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Wo „der Osten“ liegt. Umrisse und Ambivalenzen eines verschwundenen und verschwindenden Landes

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Der Osten

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen zur symbolischen Geografie wird in diesem Artikel versucht, die imaginierten Umrisse „des Ostens“ in Deutschland zu rekonstruieren, so wie sie in alltagssprachlichen Kommunikationen ehemaliger DDR-Bürger hervortreten. Da „der Osten“ an sich nur eine relative Bezeichnung darstellt, lässt er sich nicht objektiv verorten, sondern nur im Verhältnis zu einem gegenüberstehenden „Westen“ als Teilzone eines vorläufig bestimmten Ganzen. Demzufolge tendiert der symbolgeografische Ost/West-Gegensatz sich „fraktalhaft“ auf entweder kleinerer oder größerer Ebene zu reproduzieren, kann aber auch in eine Abstufung von Östlichkeiten aufgehen, was den Eindruck erzeugt, dass „der Osten“ sich ständig in die Ferne flüchtet. Bei Wortbildungen, die sich auf Gruppen von Menschen beziehen, treten ähnliche Erscheinungsmuster hervor. Solche Erscheinungen werden im hiesigen Falle vor allem auf die plötzliche Auflösung der DDR sowie auf die nachfolgende rapide (dennoch ungleichmäßige) „Verwestlichung“ der Heimatregion zurückgeführt, was sich auf sprachlicher Ebene in einer Verdoppelung des zeitlichen Bezugspunkts zum „Ostens“ widerspiegelt. So steht der alltagssprachliche „Osten“ zugleich für ein verschwundenes und ein verschwindendes Land, das mit durchaus ambivalenten Assoziationen sowie mit entgegengesetzten Umgangsstrategien verbunden ist.

Der Autor möchte sich bei folgenden Personen für ihre Hilfsbereitschaft zu verschiedenen Phasen des Forschungsprojekts herzlich bedanken: Andrew Abbott, Wendy Griswold, Gary Herrigel, Cynthia Opitz, Anke Pinkert, Axel Segert, Paul Steege, George Steinmetz, Roland Verwiebe, Tilo Wolf und die (hier anonym bleibenden) Interviewteilnehmer aller Befragungswellen. Finanziell unterstützt wurde die erste Welle durch das Council for European Studies. Bei der Verfassung dieses Artikels waren einsichtsvolle Kommentare und Kritiken von Henri Band, Andrew Bergerson, Daniel Kubiak, Sandra Matthäus sowie Roland Verwiebe besonders hilfreich.

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Notes

  1. 1.

    So drückte sich die in Brandenburg aufgewachsene deutsche Bundeskanzlerin im Mai 2014 bei einer Festrede in Berlin wie folgt aus: „Deshalb ist es ein Glück, dass wir vor wenigen Tagen die große Osterweiterung der Europäischen Union von vor zehn Jahren feiern konnten. Die Aufnahme der zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten in die Europäische Union war ein großer Moment in der europäischen Geschichte“ (Merkel 2014).

  2. 2.

    Neben vielen anderen könnten Beispiele wie die MDR-Serie „Der Osten – Entdecke wo du lebst“, das Buch „Der Osten ist ein Gefühl“ von Anja Goerz (2014) oder die ab September 2013 von der Wochenzeitung DIE ZEIT angebotene Regional-Ausgabe „Zeit im Osten“ genannt werden.

  3. 3.

    Hierbei ließen sich zunächst Nachteile für den Erkenntnisprozess vermuten. Streng genommen, muss dies allerdings als Vorteil im Rahmen einer Ethnografie betrachtet werden, da hier Vorwissen nicht erst künstlich ausgeblendet werden muss. Das Wissen über meinen Gegenstand habe ich mir so durch meine längsschnittethnografische Feldforschung sowie durch zwei frühere Aufenthalte in der damaligen DDR, 1986 als Austauschstudent und 1988 als Englischlehrer an der damaligen Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, angeeignet.

  4. 4.

    Eine strenge Skaleninvarianz ist zwar nur bei aus mathematischen Formeln generierten Fraktalen vorhanden, doch kommen fraktalähnliche Muster in der Naturwelt (Mandelbrot 1982) sowie in sozialen Systemen (Abbott 2001) häufig vor. Im letzteren Fall sind selbstwiederholende Muster durchaus Produkte sinnhaften menschlichen Handelns (sie existieren also nicht rein objektiv, sondern intersubjektiv), entstehen oft aus unserer Tendenz, feine Unterschiede nur auf der Ebene zu machen, auf der wir uns selbst befinden (Abbott 2001). Wenn auf höherer und niedrigerer Ebene nach demselben Kriterium unterschieden wird, weist das System insgesamt eine ungefähr selbstähnliche Struktur auf. Diese Selbstähnlichkeit der Gesamtstruktur wird allerdings vom einzelnen Mitglied des Systems meist nicht zur Kenntnis genommen. Um sie zu erkennen, müsste der Beobachter die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen von Akteuren miteinander vergleichen, die das System aus dem Blickwinkel höherer bzw. niedrigerer Ebenen betrachten.

  5. 5.

    Am ungarischen Beispiel lässt sich überdies sehen, dass die Wiederholung der Ost-West-Opposition nicht ausschließlich im geografischen Raum stattfinden muss, sondern auch dazu dienen kann, zwischen ideologisch entgegengesetzten Gruppierungen zu unterscheiden. So führt Gal (1991) fort: „If Hungary is opposed to Europe or the west, then within Hungary this opposition is recreated, dividing Hungarians themselves into those who defend national ideals as opposed to those who advocate European methods, styles, and trends“ (Gal 1991, S. 446).

  6. 6.

    Unabhängig vom hiesigen Projekt wurden 1996 bis 1998 im Anschluss an die Lebensverlaufsstudie Ostdeutschlands (LV-Ost) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung qualitative lebengeschichtliche Interviews mit 34 der LV-Ost-Befragten in Berlin und Dresden vom Autor durchgeführt. In diesem Artikel werden zwar weder die daraus resultierenden Interviews noch die LV-Ost-Umfragedaten behandelt, dennoch haben die in jenem Zeitraum gesammelten Forschungserfahrungen vieles zum Wissen des Autors über die biografischen Hintergründe sowie die Alltagskommunikationspraktiken ehemaliger DDR-Bürger beigetragen. Umgekehrt können die Fragestellung sowie die Ergebnisse des vorliegenden Artikels zum Teil als eine Weiterführung und Ergänzung von Themen betrachtet werden, mit denen sich der Autor sowohl Ende der 1990er Jahre als auch in den Jahren danach weiterhin beschäftigt hat. Erste Ansätze eines Fazits über ostdeutsche Identitäten sowie über das soziale Gedächtnis der ehemaligen DDR-Bürger wurde anhand der Lebensgeschichten von LV-Ost-Teilnehmern in einem früheren Artikel (Straughn 2007) veröffentlicht. Darin wurde die Spannbreite identitärer Stellungnahmen sowie die Strittigkeit dieser unter den Beteiligten zwar schon in groben Umrissen dargestellt, jedoch ohne theoretische bzw. methodische Einbettung in den hier herangezogenen symbolgeografisch orientierten Untersuchungsrahmen. In dieser Hinsicht stellen die Fragestellung, die theoretische Einbettung sowie die empirischen Ergebnisse des vorliegenden Artikels eine wesentliche Weiterentwicklung der damaligen Forschungsschwerpunkte dar.

  7. 7.

    Solche Äußerungen sind insofern als „alltäglich“ zu verstehen, als sie aus informellen Gesprächen entstanden sind und derart den gewohnten Sprachgebrauch der alltäglichen Lebenswelt widerspiegeln (Honer 2011).

  8. 8.

    Im Folgenden werden Auslassungen bei Zitaten durch Elipsispünktchen in eckigen Klammern ([…]) gekennzeichnet. Pünktchen ohne Klammern (…) bezeichnen eine Pause von höchstens drei Sekunden. Ein Doppelstrich (—) bedeutet den Abbruch eines Satzes bzw. einer Gedankenkette.

  9. 9.

    Allerdings bleibt diese Nomenklatur aus verschiedenen Gründen problematisch (Offe 1996, S. 156 f.).

  10. 10.

    Durch die Bezeichnung der beiden Bezugsmöglichkeiten als „Ersten“ bzw. „Zweiten Osten“ soll nicht an die (eigentlich umgekehrte) historische Reihenfolge erinnert werden, sondern an die phänomenologische Priorität der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit (siehe Schütz und Luckmann 2003).

  11. 11.

    Die Tour folgte auf eine Einladung durch den Studienteilnehmer, die am Ende unseres ersten Interviews spontan ausgesprochen wurde und wurde vom Autor mithilfe einer Videokamera aufgenommen. Endziel der Tour war das Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhausen, in dessen Nähe der Interviewte als Kind gewohnt hatte.

  12. 12.

    Diese drei Silben wurden von der Sprechenden verlängert, um ihrem eigenen Erstaunen Ausdruck zu verleihen.

  13. 13.

    Während eines kurzen Vorgesprächs in einem Café fragte der Interviewpartner den Forscher über die Zwecke der erweiterten Studie. Zu dessen Antwort kommentierte er knapp: „Man sollte sich nicht zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen. Die Zukunft ist wichtiger“ (Feldnotizen des Autors).

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Straughn, J. (2016). Wo „der Osten“ liegt. Umrisse und Ambivalenzen eines verschwundenen und verschwindenden Landes. In: Matthäus, S., Kubiak, D. (eds) Der Osten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06401-3_9

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