Zusammenfassung
Carl Schmitts Politische Theologie ist auf der einen Seite ein diskutabler Versuch, das Wesen moderner politischer Gewalt zu bestimmen. Zugleich sind seine Weimarer Schriften eine harsche Kritik am Rechtspositivismus und der liberalen Staatstheorie seiner Zeit. Auf der anderen Seite verfolgt die Bestimmung des Souveräns ein unmittelbar politisches Interesse: Schmitts Denken ist Ausdruck eines Unbehagens, das sich gegen den Liberalismus richtet und ihn für die autoritär-etatistische Lösung der der Moderne immanenten gesellschaftlichen Widersprüche optieren lässt. Insofern können Schmitts Schriften dabei helfen, vergleichbare autoritäre Herrschaftsformen in den Blick zu nehmen, weisen seine Kategorien doch über den Weimarer Kontext hinaus. Trotz theorieimmanenter Grenzen kann eine Analyse des russischen Autoritarismus unter Vladimir Putin daher Schmitts Denken zum Ausgang nehmen. Putin hat nach Jahren der chaotischen wie krisenhaften postsowjetischen Transformation einen starken Staat restituiert, der die partikularen gesellschaftlichen Interessen seiner Ordnung unterworfen hat. Der russische Präsident erweist sich dabei, gestützt auf mächtige Netzwerke in den Sicherheitsbehörden, als Souverän.
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Notes
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Breuer gibt mit Niklas Luhmann den Hinweis, dass sich der Staat gemäß der Logik moderner Vergesellschaftung von einer „autonomen Instanz“ über der Gesellschaft in ein gesellschaftliches Teilsystem verwandele und dies das zentrale Thema Schmitts sei (Breuer 1984, S. 514).
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Schmitts Bemerkung, die Ausnahme sei interessanter als das Normale, ist daher ein wichtiger Ausgangspunkt linker Staatstheoretiker wie Franz Neumann oder Otto Kirchheimer, zeigt sich doch in der „Krise als Höhepunkt einer pathologischen Entwicklung“ (Neumann 1988, S. 562) die Verschränkung von Ausnahme und Normalität.
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Putins Rolle als martialischer Führer, der im Tschetschenien-Krieg 1999 eigenhändig Raketen abschoss (Mommsen 2003, S. 97), war Auftakt der polittechnologischen Inszenierung zum „starken Mann“ und erinnert an die Propaganda der „massenfeindlichen Massenbewegungen“ (Stender 1996, S. 48) im 20. Jahrhundert.
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Als siloviki werden die Vertreter der Sicherheitsapparate in den neuen Machteliten bezeichnet. Ihre männerbündische Organisierung wäre im Kontext des Verhältnisses von Männlichkeit und Staat (Sombart 1991) näher zu beleuchten.
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Keune, H. (2017). Carl Schmitt in Moskau. In: Lemke, M. (eds) Ausnahmezustand. Staat – Souveränität – Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16588-8_11
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