Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht, welche Veränderungen die letzte Reform des Berufsbildungsgesetztes im Jahr 2002 für die Gestaltung und Regulierung der Berufsbildung in der Schweiz birgt. Basierend auf dem Historischen Institutionalismus wird argumentiert, dass die im Zuge dieser Reform einsetzende Standardisierungstendenz von einer persistierenden Vielfalt an Umsetzungen gebrochen wird. Entgegen dem vorherrschenden Fokus auf die nationale Makroebene nimmt diese Studie die Mesoebene der Berufsverbände in den Blick. Mittels Experteninterviews wird nicht nur nach dem ‚Wie‘, sondern insbesondere auch nach dem ‚Warum‘ spezifischer Governanceausprägungen der Verbände gefragt. Die Ergebnisse zeigen, dass pfadabhängige Kooperationsformen und kollektiv gefestigte Grundüberzeugungen gewandelte bzw. standardisierte Governancestrukturen und -modi überformen.
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Notes
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Es ist hier wichtig anzumerken, dass zwar die Aufgabenteilung zwischen den drei Partnern historische Kontinuität aufweist, der Begriff OdA jedoch eine neue Bezeichnung ist, die erst im Rahmen des BBG (2002) geprägt wurde. Damit sollte der Heterogenität der Organisationen, die die Berufsbildung gestalten, Rechnung getragen werden. Da es sich in den von uns untersuchten Bereichen (Elektrotechnik und Nahrung) ausschliesslich um Berufsverbände handelt, werden in diesem Text beide Begriffe verwendet.
- 2.
Aus dem Nahrungsbereich wurden folgende Verbände analysiert: Schweizerischer Bäcker-Confiseurmeister-Verband, OdA AgriAliForm, Schweizerischer Fleischfachverband, Milchwirtschaftlicher Verein, Schweizerischer Verein Arbeitswelt Müller/in, Arbeitsgemeinschaft Lebensmitteltechnologen/in. Das Feld der Elektrotechnik setzt sich aus folgenden Verbänden zusammen: Verband der Maschinen-Elektro- und Metallindustrie, EIT.swiss, Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, MultimediaTec Swiss und Arbeitsgemeinschaft der Lehrmeister von Physiklaboranten. Es besteht ein Gleichgewicht zwischen grösseren, mittleren und kleinen Verbänden. Die Trägerverbände der untersuchten Berufe unterscheiden sich sehr stark im Grad der Professionalisierung: so stehen sich Verbände mit 21 Vollzeit-Angestellten und solche mit durchwegs nebenberuflichen Strukturen im Milizsystem gegenüber.
- 3.
Die Interviews dauerten von einer bis eineinhalb Stunden maximal und fanden zwischen März und Dezember 2018 an den Standorten der Verbände (oder Firmen) statt.
- 4.
Neben dem Eidgenössischen Berufszeugnis (EFZ), das Lernende nach einer drei- bis vierjährigen Ausbildung erwerben, wurden im Zuge der Gesetzesreform 2002 auch zweijährige berufliche Grundbildungen mit geringeren (beruflichen) Ansprüchen (Eidgenössisches Berufsattest (EBA)) ermöglicht.
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