Abstract
Aus ethischer Perspektive ist Kindheit als eine Lebensphase der Gleichheit und Differenz zu verstehen. Damit ist gemeint, dass Kinder einerseits Erwachsenen normativ gleichzustellen – und damit gleichwertig – sind und andererseits die Tatsache moralisch relevant wird, dass Kindheit eine besonders vulnerable Entwicklungsphase ist, in der Kinder verschiedene Fähigkeiten erst noch ausbilden, von Fürsorgenden hochgradig abhängig sind und Erfahrungen in der Gegenwart nachhaltige Auswirkungen auf ihre mögliche Zukunft haben. Dieses Spannungsfeld zeigt sich besonders an der Frage der kindlichen Selbstbestimmung. In der philosophischen Diskussion wird Kindheit oft als Beispielfall für das Fehlen von Autonomie verwendet und Kindheit als Transitorium für das spätere Erwachsenenleben verstanden. Aus kinderrechtlicher Sicht dagegen werden Kinder als Subjekte und Akteure bereits in der Gegenwart und Selbstbestimmung im Zuge ihrer „evolving capacities“ prozesshaft verstanden. Ist kindliche Selbstbestimmung im Kontext der aktuellen Mediatisierung von Kindheit einerseits neuartig möglich durch die Nutzung von medialen Angeboten und die Partizipation an sozialen Interaktionen, so ist sie andererseits hochgradig fragil durch die Verletzung kindlicher Schutzrechte, wie durch Cybermobbing, Hate Speech, verstörende gewalthaltige oder pornographische Inhalte, aber vor allem mit Blick auf informationelle Selbstbestimmung. So bricht der gesteigerte Zugang zum Netz einerseits die Generationenordnung auf, indem Kinder immer früher Zugang zu Informationen und Interaktionen erhalten, die es ihnen ermöglichen ihre Meinung auszudrücken und am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Gleichzeitig können diese Freiheitsrechte durch einen Verlust der informationellen Selbstbestimmung eingeschränkt oder gar bedroht werden. Der Beitrag untersucht das Themenfeld neuer Technologien mit Blick auf Kindheit(en) aus kinderethischer und kinderrechtlicher Perspektive beispielhaft anhand der Frage informationeller Selbstbestimmung. Mit Blick auf relationale Autonomiekonzepte und den Bezug auf eine kontextsensible Ethik erarbeitet der Beitrag anhand von Beispielen und aktuellen empirischen Studien ethische Perspektiven auf die Privatsphäre von Kindern in digitalen Umgebungen.
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Notes
- 1.
Den Begriff „Kinder“ benutze ich hier mit der UN-Kinderrechtskonvention, die Kindheit als Phase zwischen der Geburt und bis zum vollendeten 18. Lebensjahr (und de facto bis zur Volljährigkeit) versteht. Damit wird im Folgenden nicht zwischen Kindern und Jugendlichen unterschieden, es sei denn, die Begriffe werden beispielsweise in Gesetzestexten wie dem „Jugendmedienschutz“ verwendet.
- 2.
Trotz einer starken umgangssprachlichen Überschneidung der Begriffe „Technik“ und „Technologie“ möchte ich mich hier an Ropohls (2009, 31) Unterscheidung orientieren, nach der Technologie die „Wissenschaft von der Technik“, wohingegen Technik den „bestimmten Bereich der konkreten Erfahrungswirklichkeit“ bezeichnet. Technologie beschreibt damit die „Menge wissenschaftlich systematisierter Aussagen über jenen Wirklichkeitsbereich und funktioniert auf einer Metaebene. Technik hat dagegen drei Dimensionen, nämlich die soziale, die humane und die naturale Dimension.
- 3.
- 4.
Gut zwei Drittel zeigen weiterhin Interesse an den Themen „Sport“, „Handy/Smartphone“ sowie „Schule“. Gut drei von fünf Kindern begeistern sich für „Internet/Computer/Laptop“, „Musik“ und „Computer-/Konsolen-/Onlinespiele“.
- 5.
Wiesemann (2019, 195) unterscheidet deskriptive und normative Vulnerabilität. Erstere bezieht sich auf „spezifische Eigenschaften von Personen oder Personengruppen, ohne diese einer moralischen Bewertung zu unterziehen“, während normative Vulnerabilität „bestimmte Ansprüche bzw. Verpflichtungen Dritter“ impliziert. Da Menschen allgemein verletzlich sind sollte nicht generell aus der deskriptiven auf die normative Dimension geschlossen werden. Es gibt aber gute Gründe, dass aus der besonderen Verletzlichkeit von Kindern auch normative Ansprüche folgen. Unterschiedlich diskutiert wird, ob Verletzbarkeit „prinzipiell als Aufforderung von Schutz und Fürsorge zu verstehen ist“, und, so die Frage hier, inwieweit kindliche Selbstbestimmung und Fürsorge ineinandergreifen können.
- 6.
vgl. Collins Dictionary „Sharenting“, online unter: https://www.collinsdictionary.com/dictionary/english/sharenting [Zugriff: 17.12.2019].
- 7.
So war das Mindestalter von 13 Jahren auf 16 Jahre angehoben worden und wird im Zuge der neuen Datenschutz-Grundverordnung jetzt auch von Kindern abgefragt (vgl. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/whatsapp-setzt-mindestalter-auf-16-jahre-herauf-15558790.html [Zugriff: 17.12.2019]).
- 8.
vgl. den Fall einer 18-jährigen österreicherischen Schülerin, die ihre Eltern wegen Sharenting verklagte (vgl. https://www.welt.de/vermischtes/article158099198/Sie-kannten-keine-Scham-und-keine-Grenze.html [Zugriff: 17.12.2019]).
- 9.
Archard und Skivenes (2009, 10) untersuchen dieses Spannungsverhältnis und betonen die Wichtigkeit des „principle of equity“, nach dem „a child should not be judged against a standard of competence by which even most adults would fail.“ Anhand von Beispielfällen aus Norwegen und Groß-Britannien zeigen sie auf, dass es auf angemessene Verfahren ankommt, um das individuelle Recht auf Partizipation angemessen umzusetzen.
- 10.
Für einen Überblick der Kritik feministischer Ethik am Autonomiebegriff vgl. Conradi 2001.
- 11.
Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel die lebenslang wichtige Bedeutung von transparent gemachten Informationen durch mediale Anbieter und der Förderung grundlegender Kompetenzen im Lebensverlauf. Eltern können ihre Kinder im genannten Beispiel nur dann aktiv begleiten, wenn sie selbst über das notwendige Wissen und die Kompetenzen verfügen.
- 12.
Gemäß des gängigen Ideals von Autonomie „individual autonomy is overemphasized and […] an „atomistic“ or „abstract individualistic“ conception of the self is presupposed.“ (Barclay 2000, 52 f.) Dieser Fokus auf reflektierende Fähigkeiten impliziere, dass das Selbst alle sozialen Einflüsse und Beziehungen transzendieren könne.
- 13.
Obwohl sich dieser Gedanke noch weiter zurückführen lässt, ist mit ihm ein Umdenken in Gang gekommen, welches Grundannahmen der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 geprägt hat.
- 14.
Art. 3 UN-KRK lautet: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“
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Stapf, I. (2020). Kindliche Selbstbestimmung in digitalen Kontexten. In: Buck, M.F., Drerup, J., Schweiger, G. (eds) Neue Technologien – neue Kindheiten?. Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie , vol 3. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05673-3_3
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