In den letzten Jahren hat die postmortale radiologische Diagnostik, insbesondere durch den Einsatz computertomographischer Verfahren, einen zunehmenden (diagnostischen) Stellenwert in der Diagnostik der Rechtsmedizin erlangt [1, 4, 5, 7, 8, 10, 11, 14, 15]. Vorreiter dieser Technik war die Berner Arbeitsgruppe „Virtopsy“ [12, 13]. Die hierbei entstehenden und archivierten Datensätze stehen über die Bearbeitung des konkreten Falls hinaus für systematische wissenschaftliche Untersuchungen, z. B. forensisch-osteologische Analysen zur Gewinnung von Populationsdaten [16, 17], zur Verfügung.

Im Rahmen der Identifizierung anhand von Bilddokumenten sowie bei Zeugenaussagen ist die Geschlechtsbestimmung des Täters ein wichtiges Merkmal [9]. Das Erkennen und Wiedererkennen von Personen mit Zuweisung des Geschlechts gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten eines Menschen. Die notwendigen Parameter/Kriterien werden in früher Kindheit erlernt und ihre Anwendung läuft weitgehend unbewusst ab. Dabei ist bisher unklar, welche Kriterien ein einzelner Mensch bei der Geschlechtsdiskriminierung seines Gegenübers tatsächlich heranzieht. Es ist davon auszugehen, dass neben den Körperproportionen die wesentlichen Kriterien in morphologischen Charakteristika des Gesichts bzw. des Kopfs und der individuellen Weichteilausgestaltung gesucht werden.

Für die Geschlechtsdiskriminierung am Schädel existieren sowohl morphologische Merkmale als auch morphometrische Analyseverfahren, die eine korrekte Geschlechtsdiagnose in über 90% der Fälle ermöglichen [2, 3, 6]. Geschlechtsdiskriminatorische Merkmale des Gesichts können von den Schädelmerkmalen abgeleitet werden. Dennoch wird eine Beurteilung der Schädelmerkmale am Gesicht aufgrund der erheblichen interindividuellen Variation von Weichteildicken und Ernährungszustand nicht problemlos möglich sein. Bei der unbewussten Blickdiagnose des Geschlechts werden leicht veränderliche Gesichtsmerkmale, bedingt durch Behaarung, persönliche Gestaltung wie Kosmetika, Mutilationen und Schmuck, eine Rolle spielen. Diese können zu Täuschungen führen, wie man z. B. bei Travestiten sehen kann.

Bei der Fotoidentifikation können teilweise Vermummungen oder Maskierungen dazu führen, dass nur Gesichtsweichteile oder Anteile von diesen abgebildet sind. Bei Aufnahmen, die anlässlich von Geschwindigkeitsüberschreitungen entstanden sind, können in Abhängigkeit von der Kopfhaltung durch den Rahmen der Windschutzscheibe, den Rückspiegel oder andere Fahrzeugeinbauten das vollständige Haupthaar und andere Gesichtsregionen verdeckt werden, sodass nur noch Gesichtsweichteilstrukturen, z. T. unvollständig, zur Darstellung kommen.

Es stellt sich die Frage, welche in den Weichteilstrukturen determinierten Gesichtsmerkmale eine Zuweisung des Geschlechts ermöglichen. In der vorliegenden Arbeit sollte zunächst überprüft werden, inwieweit eine korrekte Geschlechtsbestimmung an Gesichtern möglich ist, die auf ihre Weichteilstrukturen reduziert sind.

Material und Methoden

Es wurden 50 Schädel-CT-Datensätze untersucht, die randomisiert aus dem Archiv des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin rekrutiert wurden. Eingeschlossen wurden nur kaukasoide Individuen ohne destruierende Kopfverletzungen oder fortgeschrittene Dekompositionszeichen. Neunzehn Individuen waren weiblich, 31 männlich. Das Lebensalter betrug im Mittelwert 53 Jahre (Standardabweichung 17,5, Median 55, Minimum 24, Maximum 96 Jahre). Die Daten wurden durch postmortale CCT-Scans im Jahr 2008 gewonnen (Philips, Diamond Select MX 8000 Quad). Hierbei wurde eine Schichtdicke von 1,25 mm gewählt. Die Rekonstruktion erfolgte mit Kernel D für Knochengewebe und einem Inkrement von 0,6 mm. Die resultierenden DICOM-Datensätze wiesen 446 bis 492 Einzelbilder mit einer Auflösung von 512×512 Pixeln auf.

Die verblindeten Datensätze wurden unter Verwendung der Software OsiriX® (Version 3.3) dreidimensional rekonstruiert und mit der Funktion „volume rendering“ so dargestellt, dass die Hautoberfläche gut erkennbar war (Abb. 1 und Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Von allen 4 Untersuchern fälschlicherweise als männlich eingeordnetes weibliches Individuum

Abb. 2
figure 2

Männliches Individuum, das von allen 4 Untersuchern als weiblich eingestuft wurde. Zusätzlich sind hier deutliche Artefakte durch Zahnarbeiten zu erkennen, wodurch die Beurteilbarkeit aber nicht wesentlich eingeschränkt wurde

Vier Untersucher mussten sich anhand der frei beweglichen virtuellen Kopfrekonstruktion, unter Berücksichtigung bzw. Betrachtung aller Kopf- und Gesichtsansichten, unabhängig voneinander, ohne Angabe der herangezogenen Kriterien, für die Zuweisung des Geschlechts entscheiden. Die 4 unabhängigen Geschlechtsdiagnosen wurden mit der Software SPSS (Version 15.0) erfasst und ausgewertet.

Ergebnisse

Aufgrund erheblicher Artefakte nach dem Scan in Bauchlage und dem eng an der Gesichtshaut anliegenden Leichensack war der Datensatz eines männlichen Individuums nicht auswertbar. Bei den übrigen Individuen fanden sich nur kleinere, vorwiegend durch Zahnarbeiten verursachte Artefakte (Abb. 2). Durch die freie Beweglichkeit des Kopfs war eine Beurteilung jeweils möglich.

Im Durchschnitt gelang den Untersuchern eine korrekte Geschlechtszuweisung in 80,6 % der Fälle. Hierbei wurden die untersuchten männlichen Individuen in 89,1%, die weiblichen Individuen in 67,1% der Fälle richtig zugewiesen (Tab. 1).

Tab. 1 Korrekte Zuweisungen des Geschlechts für alle Untersucher – insgesamt und nach Geschlechtern getrennt

Bei 2 weiblichen Individuen und bei einem männlichen Individuum nahmen alle 4 Untersucher eine falsche Geschlechtszuweisung vor (Abb. 1 und Abb. 2). Neun Individuen (7 weiblich, 2 männlich) wurden jeweils von 3 der 4 Untersucher falsch zugewiesen.

Diskussion

Durch die Verwendung postmortaler CT-Datensätze gelang es, dreidimensionale, auf die Weichteilstrukturen reduzierte Gesichter zu generieren. Die Oberflächenstruktur der Haut war gut erkennbar, wies jedoch keine Farbinformation auf. Außerdem wurden keine Haarstrukturen (Frisur, Bart, Augenbrauen) sowie andere veränderliche Merkmale (Kosmetika/Pigmentierungsunterschiede) dargestellt.

Alle Gesichter wiesen eine Weichteilverschiebung nach dorsal auf, die durch die liegende Position des Leichnams beim CT-Scan zu erklären ist. In einigen Fällen waren zusätzliche Artefakte durch den Leichensack, andere anliegende Strukturen oder Zahnarbeiten vorhanden, die jedoch nicht zu einer Einschränkung der Beurteilbarkeit führten. Lediglich ein Fall wurde von allen Untersuchern als nicht auswertbar eingestuft: Der Scan war in Bauchlage bei überwiegend eng an der Gesichtshaut anliegendem Leichensack erfolgt. Dadurch zeigte das Gesicht erhebliche Deformierungen, und die Hautoberfläche war überwiegend nicht von den Strukturen des Leichensacks zu trennen.

Weiterhin auffällig war, dass die Gesichter in einigen Fällen etwas aufgetrieben bzw. gedunsen erschienen. Als Ursachen hierfür kommen Polytrauma, intensivmedizinische Behandlung und beginnende Fäulnisveränderung in Betracht. Stark destruierte oder fortgeschritten fäulnisveränderte Leichen waren bei den zufällig ausgewählten Datensätzen nicht enthalten.

Bei der Geschlechtszuweisung schien überraschend, dass sich nach dreidimensionaler Betrachtung der virtuellen Gesichter und Köpfe etwa 20 % Fehleinschätzungen des Geschlechts ergaben. Betrachtet man dagegen die Erfolgsquote der Geschlechtsbestimmung an Schädeln, liegt diese bei etwa 90–95% [3, 6]. Vergleichbare Werte erhielten wir an den virtuell dreidimensional rekonstruierten Schädeln aus denselben 50 Datensätzen, die zuvor für die hier vorgestellte Rekonstruktion und Untersuchung der Gesichter verwendet wurden.

Bei den vorliegenden Ergebnissen ist weiterhin bemerkenswert, dass ein Unterschied der korrekten Geschlechtszuweisung in Abhängigkeit vom Geschlecht des untersuchten Individuums bestand. Während das Geschlecht der männlichen Individuen zu 89% korrekt eingeschätzt wurde, gelang dies bei den weiblichen Individuen nur in 67% der Fälle. Als mögliche Ursache wäre eine Vergröberung der Gesichtsstrukturen in der Darstellung aus den postmortalen CT-Daten zu diskutieren. Andererseits könnte den leicht veränderlichen Gesichtsmerkmalen wie Frisur/Kopf- und Gesichtshaargestaltung und „Kosmetika“ bzw. haut- und farbverändernden Substanzen zumindest in unserer Kultur bei der Geschlechtsdiskriminierung ein derartiger Stellenwert zukommen, dass das Nichtvorhandensein zur fälschlichen Maskulinisierung führt. Es wäre beispielsweise zu überprüfen, ob in Kulturen, in denen Frauen regelmäßig Kopftücher tragen, eine analog zu unserer Studie durchgeführte Untersuchung andere Resultate erbrächte.

Bei 12 Individuen (24%) unserer Studie, davon 9 weiblich und 3 männlich, war die Geschlechtsbestimmung offenbar besonders schwierig: drei oder sogar alle 4 Untersucher bestimmten das Geschlecht falsch. In Abb. 1 und Abb. 2 wird ein weibliches und ein männliches Individuum dargestellt, dessen Geschlecht von allen 4 Untersuchern falsch eingeschätzt wurde. Unklar ist, wie das Ergebnis für diese Individuen sowie für alle untersuchten Individuen bei direkter Inaugenscheinnahme des Leichnams oder vom Leichnam angefertigter Portraitfotos ausgefallen wäre. Beides müsste in einer prospektiv angelegten Studie überprüft werden. Dieselben Untersucher sollten zunächst das Geschlecht am Leichnam einschätzen, wobei lediglich der Kopf einsehbar sein dürfte. Mit einem zeitlichen Verzug von wenigen Wochen sollten den Untersuchern die angefertigten Portraitfotos vorgelegt werden. Nach einer weiteren zeitlichen Latenz wäre als dritter Schritt ein zur vorliegenden Studie analoger Versuchsaufbau anzuwenden. Die Untersucher sollten bei jedem der 3 Untersuchungsschritte für jedes untersuchte Individuum die Kriterien notieren, die letztlich zur Geschlechtsdiagnose geführt haben.

Ein weiterer Versuchsansatz wäre eine Rekrutierung der Datensätze von Individuen mit plötzlichem Todeseintritt ohne wesentliche Agoniephase und ohne Verletzungen in der Kopf-Hals-Region. An den in Anlehnung an die vorliegende Studie rekonstruierten und anonymisierten Gesichtern wäre primär zu überprüfen, welche klassischen morphologischen und morphometrischen anthropologischen Parameter erhoben werden können. Im zweiten Schritt wäre die Korrelation dieser Parameter mit dem Geschlecht zu testen.

Fazit für die Praxis

Wird ein Gesicht auf die Weichteilstrukturen ohne Haare, veränderliche Merkmale und Farbinformationen reduziert, ist die Geschlechtserkennung erschwert. Dabei ist offenbar die Gefahr größer, das Gesicht einer Frau fälschlicherweise als männlich einzuschätzen, als umgekehrt. Für die Fotoidentifikation müssen an den Gesichtsweichteilen klassifizierbare bzw. messbare Merkmale erarbeitet werden, die eine korrekte Geschlechtsdiskriminierung ermöglichen.