Ein Mensch kann zwar tun, was er will,

aber er kann nicht wollen, was er will.

A. Schopenhauer

Die Frage, wie unsere physische und psychische Entwicklung miteinander interagieren, ist nicht nur für Kinderorthopäden und -neurologen interessant. Zum einen ist sie von allgemeinphilosophischem Interesse, zum anderen aber – und vor allem – auch deshalb zentral wichtig, weil sie uns verstehen hilft, wie frühe „Kleinigkeiten“ manchmal lebenslang ihre Spuren hinterlassen. So können Untersuchungs- und Behandlungsstrategien optimiert und unnötiger Aufwand ebenso wie zu langes Zuwarten vermieden werden.

Wenn man konzidiert, dass es keine vom Körper losgelöste Intelligenz geben kann (ein schlüssiges Plädoyer hierfür bei [23]) wird klar, dass die Entwicklung und der Erhalt solcher Fähigkeiten an eine gute Funktion der körperlichen Informationsgewinnung gekoppelt sein muss.

Eigentlich ist der Titel dieses Artikels redundant, denn jede Entwicklung basiert auf Sensomotorik (vgl. [19]). Interessant ist dabei, dass das Wort ist, wie es ist, denn man spricht eben von Sensomotorik und nicht von Motosensorik, und das aus gutem Grunde. Eine über rein reflektorische Antworten auf Umweltreize hinausgehende Reaktion setzt Sensorik und deren bewusste und bewertende Verarbeitung im Zentralnervensystem voraus. Ebenso wie die Morphologie und Feinstruktur des ZNS gibt uns die Ausstattung von Propriozeption in der Peripherie letztendlich vor, was wir wollen.

Bei der Entwicklung der Sensomotorik spielt weniger die Morphologie eine Rolle als die sich aus ihr ergebende Funktion. Lewit brachte das schon vor Jahren auf den Punkt, als er sagte: „The clinical picture correlates better as a rule with the changes in function than with the structural pathology. Very frequently indeed pathological changes do not manifest themselves so long as function is not impaired. On the other hand changes in function by themselves may cause very marked clinical changes in the absence of any (structural) pathology, For the same reason even clearly diagnosed pathology can be clinically irrelevant (disc herniation at CT, spondylolisthesis, scoliosis, etc), whereas the dysfunction which can usually be diagnosed only clinically can be of decisive importance.“ [14] Dazu weiter unten mehr. Die überragende Relevanz der funktionellen Pathologie beschränkt sich nicht auf den Entwicklungsaspekt, ist aber hier besonders gut fassbar. Kinder sind ohne Weiteres in der Lage, auch mit massiven Behinderungen eine für sie suffiziente Sensomotorik zu entwickeln. Ein extremes Beispiel sind die „Thaliodomid-Kinder“. Das soll nicht ihr schweres Schicksal verharmlosen, sondern die Hochachtung ausdrücken, wie diese Menschen lernten, sich mit ihrer Situation zu arrangieren. Diese Extremfälle sind auch eine gute Illustration für die außerordentliche Flexibilität, die der Mensch bei der Ausbildung seiner Sensomotorik an den Tag legt.

Schaut man sich eines der Arbeitstiere der Neurobiologie an, der Nematode Caenorhabditis elegans, tritt die überraschende Tatsache zutage, dass solch ein Tierchen exakt 203 Neurone hatFootnote 1.

„Diese Zahl ist invariant“, heißt es in den einschlägigen Lehrbüchern.

Die Entwicklung des Nematoden hin zu einem Lebewesen mit diesen präzise in ihrer Aufgabenstellung definierbaren 203 Neuronen ist komplett genetisch determiniert und läuft im Sinne von Michaelis [17] als reine Reifung ab, d. h. praktisch unbeeinflusst von Außenreizen. Dieses Aggregat reagiert letztlich ebenso deterministisch, d. h. wenn wir genügend genau beobachten und dokumentieren, können wir das Verhalten schlüssig vorhersagen. Als kleiner Dämpfer für alle, die ein Verstehen des menschlichen Bewusstseins in Reichweite wähnen, sei angemerkt, dass selbst das Verstehen der Funktionsweise dieser 203 Neurone uns bisher vor unüberwindlich komplexe Aufgaben stellt.

Dazu sei als kleiner Gegensatz das menschliche Zentralnervensystem erwähnt. Hier liegen allein in der Kortex ca. 2•1012 Zellen vor, die jeweils ca. 1000 Verbindungen mit ihren Nachbarzellen eingehen. Die Zehnerpotenzen, die zwischen diesen beiden „Modellen“ liegen, lassen den Betrachter schwindlig werden. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass die gerade mal 24.000 Gene, die wir insgesamt haben, bei Weitem nicht ausreichen, um dies deterministisch zu organisieren – und sie sind ja nicht nur für die Ausgestaltung des ZNS da.

Ein weiteres Problem kommt hinzu: Bedingt durch verschiedene Faktoren, die man aber zum einen auf den zweibeinigen Gang und seinen relativ schmalen Beckenausgang sowie zum anderen auf den rasant gewachsenen Schädelumfang mit seiner Raumforderung zurückführen kann, kommt es zu einer Kollision dieser beiden Messgrößen, was mit dazu geführt hat, dass das menschliche Neugeborene als „physiologische Frühgeburt“ die Welt erblickt – völlig unreif in seiner Motorik und mit dem relativ kleinen Hirngewicht von ca. 300–400 g. Schon im ersten Jahr verdreifacht sich das Hirngewicht, am ersten Geburtstag erreichen wir über 1000 g und mit dem Eintritt in die Schule gewichtsmäßig das Erwachsenenniveau. Die Ausgestaltung dieses „Rohbaus“ dauert dann bis zum 18.–20. Lebensjahr [29, 6], nicht ganz zufällig in unserer Kultur der Zeitraum, in dem wir das Erwachsenwerden ansiedeln.

Die Kombination aus der intensiven Vervielfachung der Neurone und ihrer Verbindungen außerhalb der Schutzzone des Uterus macht diese Entwicklungsphase enorm vulnerabel und abhängig von adäquaten Außenreizen. Sie ermöglicht es aber auch, in diesem ersten Lebensjahr – und im Schutzraum der mütterlichen Fürsorge – die so viel direkter einwirkenden Umweltreize für die adaptierte Entwicklung des ZNS zu nutzen. Viele neuere Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass dem so ist, sowohl auf epigenetischem Niveau als auch in der geweblichen Differenzierung des ZNS [29].

Will man sich über die Hauptakteure der Hirnreifung informieren, tut man gut daran, die Neuroembryologen zu fragen. Sie sagen uns, dass das erste Organ, das – noch völlig intrauterin bis zur Brauchbarkeit ausdifferenziert – das Gehör ist [7]. Vestibularis und Trigeminus sind die ersten Kernareale, die eng miteinander verflochten schon im Vorhirn angelegt werden. Auch die Augen und die orofaziale Region sowie die Sensomotorik des okzipitozervikalen Übergangs stehen bei Geburt funktionsfähig zur Verfügung, während die periphere Motorik noch sehr unreif und weitgehend spinal organisiert ist.

Wenn das Neugeborene zum ersten Mal die Augen aufmacht und gezielt in einem Gesicht Blickkontakt sucht, so ist diese Fähigkeit nicht irgendwie erlernt, sondern „fest verdrahtet“ [22]. Ist sie aber nicht vorhanden, fehlen dem Säugling wichtige Referenzpunkte für seine sensorische Eroberung der Umwelt und auch für die Kontaktaufnahme mit seiner Mutter, das Bonding, und damit für den Ausgangspunkt seiner emotionalen Entwicklung.

Dieses Minimum an Referenzialität ist notwendig, um darauf aufbauend die unendliche Komplexität unserer Wahrnehmung zu generieren. Auch die primäre Grammatik des Spracherwerbs im Sinne Minskys [18] und Chomskys [4] gehört zu diesen elementaren Eckpunkten unseres Nabels im Kopf, von dem aus wir – ähnlich dem Bootstrap-Programm des Computers – erst alles andere begreifen lernen können. Dieser Nabel ist viel komplexer und leistungsfähiger angelegt, als wir uns das noch vor Kurzem vorstellten. Basismuster und -fertigkeiten wie Gesichtserkennung und mimische Imitationsfähigkeit sind fest vorgegeben, Augen- und Kopfkontrolle schon sehr früh bewusst steuerbar. Diese Fähigkeiten gehen so weit, dass sogar komplexe kognitive Kriterien wie „Schönheit“ bei sechsmonatigen Säuglingen schon vorhanden sind [28, 25].

Diese vorgegebenen sensorischen Fähigkeiten teilen wir mit anderen Primaten und Säugetieren. Wo liegt nun das spezifisch Menschliche unserer Entwicklung?

„Die im Vergleich zu Menschenaffen fast schon groteske Überrepräsentation der Hände und der Gesichtsmotorik auf dem Motokortex zeigt, dass ein ganz neuer Primat, ein ‚Manipulations- Artikulationstier‘ entstanden ist.... Die einzigartige motorische Intelligenz, gekennzeichnet durch die Fähigkeit, Handlungselemente in prinzipiell unendlicher Variation zu beliebig langen, sich verzweigenden Ketten zusammenzufügen, ist der Schlüssel zur Menschwerdung.“ Diese Sätze stammen vom Neuroanatom Neuweiler [21], der diese Essenz des Menschlichen als „motorische Intelligenz“ bezeichnet. Folgt man dieser – überzeugenden – Argumentation, basiert Intelligenz im sozialen und wissenschaftlichen Bereich letztlich auf dieser spezifisch menschlichen Fähigkeit der seriellen und fein abgestimmten Bewegungsdurchführung unter visueller Kontrolle als Basis unseres „Erkennens“ der Welt. Neuweiler argumentiert ähnlich wie Pfeifer u. Bongard [23], die dazu ausführen, dass der Körper die Art und Weise unseres Denkens gestaltet.

Bei der Geburt liegt ein Großteil des motorischen Programms auf spinaler Ebene als Reflexbewegung vor. Der Übergang zur differenzierten kortikalen Steuerung setzt voraus, dass keine unüberwindlichen Störungen dies blockieren. Obwohl dieses Programm sehr fehlertolerant angelegt ist – man denke nur an die vielen klinisch stummen, aber mit bildgebenden Verfahren nachweisbaren Geburtsverletzungen des ZNS [30] – kommt es bei nicht normalem Ablauf der Entwicklungsschritte zu Schwächen, die sich später auswirken.

Wir haben heute viele Gründe zur Annahme, dass in der Periode ±3 Monate um die Geburt wichtige Entwicklungsvarianten ausgewählt und im Sinne epigenetischer Varianten der vorhandenen Erbmasse lebenslang fixiert werden.

Peripartale Fixation epigenetischer Lebensvarianten

Um die Wichtigkeit der Peripartalperiode für die Ontogenese zu illustrieren, sei hier ein kleiner Exkurs eingeschoben. Epidemiologische Langzeituntersuchungen haben Einflussfaktoren für Mortalität und Morbidität erkennen lassen, deren Relevanz noch nicht allgemein bekannt ist. So tun sich Grenzen unseres medizinischen Handelns da auf, wo wir erkennen müssen, dass ganz andere Faktoren für das Wohlbefinden und die Langlebigkeit der Menschen bedeutsam sind. Die Startbedingungen zum Lebensbeginn, die Geborgenheit in einer funktionierenden Gemeinschaft und die positive Eigenwahrnehmung im sozialen Gefüge sind wesentlich relevanter für Mortalität und Morbidität als alle ärztlichen Bemühungen.

Drei Beispiele seien angeführt, die dies illustrieren:

  • Der niederländische Forscher Roseboom [26] untersuchte, was mit den Menschen geschehen war, die während des Hungerwinters 1944/45 in den Niederlanden geboren worden waren und stellte fest, dass die Rate der Herzerkrankungen bei diesen Patienten wesentlich höher war als bei den in den Jahren davor und danach geborenen.

  • In seiner Veröffentlichung Power of Clan wies Wolf nach, dass eine funktionierende Gemeinschaft ein enormes Plus an Lebensqualität und gesenkter Morbidität zur Folge hat [33]. Er untersuchte ein Städtchen in den Appalachen, wo sich – praktisch im Verhältnis 1:1 – ein aus den Abruzzen ausgewandertes italienisches Dorf angesiedelt hatte. Solange die industrielle Basis intakt war, blieben die Strukturen erhalten und damit die oben beschriebene Schutzfunktion für den Einzelnen. Erst als diese Erwerbsmöglichkeiten weggebrochen waren, verschwand auch die Geborgenheit des Gemeinschaftslebens.

  • Last but not least untersuchte der Engländer Marmot in einer Jahrzehnte umfassenden Studie die englischen Staatsangestellten und konnte nachweisen, dass Gesundheit, Langlebigkeit und subjektives Wohlbefinden wesentlich mehr von der sozialen Stellung als von den „klassischen“ Risikofaktoren wie Rauchen, Alkohol und Übergewicht abhängig waren [16].

Anhand dieser Beispiele wird die Dialektik klar, in der wir uns hier befinden.

Wir wissen sehr gut, wie viel an sensomotorischer Entwicklung früh festgelegt wird und wie sehr dabei eine gute Funktion des Kopf-Hals-Übergangs von Wichtigkeit ist. Selbst die Zwillingsforschung kann aber keine exakte Auskunft darüber geben, wie viel „wirklich“ genetisch bedingt ist. Zwillinge teilen sich in den ersten Lebensmonaten zwangsläufig denselben Uterus und es ist nicht sicher, ob nicht durch diese doppelte Belastung der mütterlichen Strukturen eine spezielle Situation entstanden ist, deren Effekte nicht ohne Weiteres auf die von Einlingsschwangerschaften übertragbar sind. So wissen wir aus unserer Aufarbeitung der Daten von Kindern mit kopfgelenkinduzierter Symmetriestörung (KISS-Syndrom), dass hierbei Mehrlinge weit überrepräsentiert sind [2].

Einfluss der Kopfgelenke bei diesem Prozess

Die Beschäftigung mit Kleinkindern sensibilisiert für das Erkennen der enormen Beeinflussbarkeit der Ontogenese in diesem Zeitabschnitt. Häufig kommen wir aber erst viel später mit den Betreffenden in Kontakt und können dann nur ganz realpolitisch versuchen, die vorhandene suboptimale (und oft wohl schon früh entstandene) Situation bestmöglich zu beeinflussen. Es ist deshalb wichtig, Bemerkungen wie die des Bremer Hirnforschers Roth, dass wesentliche Entwicklungsschritte bis zum 3. Lebensjahr abgeschlossen sind (vgl. [27]), mit sehr viel Zurückhaltung zur Kenntnis zu nehmen. Auch in diesen Fällen kann man – wenn auch viel mühevoller und langsamer – positiv Einfluss nehmen.

Doch zurück zu dem Neugeborenen, das automatisch Gesichter erkennt, diese mit seinem Blick fixieren kann, deren Mimik und Attraktivität bewertet und zu imitieren in der Lage ist.

Was passiert nun, wenn diese Grundfertigkeiten durch Störungen der Propriozeption und Sensomotorik des okzipitozervikalen Übergangs erschwert sind oder gar gänzlich verhindert werden?

  • Die fixierte Retroflexion erschwert das Bonding.

  • Die fixierte Lateroflexion erschwert die akustische und optische Fixierung.

  • Die propriozeptive Kompetenz, die hierarchisch organisiert ist, wird nicht optimal erlernt.

Nicht die gesamte Wirbelsäule ist gleich relevant für die Propriozeption. Die Kopfgelenke und der lumbosakrale Übergang sind die Scharnierregionen, in denen Sensorik und Anatomie am komplexesten sind [20], wobei aus entwicklungsneurologischer Sicht die kaudale Übergangszone beim Neugeborenen wenig Bedeutung hat [24]. Oft wird übrigens vergessen, dass auch die Kiefergelenke zum okzipitozervikalen Übergang gehören [1]. Diese spielen aber bei Kleinkindern mangels Zähnen in der funktionellen Pathologie noch keine Rolle.

„Die Struktur determiniert die Funktion“ ist ein prinzipiell richtiger Satz, aber in der Frühphase vor allem der menschlichen Entwicklung definiert die Funktion die Ausdifferenzierung der Strukturen auf makroanatomischer Ebene wie in der – heute mit bildgebenden Verfahren noch nicht fassbaren – Morphologie des ZNS.

Der Phasenwechsel als manualmedizinisches Modell

Für die Wirksamkeitsanalyse funktioneller Pathologien brauchen wir eine Vorstellung, wie solche – im Prinzip mechanischen – Störungen sich auf ganz anderen Ebenen auswirken.

Gerade sie sind für uns nosologisch interessant. Ein Beispiel dafür sei angeführt:

  • Geburt als „Sterngucker“,

  • Fixierung dieser Haltung im Sinne eines KISS II,

  • orofaziale Hypotonie,

  • Mundatmung,

  • Infektionen der Rachenwege und chronische Mittelohrergüsse,

  • Antibiotikatherapie → Dysbakterie → Allergiediathese,

  • Fehlentwicklung der Mundmotorik mit Dentitionsproblemen,

  • reaktive Hypotonie der oberen BWS zur Kompensation (M. Scheuermann),

  • weitere Entwicklungsebene: Anschmiegen erschwert – Bonding behindert Stillen (einseitig).

Anhand dieser kurzen Kette von Ursache und Wirkung – und es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass bei jedem Schritt andere Faktoren von außen einwirken und die hier suggerierte Linearität wieder sprengen – wird hoffentlich deutlich, wie eine „banale“ Fehlhaltung in ganz unterschiedliche Funktionsbereiche und damit auch in diverse ärztliche Zuständigkeiten ausstrahlen kann. Das ist kein Muss, keine deterministisch ablaufende und schon gar keine irreversible Entwicklung, aber eben auch nicht die Ausnahme.

Die ontogenetischen Konsequenzen reichen bis weit über die Jugend hinaus und kooperieren hier nicht selten negativ mit Funktionsproblemen aus dem Kau-Kiefer-Bereich – auch einem Kopfgelenk [1].

Die motorische Intelligenz [21] des „Manipulations-/Artikulationstieres“ Mensch muss sich sehend und das Gesehene umsetzend aufbauen. Die Kopfgelenke sind hierfür die Basis. Eine fehlende Blickfixierung, sei es durch laterale oder retroflektierte Zwangshaltung, erschwert dieses Lernen deutlich.

Bei unzähligen Schulkindern konnte gezeigt werden, dass koordinative Störungen und Konzentrationsprobleme bei passender Frühanamnese sehr gut auf Manualmedizin ansprechen [12]. Auf diesem Gebiet ist noch viel zu untersuchen, aber alleine die gesammelten kasuistischen Erfahrungen sprechen für sich.

Interaktion zwischen kortikaler Organisation und in/adäquaten Umweltreizen

Die kortikale Organisation ist unskaliert, d. h. kleine regionale Netzwerke sind über „Fernverbindungen“ mit weit entfernten Zentren verknüpft. Diese Struktur wird nach dem Prinzip „use it or loose it“ relativ früh in der Entwicklung gebahnt. Wenn die Gebrauchsmuster einer Asymmetrie unterliegen, weil die Kopfgelenke über schmerzhafte Verspannungen Schonhaltungen erzwingen, dürfte das hier Auswirkungen haben, die naturgemäß nur sehr schwierig experimentell zu verifizieren sind. In der rapiden Wachstumsphase der letzten vorgeburtlichen Wochen bis zum 15.–18. Lebensmonat werden die Strukturen des ZNS in großen Zügen angelegt, um dann – je nach Hirnregion unterschiedlich – auszureifen [10, 29].

Um es noch einmal zu betonen: Menschliche Säuglinge sind – als „physiologische Frühgeburt“ – in einer viel früheren Phase der Hirnentwicklung den auf sie einwirkenden Umweltreizen ausgesetzt – im Guten und Schlechten. Diese Ergebnisoffenheit bedeutet Anpassungspotenzial, aber auch Störungsmöglichkeiten. Die Rolle der „großen“ Sinne wie Sehen und Hören wird dabei allgemein akzeptiert. Dass auch das eher verborgene „Kopfgelenkorgan“ hier herausragend wichtig ist, ergibt sich aus dem dargestellten Sachverhalt.

Welche Relevanz eine bestimmte Störung hat, lässt sich bis zu einem gewissen Ausmaß daran erkennen, wie sehr das Neugeborene auf sie mit Protest reagiert. Dass hier den Rezeptorenfeldern der oberen HWS ein wichtiger Part zukommt, beweist schon deren Empfindlichkeit auf mechanische Irritation – und ihr Schutz vor diesen durch Schädelkalotte und Schulterregion, beide viel robuster als die vielgliedrige Halswirbelsäule.

Beliebigkeit der Therapiekonzepte?

Inzwischen haben viele das therapeutische Potenzial der oberen HWS erkannt und es sind nicht nur die Manualmediziner, deren Methodik hier ansetzt. Von den Osteopathen mit kraniosakralen Konzepten bis zu Chiropraktoren und vielen physiotherapeutischen Schulen arbeitet fast jede/r mit der HWS.

Gerade für die Funktionsstörungen der Halswirbelsäule bei Kleinkindern werden inzwischen viele Ansätze angeboten. Man denke nur an die intensive Stimulation/Irritation der Kopfgelenke bei manchen Vojta-Übungen.

Dabei ist es zur Einschätzung ihrer Relevanz nicht unbedingt hilfreich, die hinter den Behandlungsansätzen aufgebauten Theorien zu durchleuchten. Wie z. B. bei der Akupunktur kann auch bei manchen manualmedizinischen Konzepten davon ausgegangen werden, dass – wenn an einer entsprechend sensiblen Struktur angesetzt wird – sich auch unter nicht ganz treffsicherem theoretischen Ansatz ein passables Ergebnis erzielen lässt [32]. Felix Mann, einer der Altmeister der Akupunktur, hat das in seinem Buch Reinventing Acupuncture auf den Punkt gebracht [15]. Obwohl er die Existenz von Meridianen und fixen Einstichpunkten verneint, bejaht er vehement die Wirksamkeit der Akupunktur – aber eben eher abhängig vom individuellen Therapeuten und der Nutzung gewisser sensibler Großregionen als von der hyperexakten Kenntnis Hunderter Punkte. Diverse randomisierte Studien zur Akupunktur kommen übrigens zum gleichen Ergebnis [31].

Für uns Manualmediziner heißt dies, dass es sehr auf die eigene Haptik, das Umfeld, in dem wir therapieren, und die nonverbale Kommunikation zwischen Behandler und Patient bzw. dessen Familie ankommt [5, 13]. Das ist Handwerk, das ist nicht im Hörsaal oder aus Büchern erlernbar und letztendlich ist das Bessere der Feind des Guten.

Das Ideal einer minimalistischen Manualmedizin [3] (3 M oder M3) setzt eine präzise Voruntersuchung (samt Röntgen), ein exaktes handwerkliches Können (und jahrelange Übung) sowie ein ruhiges Umfeld voraus (in der Praxis, vorher und nachher), um optimal wirken zu können. Dies ist in der kassenärztlichen Situation nur dann möglich, wenn man hierfür bewusst Zeit und Platz einräumt. An der wichtigsten Stelle in Ruhe und mit sparsamsten Mitteln therapeutisch eingreifen und dann dem Organismus die Möglichkeit geben, in einer neuen Homöostase Fuß zu fassen („Salutogenese“ [19]) – das sollte unser Ansatz sein.

Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist die Kantensteilheit des Signals, das eine sach- und fachgerechte Manualtherapie der Kopfgelenke aussendet, sehr vorteilhaft. Der für Kind und Eltern wahrnehmbar schnelle Umschwung kann vom Aggregat Eltern/Kind besser umgesetzt werden als eine eventuell gleich wirksame Therapie, die aber über Wochen eingehalten werden muss [11], und hat deshalb einen hohen Motivationsgehalt.

Qualität – Quantität

Interessanterweise sind es oft nicht die „großen“ Störungen, welche die meist auffallenden klinischen Bilder produzieren. So ist nicht selten z. B. ein ausgeprägter Klippel-Feil-Befund und kaum klinisch Relevantes zu finden. Blockwirbel oder andere auffällige morphologische Störungen können völlig irrelevant bleiben, während eine „kleine“ schmerzhafte Blockierung der Kopfgelenke zu schlaflosen, Familien zermürbenden Wochen führen kann [8]. Genauso schnell und durchgreifend kann deren Behebung entsprechend wirken.

Hierfür seien zwei kasuistische Beispiele angeführt, die diese Dialektik illustrieren.

Im ersten Fall eines Säuglings handelte es sich fast um einen Zufallsbefund (Abb. 1). Deutlich sind die Halbwirbel an typischer Stelle – dem funktionellen Übergang HWS/BWS, d. h. D2/D3 – zu sehen. Dieses Kind wurde wegen einer „ganz normalen Haltungsasymmetrie“ vorstellig. Hätte man hier nicht radiologisch nachgeschaut bzw. beim Anfertigen des Bildes, wie sehr oft auf Fremdaufnahmen zu sehen, zu hoch ausgeblendet, wäre die diagnostische Hauptinformation nicht zu ermitteln gewesen. Klinisch ist hier keine Differenzierung zwischen einer „normalen“ KISS-Problematik und derartigen morphologischen Störungen möglich.

Abb. 1
figure 1

Morphologische Störungen bei einem Säugling im Bereich der Kopfgelenke

Dies sollte nun nicht zu therapeutischer Hektik verleiten. Das wichtigste in derartigen Fällen ist die sachliche und unaufgeregte Information der Eltern. Wir haben nachgeschaut, ob die anderen Abschnitte der Wirbelsäule unauffällig sind, und dann den Eltern geraten, in größeren Abständen die Wirbelsäulenpole funktionell nachschauen zu lassen. Die manchmal propagierte operative Vorgehensweise halten wir – von den wenigen Ausnahmen, bei denen eine Progredienz feststellbar ist, abgesehen – für unnötig.

Im zweiten Fall (Abb. 2) war morphologisch zunächst alles in Ordnung. Der Befund war ganz diskret und unauffällig, für das Kind aber umso anstrengender. Der nach oben verkantete Arcus dorsalis atlantis und das klaffende Gelenk C1/C2 wiesen auf eine in Anteflexion verstärkte Fehlbelastung bzw. Blockierung der Kopfgelenke hin.

Abb. 2
figure 2

Nach oben verkanteter Arcus dorsalis atlantis und klaffendes Gelenk C1/C2 bei einem 9-jährigen Knaben. Der Befund weist auf eine in Anteflexion verstärkte Fehlbelastung bzw. Blockierung der Kopfgelenke hin

Ohne wesentliche morphologische Auffälligkeiten lag hier eine recht massive Klinik vor, die vom Charakter her ein Anteflexionskopfschmerz war. Der neunjährige Knabe litt an Unruhezuständen und Kopfschmerzen in der Schule und war mit der üblichen Diagnose ADS „versorgt“ worden. Neben der manualmedizinischen Behandlung der Kopfgelenkblockierung war hier die Anteflexionsprophylaxe in Form eines Schrägpults wichtig.

Fazit

Die Kopfgelenke sind außerordentlich wichtig für unsere sensomotorische Entwicklung.

Diese Region ist – bis auf die Geburt – maximal vor direkter Einwirkung von außen geschützt.

Therapeutisches Einwirken an dieser Stelle sollte extrem präzise, sparsam und zurückhaltend erfolgen.

Auch hier und hier besonders gilt: Die Dosis macht das Medikament.