Zusammenfassung
Der britische Geograf Richard Hartshorne erkannte bereits im Jahr 1937 die zentrale Rolle von Landkarten für den deutschen Revisionismus gegenüber dem Versailler Vertrag und seinen Bestimmungen. Landkarten hatten sich in den 1920er Jahren zu zentralen Trägermedien deutscher Diskurse um Friedensvertrag, Reparationsforderungen und territoriale Abtretungen vor allem entlang der deutschen Ostgrenzen etabliert: Sprach- und Bevölkerungskarten, Grenzkarten sowie Karten von Abstimmungsgebieten und -ergebnissen hatten in wissenschaftlichen Abhandlungen und Zeitschriftenartikeln einen festen Platz, ebenso in der Alltagspublizistik. Die Karten waren dabei mehr als nur Illustrationsobjekte für geschriebene Texte. Für den Großteil der deutschen Bevölkerung, die fern der betroffenen Gebiete lebte, konnten die territorialen Abtretungen als Folge des Versailler Vertrages im Vergleich zu weitaus offensichtlicheren Auswirkungen wie den Reparationszahlungen oder der vorgeschriebenen Demokratisierung von Politik und Gesellschaft lediglich eine abstrakte Bedeutung besitzen. Es ist daher die grundlegende These dieses Beitrags, dass Landkarten die Gebietsverluste an der Ostgrenze sinnlich erfahrbar machten. Der Satz muss geändert werden: “Sie gaben ihnen eine visuelle Gestalt und konkretisierten sie dadurch.” Wie im Folgenden gezeigt werden wird, fungierten Landkarten innerhalb des „Ost-Diskurses“ der Weimarer Republik als Medien der visuellen Evidenzherstellung. Ihre Kennzeichnung als „logische Bilder“ trug darüber hinaus zu einer Verwissenschaftlichung des Diskurses bei. Indem Landkarten das Unrechtsbewusstsein der Deutschen über die territorialen Abtretungen im Osten wachriefen und -hielten, wurden sie zu Instrumenten des deutschen Revisionsgedankens.
*Zitat bei März (1921, S. 261.)
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Notes
- 1.
Unter „logischen Bildern“ versteht man schematische Darstellungen meist komplexer Strukturen wie Diagramme oder Landkarten. Vgl. Pápay (2005, S. 87).
- 2.
- 3.
Vgl. Wippermann (2007).
- 4.
Dieser Aufsatz stellt Zwischenergebnisse meiner laufenden Dissertation mit dem Arbeitstitel Die öffentlichen Debatten der Ostgrenzen in der Weimarer Republik 1919–1933 vor. Einen kursorischen Überblick über den Ostgrenzen-Diskurs gibt Conze (2007).
- 5.
Als grundlegend gelten hierbei die Arbeiten des Kartografiehistorikers J. B. Harley, der in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren Landkarten in Rückbezug auf Michel Foucault und Jaques Derrida als soziale Konstruktionen und Machtmittel enttarnte. Vgl. Harley (2001a). Zur Kritik an Harley bzw. der Weiterentwicklung seiner Gedanken vgl. Kitchin et al. (2011a).
- 6.
Andere kartografische Bildformen sind etwa das Anamorph oder der dreidimensionale Globus. Vgl. Pápay (2005, S. 86).
- 7.
Harley diskutiert vor diesem Hintergrund Landkarten als „means of surveillance“ als Überwachungsmechanismen im Sinne Michel Foucaults.’
- 8.
Crampton verweist hier auf die Arbeiten von J. B. Harley, der sich auf Foucaults „Praktiken der Einteilung“ von Subjekten in gesund oder verrückt bzw. kriminell oder gut bezieht. Vgl. Foucault (1982).
- 9.
Ein besonders anschauliches Beispiel für eine solche Zusammenarbeit ist die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig. Vgl. Fahlbusch (1994).
- 10.
Zum Begriff „Leitmedium“ vgl. Göttlich (2002, S. 194).
- 11.
Brief des Ministers des Innern an den Regierungspräsidenten in Marienwerder vom 17. November 1932, in: GStA PK, I. HA Rep. 77 Ministerium des Innern, Titel 856 Deutsche Korridorpropaganda, Bd. 1: Dezember 1928 bis Dezember 1931, Lfd. Nr. 658.
- 12.
Es lassen sich innerhalb des Ost-Diskurses immer wieder Stimmen finden, die dafür plädieren, dass das Unrecht im Osten nicht in Vergessenheit geraten dürfe. Beispielhaft Gärtner (1930).
- 13.
Das wohl bekannteste Theorem ist hier das von Albrecht Penck ausgearbeitete Konzept des deutschen Volks- und Kulturbodens (Penck 1925).
- 14.
Gleichzeitig lässt sich unter den Geografen und Kartografen eine intensive Diskussion bezüglich Volkszählungen und ihrer kartografischen Umsetzung feststellen. Beispielhaft Stahlberg (1921).
- 15.
Gemeint sind Maßstäbe und die entsprechende Darstellung nach Gemeinden oder größeren Verwaltungsbezirken.
- 16.
Pencks Landkarte Die Verteilung der Deutschen und Polen in West-Preussen und Posen wurde zuerst in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin publiziert, darüber hinaus am 9. Februar 1919 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung und fand Eingang in den am 14. März 1919 veröffentlichten wöchentlichen Bericht der Volksräte der Distrikte Posen und Westpreußen und in eine 1919 erschienene Broschüre des Reichsverbandes Ostschutz. Vgl. Herb (1997, S. 24). Eine modifizierte Version dieser Karte wurde 1919 in der Broschüre Ist die Ostmark unbestreitbar polnisches Gebiet? publiziert und findet sich auch in einem von Penck verfassten Artikel in der Illustrirten Zeitung vom 22. Mai 1919.
- 17.
Beispielhaft die Landkarte Deutschlands Verstümmelung. In: Braun, Franz et al. (Hrsg.) (1929): Geopolitischer Geschichtsatlas. Teil 3: Neuzeit. Dresden: Ehlermann.
- 18.
Zum Begriff der Blicklenkung vgl. Haslinger (2010, S. 12–13).
- 19.
Beispielhaft sei hier auf die Routine des täglichen Lesens von Landkarten in Wettervorhersagen, Autostraßen- oder U-Bahnkarten verwiesen.
- 20.
Nach Etienne François und Hagen Schulze kann „Jedes Schulbuch, jedes Testament, jedes Archiv, jeder Verein, jede Gedenkminute [kann] als Erinnerungsort beschrieben werden, wenn damit bewußte [sic!] Überlieferungsabsichten verbunden sind.“ (François 2005, S. 11–12).
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Laba, A. (2014). „Das Kartenbild bleibt.“ Landkarten als Visualisierungsstrategien im Ost-Diskurs der Weimarer Republik. In: Eder, F., Kühschelm, O., Linsboth, C. (eds) Bilder in historischen Diskursen. Interdisziplinäre Diskursforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-05398-7_9
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