Das Internet hat sich verändert. Nicht mehr die steigende Zahl an Informationsseiten, sondern Beiträge in Portalen, die die aktive Mitgestaltung der Inhalte und Vernetzung der Nutzer erlauben, erklären das massive Wachstum dieses Mediums. Auch Menschen mit psychischen Problemen nehmen an dieser Entwicklung teil. Täglich diskutieren Tausende Betroffener ihre Leiden und Erfahrungen in Internetforen. Was bedeutet das für webbasierte, psychotherapeutische Angebote? In diesem Beitrag werden neuere Entwicklungen im Internet und mögliche Konsequenzen für therapeutische Anwendungen anhand eines Beispielprogramms dargestellt.

Internetbasierte Technologien werden heute in praktisch allen Phasen der psychosozialen Versorgung eingesetzt. Als Vorteile webbasierter Angebote gelten die leichtere Verfügbarkeit, Reichweite, Flexibilität (Nutzung unabhängig von Zeit und Ort) und die kosteneffiziente Versorgung. Als Probleme werden datenschutztechnische Fragen, die Professionalität der unkontrollierten Anbieter und die Nutzung des Webs als Risikofaktor (z. B. Internetsucht; Bauer et al. 2005; Caspar 2004) diskutiert.

Bei den bestehenden Angeboten handelt es sich einerseits um Selbsthilfeprogramme, die durch interaktive Elemente wie im Internet auszufüllenden Tagebüchern mehr oder weniger angereichert und deren Bearbeitung durch therapeutische Kontakte via Internet mehr oder weniger unterstützt wird. Entsprechende Anwendungen sind meist störungsspezifisch ausgerichtet. In den neuesten Programmen werden ganze Therapiemanuale den Möglichkeiten des Internets angepasst und von den Patienten schrittweise bearbeitet (Carrard et al. 2006). Andererseits existiert ein breites Angebot an Onlineberatungen, die weniger auf webbasierte Selbsthilfeelemente, sondern stärker auf die direkte, persönliche Beratung via Chat, E-Mail oder Videokonferenz bauen (Kordy et al. 2006; Laszig u. Eichenberg 2003; Rochlen et al. 2004).

Auffällig an dieser Entwicklung ist, dass durch die neuen technischen Möglichkeiten keine eigentlich neuen psychotherapeutischen Ansätze entstanden sind. Bisherige Angebote konzentrieren sich auf die Implementierung traditioneller therapeutischer Konzepte ins Internet. Selbsthilfeprogramme werden ins Netz gestellt, Einzeltherapien finden via E-Mail statt und Gruppen treffen sich in einem virtuellen Chatraum. Das Neue, das sich in den oft diskutierten und oben genannten Vorteilen widerspiegelt, ergibt sich aus der Möglichkeit, Bestehendes dank dem neuen Kommunikationsmedium mit mehr Flexibilität und Reichweite leichter verfügbar zu machen. Als Nachteile erscheinen entsprechend Aspekte, die im Rahmen traditioneller Konzepte mit dem neuen Kommunikationsmedium nur eingeschränkt realisiert werden können. Hierzu gehört die therapeutische Beziehung, deren Gestaltungsspielraum durch die Abwesenheit eines physischen Bildes und das Fehlen sozialer sowie nonverbaler Signale eingeschränkt ist (Knaevelsrud et al. 2004).

Die genannten Vor- und Nachteile webbasierter Angebote sind wichtig. Die Strategie der einseitigen Anpassung erprobter Interventionen für den Gebrauch im Internet hat aber den Nachteil, dass Vorteile neuer Technologien zu wenig beachtet, neue therapeutische Möglichkeiten nicht bedacht und visionäre Bereiche ausgeklammert werden (Caspar u. Berger 2006). Dieser Beitrag hat zum Ziel, eine Entwicklung im Internet aufzuzeigen, die in den letzten beiden Jahren stattgefunden hat. Die oft unter dem Begriff Web 2.0 zusammengefasste Entwicklung, bietet neue Möglichkeiten für psychotherapeutische Angebote. Solche Möglichkeiten werden im zweiten Teil des Beitrages anhand einer konkreten Anwendung demonstriert.

Neuere Entwicklungen im Internet: Web 2.0

Mit „Web 2.0“ ist nicht eine bestimmte Technologie oder eine einzelne Entwicklung gemeint. Der vage definierte Begriff, der von der Suchmaschine „google“ bereits auf über 62 Mio. Internetseiten gefunden wird (Stand Oktober 2006), kann mit Vielem in Verbindung gebracht werden. Ganz allgemein betont Web 2.0 eine seit etwa 2005 veränderte Wahrnehmung und Nutzung des Internets.

Ein wesentliches Element von Web 2.0 ist, dass der Mehrwert spezifischer Webinhalte durch die Nutzer des spezifischen Angebots entsteht. Beispiele von Web-2.0-Anwendungen, die von der aktiven Partizipation der Teilnehmer leben, sind „Wikis“ (Wikiwiki ist das hawaianische Wort für „schnell“. Mit dem Begriff „Wiki“ soll symbolisiert werden, dass eine entsprechende Anwendung schnell auf den neuesten Stand gebracht wird.) Bei Wikis handelt es sich um eine Sammlung von Internetseiten, die von den Anwendern nicht nur gelesen, sondern auch online geändert werden können. Das bekannteste Beispiel eines Wikis ist die freie Enzyklopädie Wikipedia (http://www.wikipedia.org). Definition und Beschreibung von Begriffen stammen hier zu 100% von den Nutzern und werden von diesen laufend ergänzt. Durch die aktive Partizipation vieler Teilnehmer ist mit Wikipedia in kurzer Zeit das größte Lexikon der Welt entstanden.

Durch Massenverbreitung und Kommerzialisierung wurde das Internet immer stärker als passives Marketing- und Informationsvermittlungsinstrument definiert. Web 2.0 betont die aktive Mitgestaltung der Inhalte von Webseiten durch die Nutzer

Die Idee der aktiven Partizipation und der Entwicklung des Internets im Rahmen kollaborativer Tätigkeiten entspricht dem ursprünglichen Internetverständnis (Cailliau u. Gillies 2000). Durch Massenverbreitung, Kommerzialisierung und technologische Einschränkungen entstand aber eine Entwicklung, die den Inhalt des Internets als passives Marketing- und Informationsvermittlungsinstrument definierte. Immer mehr Menschen und Unternehmen stellten und stellen statische Informationsseiten ins Netz, die sie gelegentlich bearbeiten. Wie bei anderen Medien existiert damit eine klare Trennung zwischen Produzenten und passiven Konsumenten der Inhalte. Die Konsumenten werden zwar vermehrt zu Produzenten, weil die Erstellung von Webseiten durch technologische Neuerungen in den letzten Jahren erleichtert wurde. Die Veränderung einmal erstellter Seiten durch die Nutzer ist aber in den meisten Fällen nicht möglich. Dies hat störende Nebeneffekte: In der Evolution des Internets werden immer mehr, nebeneinander existierende Webseiten mit ähnlichem Inhalt aufgeschaltet. Das Suchen relevanter und qualitativ angemessener Inhalte wird dadurch immer stärker erschwert. Hier bieten Web-2.0-Anwendungen Vorteile. In Wikipedia besteht zu einem Begriff ein einziger und nicht viele parallele Einträge. Internetnutzer stellen nicht einfach ihre, und damit eine von vielen Definitionen ins Netz, sie einigen sich in Kollaboration mit anderen Nutzern auf eine einzige Beschreibung des Begriffes.

Zu den meistgenannten Einwänden gegenüber Web 2.0 gehört die Anfälligkeit auf Vandalismus. Die Öffnung einer Internetplattform für viele Nutzer geht mit einem Verlust an Kontrolle einher. Eine Überprüfung der inzwischen unzähligen Änderungen je Tag in Wikipedia würde jede Kontrollinstanz überfordern. Gerade hier zeigt sich ein erstaunliches Verantwortungsbewusstsein der Nutzer. So wurde gefunden, dass bei Wikipedia einigermaßen offensichtliche Vandalenakte (z. B. offensichtliche Falschaussagen, Löschungen) durch andere User im Schnitt in weniger als 3 min behoben werden (Viégas et al. 2004).

Ermöglicht wurde Web 2.0 letztlich durch die Entwicklung technologischer Komponenten, die es erlauben, zentral gespeicherte Eingaben von Internetanwendern auszulesen und in Echtzeit in sog. dynamischen Seiten darzustellen. Was Internetnutzer in einem Browser wie dem „Internet Explorer“ zu sehen bekommen, wurde nicht von einem Produzenten der Webseite eingegeben. Der Inhalt der Seite wird aktuell und aufgrund der Eingaben der Anwender erzeugt.

An Web 2.0 ist in den letzten Monaten ein Interesse erwacht, das an den Internetboom um die Jahrtausendwende erinnert. Entsprechende Anwendungen werden von Medienimperien teuer aufgekauft oder an Börsen nach Meinung vieler Finanzanalysen überteuert gehandelt. Hier spiegeln sich nicht nur (möglicherweise übersteigerte) Erwartungen in die Zukunft, sondern auch die Tatsache wider, dass Web-2.0-Anwendungen zu den meistbesuchten Seiten des Internets gehören. Die Mitgestaltung von Webinhalten innerhalb einer Web-Community, die gemeinsames Wissen entwickelt und Erfahrungen teilt, scheint einem wichtigen Bedürfnis zu entsprechen.

Web 2.0 und psychotherapeutische Angebote im Internet

Kann die faszinierende und in anderen Kontexten erfolgreiche Idee, dass ein webbasiertes System durch die Nutzer ständig erweitert und ergänzt wird, sinnvoll mit therapeutischen Anliegen verbunden werden? In der Psychotherapie finden sich durchaus divergente Grundauffassungen, was das Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten betrifft. Modelle, nach denen der Therapeut der Wissende ist, nach denen gar „psychoedukative“ Modelle vermittelt werden oder in denen therapeutischer Fortschritt stark darauf beruht, dass der Therapeut dem Patienten immer einen Schritt voraus ist, stehen solchen gegenüber, nach denen der Patient eigentlich alles weiß und der Therapeut nur helfen muss, an dieses Wissen heranzukommen und es zu nutzen (Henry et al. 1994). Obwohl zwischen Vertretern solcher Modelle bisweilen grundsätzliche weltanschauliche Unterschiede bestehen, sollte nicht verkannt werden, dass heterogene Auffassungen durchaus möglich und verbreitet sind. Dazu würde die Auffassung gehören, dass Patienten oft maladaptive Modelle mitbringen und ihnen adaptivere vermittelt werden sollten, dass der Therapeut zumindest zu Beginn einer Therapie das eine oder andere richtiger interpretiert als der Patient, dass gleichzeitig aber der Patient anderes besser beurteilen kann und dass – bekannt aus therapeutischen Gruppen – Vieles von Patient zu Patient besser und glaubwürdiger vermittelt werden kann. Bei den meisten Therapeuten dürften die Möglichkeiten von Web 2.0 auf durchaus gemischte Auffassungen treffen, was die Rolle und die Kompetenz von Patienten betrifft.

Die Frage, die hier v. a. interessiert, lautet: Kann ein psychotherapeutisches Angebot im Internet so konzipiert werden, dass neue Patienten vom Nutzerverhalten früherer Patienten profitieren? Im Kontext psychotherapeutischer Angebote wurde die unter dem Begriff „Web 2.0“ zusammengefasste Weiterentwicklung des Internets bisher wenig diskutiert. Das Bedürfnis von Menschen mit psychischen Problemen nach aktiver Partizipation und Austausch mit anderen Betroffenen zeigt sich in der großen Zahl an virtuellen Diskussionsforen, deren Inhalt sich um psychische Störungen wie Depressionen dreht. In Internetforen können Nutzer Diskussionsbeiträge hinterlassen, die von Interessierten gelesen und beantwortet werden können. Allein im deutschen Sprachraum existiert eine bereits unüberblickbare Zahl an Foren, die sich mit psychischen Störungen beschäftigen. In der Öffentlichkeit erhielten solche Foren besondere Aufmerksamkeit, nachdem sich ein junger Norweger und eine junge Österreicherin in einem Forum zum Thema „Suizid“ zum gemeinsamen Selbstmord verabredeten und zusammen von einer Klippe sprangen. Auch über solche extreme Beispiele hinaus ist offensichtlich, dass sich auf Foren zu verschiedenen Störungen viele Äußerungen sammeln, von denen angenommen werden kann, dass sie schädlich sind.

In Kombination mit Diskussionsforen oder unabhängig davon werden auch Chaträume angeboten. Im Gegensatz zu Diskussionsforen, die nicht in Echtzeit stattfinden, erlauben Chats die meist text-, heute auch audio- oder videobasierte Kommunikation zwischen Personen in Echtzeit. Was Nutzer von Foren oder Chaträumen diskutieren, wird – wie für Web-2.0-Anwendungen üblich – meist wenig strukturiert und kontrolliert. Viele Forum- oder Chatgründer ernennen Moderatoren aus den bestehenden Teilnehmern, die in der Folge darauf achten, dass bestimmte Forum- oder Chatraumregeln wie ein freundlicher Umgangston eingehalten und keine verbotenen Inhalte wie pornografische Beiträge eingefügt werden.

Entsprechende Foren oder Chats können als virtuelle Selbsthilfegruppen betrachtet werden, die von psychotherapeutischen Angeboten insofern abgrenzt werden müssen, als keine anerkannten Psychotherapeuten den Austausch strukturieren oder eigene inhaltliche Aspekte in die Diskussion tragen. Eine der wenigen Ausnahmen bilden die von erfahrenen Gruppentherapeuten (Kordy et al. 2006) geleiteten und bezüglich verschiedener Kriterien erfolgreichen Chatgruppen im Projekt „Internetbrücke“. Patienten erhielten hier im Anschluss an eine stationäre Behandlung das Angebot, für 12–15 Wochen an einer therapeutischen Gruppe teilzunehmen, die sich wöchentlich in einem Chatraum trifft.

Solche Chatgruppen enthalten wichtige Elemente von Web-2.0-Anwendungen (aktive Partizipation, gemeinsames Finden neuer Einsichten und Lösungen). Der Austausch zwischen Teilnehmern ist allerdings auf die Zeit des Chats beschränkt, und spätere Nutzer können nicht oder höchstens indirekt von früheren Teilnehmern profitieren (über den Erfahrungszuwachs der Therapeuten oder den Erkenntnisgewinn der parallel durchgeführten Forschung). Im Folgenden wird eine eigene Internetplattform dargestellt, die diesen wichtigen Aspekt von Web 2.0 enthält. Dabei sollte deutlich werden, dass es bei der Entwicklung der Anwendung nie darum ging, aufgrund eines allgemeinen Trends Web-2.0-Komponenten zu integrieren. Ausgangspunkt war vielmehr die Überzeugung, dass entsprechende Elemente Akzeptanz sowie Attraktivität des Angebots erhöhen und Patienten die Arbeit an ihren Problemen erleichtern.

Beispielanwendung: Ein webbasiertes Selbsthilfeprogramm für Menschen mit sozialen Ängsten

Die Basis der im Folgenden dargestellten Internetplattform bildet ein Selbsthilfeprogramm für Menschen mit sozialen Ängsten, das im Rahmen eines Projektes des Schweizer Nationalfonds (SNF-Projekt 100011–112345/1) evaluiert wird. Vergleichbare computergestützte Selbsthilfeprogramme existieren für unterschiedliche Krankheitsbilder (Greist et al. 2002; Kaltenthaler et al. 2002; Williams et al. 1998). Bei den meisten dieser Programme handelt es sich allerdings um Offlineangebote, d. h. um Programme, die man auf einer CD-ROM oder DVD erhält und lokal auf einem Computer installiert und anwendet. Erst dank der oben erwähnten Entwicklung von webbasierten Technologien, die die Erstellung dynamischer Webseiten erlauben, können heute die gegenüber traditionellen Selbsthilfemanualen oft diskutierten Vorteile computergestützter Anwendungen wie der interaktive Charakter und die attraktivere Gestaltung auch im Internet realisiert werden (Bauer et al. 2005).

Der Inhalt des webbasierten Selbsthilfeprogramms folgt dem kognitiv-behavioralen Behandlungsansatz sozialer Ängste nach Clark u. Wells (1995; Stangier et al. 2003) und besteht aus verschiedenen, sequenziell zu bearbeitenden Modulen. Da in diesem Beitrag auf Web-2.0-Komponenten fokussiert wird, werden die davon unabhängigen Inhalte des Programms hier nur kurz eingeführt. Im ersten Modul werden die Teilnehmer nach allgemeinen Informationen zu Verbreitung, Erscheinungsbild, Ursachen und Behandlung sozialer Ängste angeleitet, ein individuelles Störungsmodell zu erarbeiten. In einem zweiten Modul lernen die Teilnehmer in verschiedenen Übungen wichtige Komponenten des kognitiv-behavioralen Modells wie eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit und Sicherheitsverhalten zu identifizieren und zu beeinflussen. Während es sich hierbei um Übungen handelt, die zu Hause und vor dem Computer durchgeführt werden können, führt das dritte Modul In-vivo-Verhaltensexperimente ein. Erwartungen vor und Beobachtungen nach der Konfrontation mit kritischen Situationen sollen in einem Verhaltenstagebuch notiert werden. In einem vierten Modul werden die Teilnehmer angeleitet, automatisierte, negative Gedanken in einem Gedankentagebuch zu identifizieren und zu modifizieren.

Ergänzt werden diese Module einerseits durch ein Monitoringsystem, in dem Fortschritte wöchentlich mithilfe von Fragebogen erfasst und den Teilnehmern zurückgemeldet werden. Andererseits enthält das System eine Plattform, auf der die Teilnehmer Kontakt mit einem Psychotherapeuten aufnehmen und Fragen klären können. Die Therapeuten, die in einem Therapeutenportal Fortschritte von Patienten mitverfolgen, schreiben auch unabhängig möglicher Fragen mindestens einmal wöchentlich ein kurzes, motivierendes Feedback.

Schließlich soll erwähnt werden, dass in dieser Anwendung wichtige Sicherheitsstandards eingehalten werden. Hierzu gehören der passwortgeschützte Zugang zum System und die Verschlüsselung der Datenübertragung. Alle Teilnehmer sind uns aufgrund eines diagnostischen Interviews persönlich bekannt; im Internet werden ausschließlich „nicknames“ (Pseudonyme) verwendet. Im Weiteren wird mit jedem Teilnehmer zu Beginn ein individueller Notfallplan erarbeitet.

Welche Web-2.0-Komponenten enthält das Programm?

Ein erstes partizipatives Element wird im Modul zur Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells realisiert. Die Abb. 1 zeigt dies am Beispiel negativer Gedanken. Zur Identifizierung eigener negativer Gedanken erscheinen nach einer Einführung und der Darstellung typischer negativer Gedanken von sozial ängstlichen Menschen auch die negativen Gedanken der anderen Teilnehmer. Dies geschieht in einem Feld, in dem die geäußerten Gedanken der anderen im Fünfsekundentakt nacheinander und vollständig anonymisiert, d. h. auch ohne Angaben der Nicknames, präsentiert werden. Vergleichbares geschieht bei den anderen Komponenten des Angstmodells, das neben den Gedanken kritische Situationen, Angstsymptome, Sicherheitsverhalten und bildhafte Vorstellungen umfasst (Clark u. Wells 1995; Stangier et al. 2003). Bei jeder Komponente des Angstmodells können die Teilnehmer selbst entscheiden, ob die eigenen Angaben veröffentlicht werden. Hat ein Patient sämtliche Aspekte freigegeben, können die anderen auch das gesamte Angstmodell dieser Person betrachten, das die Interaktion zwischen den Komponenten berücksichtigt (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Oberfläche einer Seite der dargestellten Anwendung, auf der die negativen Gedanken der anderen Teilnehmer präsentiert werden

Abb. 2
figure 2

Oberfläche einer Seite der dargestellten Anwendung, auf der die individuellen Angstmodelle der anderen Teilnehmer betrachtet werden können

Ein zweites partizipatives Element wird bei den Übungen zur Beeinflussung sowie zur Veränderung der Selbstaufmerksamkeit und der Sicherheitsverhaltensweisen realisiert. Dieses Modul enthält ein für alle zugängliches Forum, in dem die Patienten ihre Erfahrungen mit den Übungen schildern können (Abb. 3). In diesem Bereich werden die Teilnehmer aufgefordert, günstige und ungünstige Erfahrungen sowie Strategien zur Veränderung der bearbeiteten Komponenten zu nennen, um damit anderen die Arbeit zu erleichtern. Wie in gängigen Foren üblich, ist es den Teilnehmern freigestellt, auf spezifische Einträge mit Antworten und Nachfragen zu reagieren.

Abb. 3
figure 3

Darstellung des auf die Veränderung der selbst fokussierten Aufmerksamkeit und der Sicherheitsverhaltensweisen spezialisierten Forums

In dem Modul, in dem die Teilnehmer zu In-vivo-Verhaltensexperimenten angeleitet werden, erfolgt eine Rückmeldung jener sozialen Situationen, die von anderen geübt wurden. Auch hier können Erfahrungen in einem Forum diskutiert werden. Vergleichbares wurde im Modul zur Identifizierung und Bearbeitung negativer Gedanken realisiert. Neben dem Gedankenforum besteht hier die Möglichkeit, eine Liste der negativen Gedanken der anderen zu durchsuchen und dazugehörige Gedanken zu finden, die von den anderen als positiv und hilfreich erarbeitet wurden. Schließlich können in einem letzten Forum allgemeine Erfahrungen mit dem Selbsthilfeführer geschildert werden.

Welche Vorteile bringen die Web-2.0-Komponenten im dargestellten Angebot?

Psychologische Forschung im Bereich von Web-2.0-Anwendungen ist noch praktisch inexistent. Vorteile von Web 2.0 werden v. a. vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher Überlegungen diskutiert. Ziel eines jeden Internetunternehmens ist es, möglichst viele Menschen möglichst oft auf die eigene Webplattform zu holen und möglichst lange auf dieser zu halten. Das große Interesse an Web 2.0 ist letztlich auf die Beobachtung zurückzuführen, dass die Beliebtheit eines Internetportals durch die Integration partizipativer Elemente gesteigert werden kann.

Auch im dargestellten Selbsthilfeprogramm sollen durch die Web-2.0-Komponenten Anreize geschaffen werden, sich länger und öfter auf der Plattform zu bewegen sowie eine einmal begonnene Bearbeitung des Materials seltener abzubrechen. So sollen die inhaltsspezifischen Foren die Teilnehmer motivieren, sich wiederholt auch mit bereits bearbeiteten Inhalten zu beschäftigen. Angestrebt wird eine intensive und vertiefte Verarbeitung des Erlernten, die auch durch die Erarbeitung eigener Beiträge und der Möglichkeit, Probleme durch die Beiträge anderer aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, gefördert wird.

Es ist das eine, wenn Therapeuten den Patienten Vorschläge für In-vivo-Verhaltensexperimente machen. Es ist das andere, wenn Patienten von anderen Teilnehmern lesen, mit welchen Situationen sie sich konfrontiert haben und was die Erfahrungen waren

Im Weiteren stellen die partizipativen Elemente informative Hilfestellungen dar. Die Angstmodelle früherer Teilnehmer können neuen Patienten als Modell für die Bearbeitung des Selbsthilfematerials dienen. So wird den Patienten z. B. die Identifizierung von Sicherheitsverhaltensweisen anhand realer und glaubwürdiger Beispiele erleichtert.

Die Erhöhung der Glaubwürdigkeit des dargebotenen Materials stellt einen weiteren Vorteil der partizipativen Elemente dar. Es ist das eine, wenn Therapeuten den Patienten Vorschläge für In-vivo-Verhaltensexperimente machen. Es ist das andere, wenn Patienten von anderen Teilnehmern lesen, mit welchen Situationen sie sich konfrontiert haben und was die Erfahrungen waren. Dieser Effekt ist aus Gruppentherapien gut bekannt.

Was sind mögliche Nachteile der partizipativen Elemente?

Ein für die aktive Partizipation offenes System hat den Nachteil, dass die Benutzer – ob absichtlich oder unabsichtlich – verwirrende, falsche oder gar verbotene Inhalte einfügen können. Unabsichtlich könnte ein Patient körperliche Angstsymptome als negative Gedanken identifizieren und als solche ins Programm eingeben. Neue Patienten könnten durch diese Angaben verwirrt werden. Ein anderer Patient könnte sich die Freiheit nehmen, im thematisch auf die Beeinflussung der Selbstaufmerksamkeit festgelegten Forum seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und damit die anderen von fokussierten Inhalten wegführen. Ein weiterer Patient könnte die Foren absichtlich missbrauchen und Links auf eigene oder verbotene Internetseiten einfügen.

Wir haben versucht, diesen möglichen Problemen mit geeigneten Maßnahmen entgegenzuwirken. Einerseits ist uns jeder zugangsberechtigte Teilnehmer aus einem persönlichen Gespräch bekannt: Dies erhöht die Schwelle, z. B. verbotene Inhalte einzufügen. Andererseits werden die Patienten durch einen Therapeuten begleitet, der die Eingaben der Patienten verfolgt. Problematische Inhalte können mit den Patienten diskutiert und aus dem öffentlichen Bereich entfernt werden.

Im Weiteren kann die Integration von Web-2.0-Komponenten die Navigation im Programm erschweren. Die Teilnehmer bearbeiten nicht einfach eine Sitzung nach der anderen. Sie werden angeregt, in Foren vorangegangener Sitzungen zurückzukehren, zwischendurch die Angstmodelle anderer zu betrachten und die Bearbeitung negativer Gedanken an Beispielen mitzuverfolgen. Damit sich die Patienten hier nicht verlieren, wurde ein kleines Begleitfenster integriert, das die Teilnehmer bei der Navigation unterstützt. Haben die Patienten eine Nachricht vom Therapeuten oder Antworten von anderen auf Forenbeiträge erhalten, wird ihnen das angezeigt. Fehlen solche Nachrichten, wird den Teilnehmern vorgeschlagen, beim zuletzt bearbeiteten Material einzusteigen. Die vom Programm vorgeschlagenen Einstiegspunkte können mit einem Mausklick erreicht werden. Hier wird sich zeigen müssen, ob die in Pilotversuchen mit Studenten gewonnenen positiven Erfahrungen auch bei anderen Populationen bestätigt werden. Empirisch zeigen muss sich auch, ob die partizipativen Elemente die Bearbeitung des Selbsthilfematerials tatsächlich unterstützen und ergänzen. Die Web-2.0-Komponenten könnten ungünstig viel Verarbeitungskapazität der Teilnehmer binden und den Lernprozess am Selbsthilfematerial beeinträchtigen.

Grundsätzlich sollte aus diesen Überlegungen hervorgehen, dass keine scharfe Grenzen zwischen dem, was traditionell im engen Sinn als spezifisch therapeutisch zu betrachten ist, und „Artefakten“ sowie „Placebowirkungen“ zu ziehen sind. Wenn also z. B. die Faszination der technischen Möglichkeiten einen Teilnehmer dazu bringt, sich länger mit dem Programm zu beschäftigen, macht dies zumindest im Sinn einer Mediatorvariable (längere Beschäftigung mit dem im engen Sinne therapeutisch Wirksamen) einen Therapieerfolg wahrscheinlicher.

Fazit für die Praxis

Neue Entwicklungen im Internet führen dazu, dass sich professionelle Anbieter webbasierter Programme verstärkt der Frage stellen müssen, wie Elemente, die die aktive Partizipation und Vernetzung der Patienten erlauben, mit der Vermittlung psychotherapeutisch relevanten Wissens kombiniert werden können. Wie können Vorteile partizipativer Elemente genutzt, und gleichzeitig die Beiträge der Teilnehmer so strukturiert werden, dass Inhalte in veränderungsrelevante Bahnen gelenkt werden? Die dargestellte Anwendung stellt das Resultat einer solchen Bemühung dar. Alle partizipativen Elemente des Programms kanalisieren die Beiträge im Rahmen eines psychotherapeutischen Modells. Vor dem Hintergrund anderer Web-2.0-Anwendungen wie Wikipedia mag die starke Strukturierung rigide anmuten. Im Rahmen einer maximal offenen Web-2.0-Anwendung könnten Patienten auch programmierte, psychoedukative Beiträge ergänzen. Anbieter würden darauf vertrauen, dass die Teilnehmer verwirrende, fehlerhafte oder verbotene Inhalte gegenseitig korrigieren. Ob in Zukunft Anwendungen realisiert werden, in denen der psychotherapeutische Beitrag einzig darin besteht, eine durch erste Inhalte angereicherte Struktur zu kreieren, die von den Benutzern inhaltlich ausgebaut werden kann, wird sich zeigen. Klar ist, dass entsprechende Anwendungen auch vor dem Hintergrund der vielen völlig unstrukturierten Diskussionsforen beurteilt werden sollten.