Durch RDE steckt die Antriebsentwicklung in einem Dilemma: Einerseits wird die Zertifizierung vom Labor auf die Straße verlagert, andererseits streben alle F&E-Strategien nach Virtualisierung und Digitalisierung. AVL hat gemeinsam mit der Universität Cluj-Napoca einen Workflow konzipiert, mit dem reale RDE-Testfahrten in eine virtuelle Versuchsumgebung überführen werden können.

Abbilden der individuellen Mobilität

Seit Januar 2016 gilt die Verordnung der europäischen Kommission, dass die Emissionen von PKW unter realen Fahrbedingungen geprüft werden müssen (Real Driving Emissions, kurz RDE) [1]. Ab dem 1. September 2017 ist die Monitoring-Phase beendet und die RDE-Tests sind zulassungsrelevant. RDE wird technologische und methodische Innovationen vorantreiben. Das Design von Brennraum, Turboaufladung, AGR und Abgasnachbehandlungssystem müssen überarbeitet und neu ausgelegt werden. Neue Steuergeräte-Funktionen müssen implementiert und kalibriert werden. Und nicht zuletzt sind signifikante Veränderungen in den zugehörigen Entwicklungs- und Testprozessen erforderlich.

Doch was bedeutet RDE eigentlich über den formalen Gesetzestext hinaus? Bild 1 zeigt eine historische Werbung, auf der ein Ehepaar sehnsuchtsvoll von einem Hügel auf eine mit Autos belebte Straße blickt. „Opening the highways to all mankind“ — Diese Vision von der individuellen Mobilität ist heute Realität: Bei strömendem Regen zum Kindergarten und zur Arbeit, am Wochenende zum Bezirksliga-Bolzplatz, nachts schnell mal Vollgas nach Berlin und im Sommer mit Familie und vollgestopftem Wohnanhänger über den Brenner und ab in den Süden. Heute stellt RDE die Hersteller vor die Herausforderung, „all mankind“, also das echte Leben, im Testprozess abzubilden. Die verbindlichen Emissionslimits müssen im gesamten Spektrum der realen Betriebsbedingungen eingehalten werden.

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Die Herausforderung: die Real Driving Emissions der Menschheit im Testprozess abbilden (Anzeige in der “Saturday Evening Post” vom 24.01.1925) (© Ford Motor Company)

Einen digitalen Faden weben

Die Antwort auf diese Herausforderung lautet: digitale Transformation über den gesamten Testlebenszyklus (Road — Lab — Math) hinweg. Dies mag auf den ersten Blick paradox klingen. Verlagert doch gerade RDE die Zertifizierung vom Labor auf die Straße. Allerdings ist die Virtualisierung der Tests der einzige Weg, um die oben beschriebene Vielfalt überhaupt reproduzieren zu können. Wir stellen daher eine offene und modellbasierte Entwicklungsumgebung vor, die es erlaubt, mit den richtigen Tests zur richtigen Zeit komplexe RDE-Entscheidungen zu treffen. Und nicht nur das! Blicken wir über den Tellerrand hinaus, lassen sich hiermit komplexe RDx-Entscheidungen treffen, wobei das x für „E=Emissions“, „FC=Fuel Consumption“, etc. steht. Die Basis bilden „digitale Zwillinge“, das heißt virtuelle Prototypen, die die virtuelle und die physikalische Welt verschmelzen lassen. Die praktischen Fahrzeugemissionen, -verbräuche, etc. können anhand dieser digitalen Zwillinge im gesamten Testprozess untersucht und optimiert werden.

Allerdings ist der Übergang in eine neue Ära des modellbasierten Entwickelns und Testens (MBD) keine triviale Aufgabe. Man muss wissen, wo man anfängt. AVL hat daher ein zweckmäßiges „Real Road-to-Lab“-Programm entwickelt — standardisiert und dennoch für jede F&E-Abteilung flexibel anpassbar. Der Workflow ist so konzipiert, dass OEMs und Tier-1-Zulieferer Schritt für Schritt einen digitalen Faden durch ihre Test-Wertschöpfungskette weben. Modellbasierte Teststrategien werden so effektiv in den Laboren verankert. Gleichzeitig gewinnen die Mitarbeiter Vertrauen in die neue Methode, da sich die Ergebnisse realer RDE-Fahrten 1:1 mit den Simulationsergebnissen vergleichen lassen.

Das Programm kann direkt vor Ort bei den OEMs oder Tier-1-Zulieferern durchgeführt werden. Auch das neu ausgestattete Antriebstestlabor der Universität Cluj-Napoca bietet die hierzu notwendige Infrastruktur, Bild 2. Den Workflow beschreibt Bild 3.

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Antriebstestlabor der Universität Cluj-Napoca (© Technical University of Cluj-Napoca)

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RDE-Workflow (© AVL)

Schritt 1: Definition des Manöverkatalogs

Um die Ergebnisse der realen und virtuellen Fahrversuche direkt vergleichen zu können, müssen die Tests klar definiert werden. Die Aufgabe dieses ersten Schritts ist also die Definition eines sogenannten Manöverkatalogs. Die Manöver reichen von Tests zur Identifikation und Validierung des virtuellen Fahrzeugs (etwa konstante Fahrgeschwindigkeit, Ausrollversuche mit und ohne eingelegtem Gang, Ausrollen in der Kurve) bis hin zu komplexen Szenarien wie Rückwärtsfahren in der Stadt, Staus oder Bergfahrten im Sport-Modus. Als Teststrecken dienen die digitalen Strecken firmeneigener oder öffentlicher Testgelände oder öffentlicher Straßen. Als Vorlage für die Tests können die eigenen Spezifikationen oder auch vorhandene AVL-Kataloge dienen. Ein solcher Manöverkatalog sollte mindestens eine, besser zwei oder drei Testkampagnen abdecken, die RDE-konform sind. Ist ein Manöverkatalog einmal aufgebaut, ist er in der Regel für viele Monate fix und wird über die Jahre nur leicht angepasst. Er kann für alle Fahrzeug- und Fahrertypen angewendet werden.

Schritt 2: Outdoor-Tests

Anschließend wird der definierte Manöverkatalog draußen im realen Fahrzeug ausgeführt. Die hierbei online gemessenen und aufgezeichneten Werte beinhalten die PEMS-Messungen mit AVL M.O.V.E [2], Bild 4, die Powertrain-CAN-Kommunikation inklusive OBD sowie Daten einer Inertial Measurement Unit (IMU), die durch DGPS (Differential GPS) und im Einzelfall barometrisch korrigiert wird [3]. Es ist nützlich, die Fahrsituation zusätzlich mit einer Actioncam zu filmen. Jedes Manöver sollte mindestens fünfmal, besser sieben- oder neunmal wiederholt werden, um die Ergebnisse statistisch bewerten zu können.

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Absolvieren des Manöverkatalogs im realen Fahrzeug auf realen Strecken (© AVL)

Schritt 3: Digitale Transformation

Ein Post-Processing-Tool mit sogenanntem Road Converter ermöglicht es, die in Schritt 2 gefahrenen Versuche zu analysieren und in prüfstandstaugliche Labortestläufe umzuwandeln. Diese Transformation ist ein zentrales Instrument, um die Produktivität von Road-Lab-Math-Prozessen zu steigern. Das Arbeiten mit dem Road Converter selbst basiert auf einem dreischrittigen Unterprozess, Bild 5.

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Transformation der realen RDE-Versuche in virtuelle Fahrversuche (© AVL)

Fahrzeuggeometrische Daten (Fahrzeuglänge, -breite und —höhe sowie Spurbreite, vordere/hintere Radlast, Radstand, Reifenradius und Vorspur beziehungsweise Sturz) sind leicht zu ermitteln und ergänzen die Outdoor-Messungen. So entsteht ein virtueller Prototyp für allgemeine RDx-Studien. Physikalische Reifendaten (etwa Pacejka) oder aerodynamische Daten (Luftwiderstandsbeiwert als Funktion des Anströmwinkels) sind in aller Regel in den CAE-Abteilungen verfügbar und können den Aufbau des virtuellen Prototypen vervollständigen. Reifenhersteller können die Daten der Radaufhängungskinematik sowie die Modelldaten der Reifen beisteuern. Auch diese Informationsquelle kann gewinnbringend in den RDE-Workflow integriert werden.

Schritt 4: Virtuelle Fahrversuche am Prüfstand

Die generierten „Test-Runs-to-Go“ werden in einer virtuellen Testumgebung ausgeführt, Bild 6. Mit AVL InMotion kann jeder bestehende Rollen- oder Motorprüfstand mit den Möglichkeiten des virtuellen Fahrversuchs nachgerüstet werden. Für zukünftige Projekte verfügt AVL InMotion über vorbereitete Schnittstellen für Testbed.Connect und Model.Connect, wodurch unter anderem heterogene Toollandschaften komfortabel angebunden werden können.

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Digitale Testumgebung für RDx-Tests (AVL InMotion/CarMaker) (© AVL)

Das systemgetriebene (X-in-the- Loop) Entwickeln und Testen mit dieser Lösung wurde bereits in vielen Publikationen beschrieben [47] und soll daher hier nicht weiter erörtert werden. Allerdings verdienen drei Punkte spezielle Aufmerksamkeit:

  • — Auf dem Motorprüfstand ist es von Vorteil, die Softwarefunktionen des Getriebes vollständig in die virtuelle Testumgebung zu integrieren. Virtuelle TCUs (wie etwa qTronics/Silver) können durch die Getriebeentwicklung beigesteuert werden. Das gleiche gilt für intelligente Antriebsstrangsysteme wie Hybrid oder Torque Vectoring.

  • — Auf einem Rollenprüfstand ist der Fahrer entweder ein menschlicher Fahrer, der den Vorgaben eines „erweiterten Fahrerleitgeräts“ folgt oder ein virtueller Fahrer, der über eine geeignete Aktuatorik die Pedale und Schaltkulisse bedient.

  • — Aufgrund seiner Flexibilität kann das System heute an einen Motorprüfstand und morgen an einen Rollenprüfstand angeschlossen werden. So lässt sich der digitale Faden einfach weiterspinnen.

Schritt 5: Ergebnisvergleich

Um die Versuche am Prüfstand auszuwerten, kann das gleiche Post Processing-Werkzeug eingesetzt werden, das auch zur Dokumentation der Outdoor-Tests genutzt wird. Dies macht einen direkten 1:1-Vergleich der Ergebnisse möglich. In allen den Autoren bekannten Projekten liegen die Ergebnisse der Labor-Tests innerhalb eines Streubandes (Standardabweichung) der Ergebnisse der Outdoor-Tests. Allerdings ist die Reproduzierbarkeit, und das ist der entscheidende Punkt, erheblich besser (Faktor 2 – 10 schmaleres Streuband).

Die Grenzen der Labortests liegen nicht an der Simulationsumgebung, die in harter Echtzeit mit 1 bis 10 kHz läuft, sondern ergeben sich aus der installierten Prüfstands-Hardware (Dyno, Temperatur, Klima, Höhenkammer).

Modellieren, um zu prognostizieren

Ist der Validierungsworkflow einmal als robuster Prozess etabliert und eine „Kultur des Vertrauens“ in die MBD-Ergebnisse aufgebaut, können Ingenieure und System-Designer die RDE-Performance eines digital-realen Prototypen vorhersagen (etwa die Einhaltung der NTE-Grenzwerte). Bereits in frühen Stufen des Designprozesses kann also durch Modellierung Wissen auf Systemebene generiert werden (Frontloading).

Diese grundsätzliche Aussage mag selbstverständlich sein; dennoch kann sie nicht oft genug betont werden. Seit Newton und Euler die Gesetze der Physik dargelegt haben, dient die physikalische Modellierung dazu, Naturphänomene vorherzusagen (wie in unserem Fall die „RDx of all Mankind“). Experimente (Outdoor-Tests) sind wichtig, um die Modelle zu stützen. Aber sie tragen nur einen Teil zum Wissensgewinn bei. Die Theorie hinter den Modellen ist der Master. Ohne sie würde man weder wissen, was für Experimente man durchführen muss, noch könnte man ihren Ausgang interpretieren. Und deshalb ist MBD am Prüfstand so effektiv. Durch MBD können RDx-Ergebnisse vorhergesagt werden und Wirkmechanismen systematisch aufgedeckt werden: Seien es Einflüsse der Getriebeabstufung, Unterschiede von spritsparendem und aggressivem Fahren oder die Sensitivitäten bezüglich Reifendruck, Massen, Seitenwind und unterschiedlicher Fahrmodi intelligenter Antriebsstränge.

Eine durchgängige, progressive Methode

Das vorgestellte RDE-Programm eignet sich aus Sicht der Autoren optimal als Einstieg in die modellbasierte RDE- beziehungsweise RDx-Entwicklung. Der Workflow ist durchgängig, weil der RDE-Testprozess kontinuierlich von der Straße zum Rollenprüfstand und zurückführt. Er ist progressiv, weil der Manöverkatalog und die Analysewerkzeuge über die Zeit reifen und weitere Domänen von den vorherigen Aktivitäten profitieren können. Und die Werkzeuge können übergreifend auf jedem Fahrzeuglevel angewendet werden, vom Top-Level-„System of Systems“ (dem Gesamtfahrzeug), über die einzelnen Antriebskomponenten bis hinunter zu Steuergerätefunktionen und deren Kalibrierung.