsstand sind die Bewegungsmuster in Rückenlage, Bauchlage, im späteren Verlauf als Dreh- und Krabbelbewegung spezifisch. So ist erklärbar, dass die verschiedenen Schlüsselregionen in ihrer pathogenetischen Relevanz sich von denen des erwachsenen Menschen unterscheiden. Offensichtlich ändert sich das erst nach Abschluss der Vertikalisierung und Ausbildung der endgültigen motorischen Stereotype. Bei Durchsicht der Literatur fällt auf, dass oft Schlüsselregionen beschrieben werden, eine statistische Aufschlüsselung der Befunde aber nur selten erfolgte [23]. Hier zeigt sich wieder einmal die Empirie unseres medizinischen Denkens [13].

So stand bisher meist die Bedeutung der kraniozervikalen Schlüsselregion bei Lageasymmetrien der Säuglinge ohne wesentliche Beachtung weiterer Schlüsselregionen im Vordergrund [22]. Dabei geht es bei der Befunderhebung nicht nur um „Blockierungen“ oder einzelne Muskelbefunde, nicht um Zufallsbefunde ohne Pathogenität, wie sie jeder aufmerksame Untersucher findet, sondern um den Zusammenhang mit anderen reflektorischen Veränderungen, „somatic dysfunctions“ in osteopathischem Sinn. Denn „nichts ist sinnloser, als jede einzelne Funktionsstörung zu behandeln, die im Verlauf einer Untersuchung diagnostiziert wird. Die Therapie erfolgt erst, wenn die Untersuchung beendet ist, wir die Verkettungen analysiert haben und das entscheidende Glied erkannt haben“ (Lewit [15, 19]). Dieser Aspekt liegt auch den Betrachtungen und Analysen dieser Arbeit zugrunde.

Warum sind Schlüsselregionen besonders beim Säugling wichtig? Funktionsstörungen in diesem Bereich verhindern einen gesunden Bewegungsablauf. Dies hat einen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Kindes. Der Säugling, der den Kopf nicht drehen kann, wird nicht lernen, nach einem Gegenstand zu greifen, und allmählich das Interesse verlieren. Die Folge ist eine gestörte Sensomotorik, wenn sich keine Spontanremission einstellt und das Kind unbehandelt bleibt [6].

Ein einfaches Beispiel aus der Praxis zeigt den Einfluss einer gestörten Schlüsselregion auf den Bewegungsablauf und die weitere Entwicklung des Kindes:

Die Eltern eines 10 Monate alten Mädchens bemerkten eine unzureichende Weiterentwicklung seit dem 7. Monat. Das Kind, mental sehr munter, richtete sich nicht genügend auf, robbte aus der Bauchlage, um Gegenstände zu erfassen. Ein alternierendes Krabbeln war nicht möglich (Abb. 1). Die Erhebung der Anamnese und die Untersuchung des Allgemeinbefundes ergab keine Besonderheiten, der neurologische Status war ohne pathologischen Befund. Im Beckenbereich waren Funktionsstörungen beider Iliosakralgelenke festzustellen. Diese wurden nach nicht zufriedenstellender Mobilisation (Abb. 2) mit einem Manipulationsstoß (Abb. 3) behandelt. Die Kontrolle nach einer Woche war zufriedenstellend, das Mädchen krabbelte nun alternierend (Abb. 4.) und machte bereits Aufrichtversuche aus der Bauchlage heraus (Abb. 5).

Abb. 1
figure 1

10 Monate altes Kind, robbt, krabbelt aber nicht alternierend. (Foto mit freundl. Genehmigung der Eltern)

Abb. 2
figure 2

Manuelle Mobilisation des linken Iliosakralgelenkes. (Foto mit freundl. Genehmigung der Eltern)

Abb. 3
figure 3

Impulsmanipulation des rechten Iliosakralgelenkes. (Foto mit freundl. Genehmigung der Eltern)

Abb. 4
figure 4

Kontrolluntersuchung nach einer Woche: alternierendes Krabbeln. (Foto mit freundl. Genehmigung der Eltern)

Abb. 5
figure 5

Schnelle Weiterentwicklung mit ersten Aufrichtversuchen. (Foto mit freundl. Genehmigung der Eltern)

Über den pathogenetischen Stellenwert der Säuglingslagedeformitäten und über deren Folgen im Laufe des weiteren kindlichen Wachstums und der kindlichen Entwicklung ist viel spekuliert worden; die Meinungen gehen dabei weit auseinander [2, 4]. Dyspraxie und Dysgnosie in unterschiedlicher Form mögen im Kindesalter gehäuft vorkommen bei auffälliger Babyanamnese, konnten aber bisher nicht ausreichend als Folge ausbleibender oder unvollständiger Behandlung von frühkindlichen Funktionsstörungen bewiesen werden. Unser medizinisches Denken entspricht noch allzu oft dem monomanen Bedürfnis, Ursache und Wirkung erklärend auf einen Nenner zu bringen [22]. Im Folgenden gingen wir der Frage nach, wie häufig Schlüsselregionen bei Bewegungsasymmetrien der Säuglinge gestört sind. Wichtig war uns dabei, die Lokalisation der einzelnen gestörten Schlüsselregionen in ihrer Häufigkeit miteinander zu vergleichen. Ist die zervikokraniale Region pathogenetisch wirklich so dominant wie bisher angenommen? In welchem Maße spielen weitere Schlüsselregionen eine Rolle?

Patienten und Methoden

Zwei Ärzte untersuchten im Verlauf eines Jahres insgesamt 1170 Säuglinge in einer orthopädischen Kindersprechstunde. Beide Ärzte sind Orthopäden und haben seit 5 bzw. 35 Jahren eine manualmedizinische Erfahrung bei der Untersuchung und Behandlung von Kindern. Untersucht wurden Säuglinge mit Auffälligkeiten der Lagerung, des Schrei- und Trinkverhaltens, des Entwicklungsstandes sowie mit motorischen Auffälligkeiten, z. B. einseitige Wendemanöver, Kopfschiefstellung, fehlendes alternierendes Krabbeln.

Die kleinen Patienten wurden hauptsächlich von betreuenden Kinderärzten überwiesen, teilweise auch von Physiotherapeuten empfohlen. Zum Teil kamen die Eltern aus eigenem Ermessen, angeregt durch Laienliteratur, wenn das Köpfchen schief gehalten wurde oder bereits deformiert war oder sie bemerkten, dass ihr Kind den Kopf oder den Rumpf beidseitig nicht gleichermaßen drehen konnte. Nicht einbezogen in diese Gruppe wurden alle Kinder mit angeborenen Deformitäten der Extremitäten, mit behandlungsbedürftigen Hüftdysplasien oder -luxationen sowie mit intestinalen Anomalien und auch Kinder, bei denen im Beobachtungszeitraum intestinale Erkrankungen auftraten. Weitere Ausschlusskriterien waren neuropädiatrische Auffälligkeiten bei Erst- oder Kontrolluntersuchung wie Tonuserhöhung oder -verminderung, Reflexausfälle, Reflexsteigerung, pathologische Reflexe. Die endgültige Diagnosestellung war immer erst nach mehreren Kontrollen sicherzustellen. Danach verblieben 787 „gesunde“ Säuglinge, d. h. Säuglinge ohne Verdacht auf eine morphologische Erkrankung (Abb. 6). Wir waren uns auch der Tatsache bewusst, dass die Reproduzierbarkeit der manuellen Untersuchung bei mehreren Untersuchern nicht immer ausreichend ist und die Validität palpatorischer Befunde gering sein kann. Die Fehlerquote lässt sich jedoch bei einer großen Zahl von Probanden relativ gering halten [9, 10, 16, 19].

Abb. 6
figure 6

Altersverteilung der untersuchten Säuglinge (n=787) bei der ersten Vorstellung

Jedes Kind wurde bei der Erstvorstellung einer eingehenden Untersuchung unterzogen:

  • Untersuchung des Allgemeinzustandes

  • Untersuchung des Entwicklungsstandes

  • Beobachtung des psychosozialen Verhaltens

  • Beobachtung der mentalen und sozialen Entwicklung, der Fähigkeit zur altersgerechten Kontaktaufnahme

  • Prüfung des Muskeltonus

  • Reflexuntersuchung

  • Untersuchung der Lagereaktionen

Erst danach wurden die einzelnen Regionen nach manualmedizinischen Gesichtspunkten mit dem Ziel untersucht, gestörte Schlüsselregionen in Abhängigkeit vom Lebensalter der kleinen Patienten aufzulisten. Den üblichen manualmedizinischen Gesichtspunkten der Ärztegesellschaft Manuelle Medizin ([18], Skripten der Kinderkurse) gemäß wurde nach Funktionsstörungen in folgenden Regionen gesucht:

  • in der kraniozervikalen Region von Okziput bis C2,

  • in der thorakalen Region Th1-12 sowie Rippen und Diaphragmen – intestinale Erkrankungen wurden ausgeschlossen,

  • in der Beckenregion mit Untersuchung der Hüftgelenke, Iliosakralgelenke und des lumbosakralen Überganges – alle Grade der Dysplasie und Luxation der Hüftgelenke blieben unberücksichtigt – und

  • im kraniosakralen Bereich mit Untersuchung des kraniosakralen Rhythmus, der Beweglichkeit der Schädel- und Gesichtsknochen und des Sakrums.

Die parallel laufende Untersuchung des kraniosakralen Rhythmus und das Auffinden von Störungen in diesem Bereich erfolgten nur durch einen der beiden Untersucher. Daher wurde auf statistische Rückschlüsse bezogen auf die Gesamtzahl der untersuchten Säuglinge verzichtet.

Beide Ärzte behandelten die gefundenen Funktionsstörungen nach den Regeln der Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin: Mobilisation im Bereich der Halswirbelsäule, Mobilisation oder ggf. bei Therapieresistenz Impulsmanipulation im Bereich der Brustwirbelsäule und der Iliosakralgelenke ([18], Skripten der Kinderkurse). Bei allen behandelten Kindern wurde ein Wiederholungstermin vereinbart, wenn erforderlich, auch noch ein weiterer Termin zur Befundkontrolle. Die Untersucher mussten auf einen Kontrolltermin verzichten, wenn die Eltern mit dem Erfolg der Behandlung zufrieden waren und eine weitere Untersuchung nicht mehr für notwendig hielten. Auf diese fehlende Nachuntersuchung wird später eingegangen. In keinem Fall fand zwischenzeitlich eine physiotherapeutische Behandlung statt.

Ergebnisse

Die altersmäßige Aufgliederung (Abb. 6) macht deutlich, dass fast drei Viertel der vorgestellten Säuglinge im ersten Vierteljahr ihres Lebens zur Untersuchung kamen. Offensichtlich richten viele Kinderärzte ihr besonderes Augenmerk auf die o. g. Besonderheiten beim Säugling; auch werden Lageasymmetrien von Physiotherapeuten, Hebammen und Eltern mehr beachtet als noch vor 10 Jahren.

Manualmedizinische Befunde der Altersgruppe 1. bis 5. Woche

Gliederte man die Untersuchungsbefunde des kraniosakralen Systems aus den o. g. Gründen aus, verblieben in der Altergruppe 1. bis 5. Woche 267 Säuglinge, ein Anteil von 35% aller untersuchten Kinder (Abb. 7). Die Differenz zwischen der Zahl der untersuchten Kinder und der Zahl der in den Grafiken aufgeführten Befunde ergab sich aus Mehrfachbefunden bei einzelnen Kindern. Die kraniozervikalen Befunde dominierten, doch über 40% entfielen auf thorakale und Beckenbefunde sowie Mehrfachbefunde mehrer Schlüsselregionen – ein Anteil, der keineswegs außer Acht zu lassen ist. Nicht alle Störungen sind mit einer KISS, einer kopfgelenkinduzierten Symmetriestörung, gleichzusetzen und auf einen Nenner zu bringen.

Abb. 7
figure 7

Befunde gestörter Schlüsselregionen der Säuglinge in der Altersgruppe 1. bis 5. Woche (n=267). Die Befunde der kraniozervikalen Region überwiegen

Bei 214 der 267 Kinder wurde in 4- bis 6-wöchigem Abstand eine Kontrolluntersuchung durchgeführt (Abb. 8). Bei 124 Kindern war keine Funktionsstörung mehr nachweisbar. Die übrigen 90 nachuntersuchten Kinder, immerhin 42%, wiesen Funktionsstörungen der Schlüsselregionen auf. Die Ergebnisse zeigen, dass hier thorakale und Beckenbefunde gemeinsam gegenüber den kraniozervikalen sogar überwiegen.

Abb. 8
figure 8

Ergebnisse der ersten Wiederholungsuntersuchung bei 214 Säuglingen der Altersgruppe 1. bis 5. Woche. Thorakale und Beckenbefunde überwiegen gegenüber der kraniozervikalen Gruppe

Wegen Rest- oder Rezidivbefunden wurden 70 Kinder ein drittes Mal untersucht. Hier war nur noch in 4 Fällen eine erneute Behandlung erforderlich, davon 2-mal in der Brustwirbelsäule und 2-mal im Beckenbereich. Diese Kinder waren klinisch in keiner Weise auffällig.

Manualmedizinische Befunde der Altersgruppe 6. bis 12. Woche

Die Altersgruppe 6. bis 12. Woche war mit fast 40% aller untersuchten Kinder die größte. Nach Ausgliederung der kraniosakralen Befunde verblieben hier 300 untersuchte Säuglinge (Abb. 9). Auch hier überwog der Anteil der kraniozervikalen Befunde (66%), die Befundverteilung war vergleichbar mit der in der Altersklasse 1. bis 5. Woche.

Abb. 9
figure 9

Befunde gestörter Schlüsselregionen der Säuglinge in der Altergruppe 6. bis 12. Woche (n=300). Die kraniozervikalen Befunde überwiegen

Die erste Kontrolluntersuchung nach 4 bis 6 Wochen schloss 163 Säuglinge ein, von denen 105 ohne Funktionsstörungen waren (Abb. 10). Bei 58 Säuglingen fanden wir 68 Störungen der Schlüsselregionen. Die Befundanteile unterschieden sich nun von denen der jüngeren Säuglinge: Thorakale Befunde überwogen mit 47%, es folgten zervikokraniale Befunde mit 30% und Beckenstörungen mit 22%.

Abb. 10
figure 10

Ergebnisse der ersten Wiederholungsuntersuchung bei 163 Säuglingen in der Altersgruppe 6. bis 12. Woche. Die thorakalen Befunde überwiegen

Eine zweite Kontrolluntersuchung war bei nur 33 Kindern erforderlich und ergab in 27 Fällen keine Funktionsstörung, bei 6 Kindern Rest- oder Rezidivbefunde.

Manualmedizinische Befunde der Altersgruppe 13. bis 20. Woche

Die dritte Altersgruppe, die der 13 bis 20 Wochen alten Säuglinge, umfasste 17,2% der untersuchten Kinder, d. h. nach Abzug der kraniosakralen Befunde 133 Säuglinge mit 163 Funktionsstörungen der Schlüsselregionen (Abb. 11). Auch hier überwog bei der Erstuntersuchung die Zahl der kraniozervikalen Befunde mit 56%, sie war aber geringer als die bei der Erstuntersuchung der jüngeren Altersgruppen.

Abb. 11
figure 11

Erstuntersuchung der 13 bis 20 Wochen alten Säuglinge (n=133). Die kraniozervikalen Befunde überwiegen

Eine erste Kontrolluntersuchung war nur bei 26 Kindern erforderlich, von denen 17 keine Funktionsstörungen aufwiesen. Bei den restlichen 9 Säuglingen wurden in 3 Fällen Mehrfachbefunde erhoben: 1 Kombination kraniozervikal/thorakal, 2 Kombinationen thorakal/Becken.

Zur zweiten Kontrolluntersuchung kamen 6 Kinder, von denen 4 ohne Funktionsstörungen waren, je 1 Befund betraf die kraniozervikale und die Beckenregion.

Manualmedizinische Befunde der Altersgruppe 21. bis 44. Woche

Die älteste Gruppe, die der 21 bis 44 Wochen alten Säuglinge, umfasste mit 72 Kindern nur 9,1% aller untersuchten Kinder. Nach Abzug der kraniosakralen Befunde verblieben hier 62 Kinder mit insgesamt 79 Funktionsstörungen (Abb. 12). In dieser Altersgruppe verschob sich wiederum das Gleichgewicht der gefundenen Funktionsstörungen: Die kraniozervikalen Befunde lagen nur noch bei 43%, die thorakalen Befunde bei 34% und die Beckenbefunde stiegen auf 23%.

Abb. 12
figure 12

Erstbefunde gestörter Schlüsselregionen der 21 bis 44 Wochen alten Säuglinge (n=62). Die kraniozervikalen Befunde überwiegen leicht

Nur 2 von 16 Kindern, die zu einer ersten Wiederholungsuntersuchung kamen, hatten Rezidive im Bereich der kraniozervikalen Region, bei den übrigen 14 Kindern wurden keine Störungen mehr gefunden. Eine zweite Wiederholungsuntersuchung fand bei 4 Kindern statt, alle blieben ohne Befund.

Kraniosakrale Befunde aller Altersgruppen

Einer der beiden Untersucher erhob kraniosakrale Befunde bei 119 Kindern (Abb. 13). Diese waren wie folgt verteilt: Altersgruppe 1. bis 5. Woche 16,8%, Altersgruppe 6. bis 12. Woche 39,5%, Altersgruppe 13. bis 20. Woche 28,6% und Altersgruppe 21. bis 44. Woche 15,1%. Diese Altersverteilung ist nicht erklärbar, war doch zu erwarten, dass kraniosakrale Befunde in den ersten Lebensmonaten als Folge des „Geburtstraumas“ überwiegen. Besonders auffällig war, dass 62,2% der kraniosakralen Befunde mit kraniozervikalen Funktionsstörungen verknüpft waren.

Abb. 13
figure 13

Ergebnisse der kraniosakralen Untersuchung von 119 Kindern nach Altersgruppen

Diskussion der Ergebnisse

Besonders interessant sind die Ergebnisse der Erstuntersuchung. Es handelte sich um Säuglinge, die noch nicht manuell bzw. osteopathisch behandelt worden waren. Wie zu erwarten, waren die Schlüsselregionen im kraniozervikalen Übergang am häufigsten gestört. Besonders bei ganz jungen Säuglingen im Alter zwischen der 1. und 5. Woche war der Anteil mit 73% besonders hoch. Die spezifische Aufteilung der Störungen in dieser Altersgruppe betraf die Segmente 0/C1 zu 65%, C1/2 zu 38% und C2/3 zu 2%. Verglichen mit den Untersuchungen von Geipel u. Harke [9] ergibt sich eine Übereinstimmung beim zahlenmäßigen Überwiegen der Kopfgelenkstörungen im Segment 0/C1. Abweichend von diesen Befunden fanden wir mehr Funktionsstörungen C1/2 [23]. Allerdings untersuchten die o. g. Autoren ein gesundes Patientenklientel, während wir Säuglinge untersuchten, die uns wegen Auffälligkeiten überwiesen worden waren. Eine Vergleichbarkeit der Befunde ist also nur bedingt möglich. Abweichend von bisher verbreiteten Ansichten [1, 22] ist aber auch anderen Schlüsselregionen eine Bedeutung beizumessen, wie die Anzahl der diagnostizierten Schlüsselregionen Thorax mit 26,4% und Becken mit 15,7% zeigen.

Funktionsstörungen des Thorax gliederten sich auf in Segmentstörungen Th4–8 zu 92% und Rippenstörungen zu 8% und waren immer mit unzureichender Diaphragmabewegung kombiniert. Beckenbefunde zeigten in 83% der Fälle eine gestörte Iliosakralbewegung, der Rest war kombiniert mit den Befunden „inflare“ und „outflare“ des Iliums sowie einer Störung des Segmentes L5/S1.

Mit fortschreitendem Alter der Säuglinge ist eine Veränderung bei der Befundverteilung der einzelnen Schlüsselregionen zu verzeichnen. Der Anteil der gestörten zervikokranialen Regionen sank von 73% in der Altersgruppe 1. bis 5. Woche auf 65,7% in der Altersgruppe 6. bis 12.Woche; in den beiden nächsten Altersgruppen fiel er noch weiter auf 55,8 bzw. 43%.

Anders verhält sich der Anteil der thorakalen Funktionsstörungen: Die Zahl der thorakalen Befunde nahm in der ältesten Gruppe deutlich zu. Ähnlich stieg der Anteil der Beckenbefunde mit zunehmendem Alter ständig an. So war in der Altersgruppe 13. bis 20. Woche gegenüber der 6. bis 12. Woche eine Verdoppelung von 9,4 auf 19% festzustellen. In der ältesten Gruppe erhöhte sich der Anteil der Beckenbefunde weiter auf 22,8%.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Säuglinge mit Lageasymmetrien zeigen wie erwartet vermehrt gestörte kraniozervikale Schlüsselregionen, aber auch einen hohen Anteil an Funktionsstörungen der thorakalen und der Beckenregion, der sich mit zunehmendem Lebensalter noch erhöht. Als Ursache dieser variierenden Befunde ist der veränderte Bewegungsablauf mit fortschreitender Vertikalisierung zu sehen, möglicherweise auch eine dem Alter entsprechende Reaktion des Kindes auf Umwelteinflüsse [9]. Ein weiterer Grund für die Befundveränderung im Laufe der folgenden Lebenswochen ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass der Grund für die Vorstellung durch Eltern oder Hausärzte bei den ganz jungen Säuglingen in der Regel Asymmetrien sind, z. B. wenn auffällt, dass das Kind den Kopf nicht drehen kann. Erst im späteren Alter bemerken die Beobachter Unstimmigkeiten, wenn Funktionsstörungen von Thorax- und Beckenregion die Weiterentwicklung stören, wie am Fallbeispiel oben veranschaulicht wurde.

Die Zeit nach dem 3. Lebensmonat ist für den untersuchenden Kinderarzt immer besonders aufschlussreich, wenn er die neurophysiologische Untersuchung durchführt. Asymmetrien bei der Untersuchung der Lagereaktionen und veränderte „Wartezeiten“ der frühkindlichen Reaktionen werden jetzt besonders deutlich, differenzialdiagnostische Erwägungen sind nun unerlässlich: Handelt es sich „nur“ um Funktionsstörungen oder liegt eine morphologische Störung vor?

Interessant war auch, dass die zervikothorakale Schlüsselregion in keinem Fall als gestört diagnostiziert wurde. Dies lässt den Schluss zu, dass erst mit der aufrechten Haltung und der Etablierung der myofaszialen Ketten diese Region eine pathogenetische Relevanz erhält.

Kraniosakrale Befunde fanden sich lediglich in 37,8% der Fälle ohne Kombination mit manualmedizinischen Störungen. Sie treten in der Mehrzahl kombiniert auf, wie auch andere Untersucher bereits feststellten [12].

Angesichts der hohen Zahl der untersuchten Säuglinge und der Vielzahl der erhobenen Befunde ergibt sich die Frage der Behandlungsnotwendigkeit [4, 9]. Unbestritten ist die Möglichkeit einer „Selbstheilungstendenz“. Der behandelnde Arzt steht vor der Frage „Kann man das unbehandelt lassen?“ „Verwächst sich das?“. Nach unserem heutigen Wissensstand sollten wir gestörte Schlüsselregionen behandeln, wenn sich klinische Symptome bzw. Normabweichungen des Verhaltens zeigen, wie das bei den hier beschriebenen Patienten der Fall war. Bei 79% dieser Kinder erfolgte lediglich eine Therapie, nur jedes 5. Kind wurde zweimal behandelt. Insgesamt 12 Kinder – mit 1,6% ein sehr geringer Anteil – wurden ein drittes Mal einer manualmedizinischer Behandlung unterzogen. Bei keinem dieser Kinder war eine physiotherapeutische Behandlung erforderlich. Das Ergebnis war eine schnelle ungestörte Weiterentwicklung der Säuglinge. Gemessen an diesem Erfolg erweist sich die Behandlung als die erfolgversprechende Methode [5, 9, 16]. Bei der Beurteilung des Behandlungserfolges bleiben Unsicherheitsfaktoren: Ein Teil der Kinder erschien nicht zur Kontrolluntersuchung, was nicht den Schluss zulässt, dass alles „in Ordnung“ war. Zum anderen ist die Besserung der Befunde und das Verschwinden der Bewegungs- und Haltungsauffälligkeiten der Säuglinge kein direkter Beweis für den Behandlungserfolg. Eine Selbstheilung durch Selbstmobilisation der Funktionsstörungen ist denkbar. Offen bleibt auch die Frage: Wie vergleichbar und wie objektivierbar sind die manuellen Palpationsbefunde? Die Untersuchung am Säugling bedarf einer großen Erfahrung und teilweise neuer Untersuchungstechniken; Doppelblindstudien verschiedener Untersucher am gleichen Patientengut sind erforderlich [9].

Fazit für die Praxis

Die Untersuchung und Behandlung von Lageasymmetrien der Säuglinge setzt eine genaue Differenzialdiagnostik voraus. Die Gesamtkörperuntersuchung des Säuglings ist erforderlich. Bei der anschließenden manualmedizinischen Untersuchung ist jede Körperregion zu betrachten, um Funktionsstörungen anderer Lokalisation aufzufinden und erfolgreich zu behandeln. Die alleinige Betonung der kraniozervikalen Schlüsselregion ist unberechtigt.