In Forschung und Entwicklung von Kraftfahrzeugen sind Simulationsmodelle unverzichtbar. Die fka stellt eine Methode vor, mit der nicht nur kennfeldbasierte Modelle anhand von Prüfstandsmessungen parametriert, sondern auch valide Mehrkörpersimulationsmodelle erstellt werden können. Viele Anwendungen profitieren damit von den Vorteilen der Mehrkörper-Simulation auch ohne Detailkenntnis der Konstruktionsdaten.

Einleitung

Simulationsmodelle sind heute unverzichtbare Werkzeuge, deren Bedeutung getrieben von kurzen Entwicklungszeiten und steigendem Kostendruck auf der einen und stetig steigender verfügbarer Rechenleistung auf der anderen Seite in Zukunft weiter zunehmen wird. Die Komplexität der eingesetzten Vollfahrzeugmodelle reicht dabei vom einfachen Einspurmodell mit zwei Freiheitsgraden bis hin zu Finite-Elemente-(FE)-Modellen mit mehreren Millionen Elementen [1]. Mit steigendem Detaillierungsgrad der Modelle geht auch ein erhöhter Aufwand zur Modellbedatung einher, wobei die Ergebnisqualität in hohem Maße von der Genauigkeit der Eingangsdaten bestimmt wird. Eine Bedatung komplexer Simula-tionsmodelle ist daher üblicherweise nur bei Vorliegen der Konstruktionsdaten mit sinnvollem Aufwand möglich. Der Beitrag zeigt, wie auf effiziente Weise messtechnisch an Fahrzeugen Parameter ermittelt werden können, die als Eingangsdaten auch für detaillierte Vollfahrzeugsimulationsmodelle nutzbar sind.

Modelle in der Fahrdynamiksimulation

Zur Darstellung der Fahrdynamik von Fahrzeugen finden heute vorwiegend zwei Modelltypen Verwendung. Zweispurmodelle bilden das Fahrzeug im einfachsten Fall als ein mechanisches System von fünf Körpern und vierzehn Freiheitsgraden ab. Dabei handelt es sich um den Fahrzeugaufbau mit sechs Freiheitsgraden, vier Radträgern mit jeweils einem Freiheitsgrad gegenüber dem Aufbau sowie den vier Rädern mit jeweils einem Drehfreiheitsgrad gegenüber einem Radträger. Die Position des Radträgers relativ zum Fahrzeugaufbau wird dabei in Abhängigkeit von den Einfederzuständen der Räder einer Achse, dem Lenkwinkel (bei gelenkten Achsen) sowie den Radkräften bestimmt. Die Berechnung erfolgt dabei je nach Detaillierungsgrad über die Überlagerung einfacher linearer Zusammenhänge bis hin zu mehrdimensionalen Kennfeldern. Da keine detaillierte Modellierung der Radaufhängungen erfolgt, sind Messungen am Vollfahrzeug auf einem Achsmessstand gut geeignet, um die zur Parame-trierung der Kinematik und Elastokinematik benötigten Daten zu gewinnen.

In den deutlich komplexeren Mehrkörpersimulations-(MKS)-Modellen findet eine explizite Darstellung der Kinematik der Radaufhängungen statt. Alle relevanten Bauteile des Fahrzeugs (Aufbau, Hilfsrahmen, Lenker, Radträger, Räder etc.) werden dabei als Starrkörper mit jeweils drei translatorischen und drei rotatorischen Freiheitsgraden modelliert, die entweder über kinematische Gelenke, die Freiheitsgrade zwischen zwei Körpern einschränken oder Kraftelemente, die in Abhängigkeit der Relativbewegungen Kräfte auf die Körper aufprägen, miteinander verbunden sind. Für ein typisches MKS-Vollfahrzeugmodell eines Pkw sind so mehrere hundert Freiheitsgrade zu berechnen. Da die Kinematik der Radaufhängungen bei diesen Modellen durch die Positionen der Gelenkstellen definiert wird, ist eine direkte Bedatung aus Versuchen am Vollfahrzeug nicht ohne weiteres möglich. In der Regel müssen vollständige Datensätze auf Komponentenebene zur Modellparame-trierung herangezogen werden, die üblicherweise nur dem Fahrzeughersteller zur Verfügung stehen. Im Folgenden wird eine Methode vorgestellt, die durch Kombination aus optischem Messverfahren und Optimierungsmethoden eine Bedatung weitgehend aus Prüfstandsmessungen am Vollfahrzeug erlaubt.

Kinematik und Elastokinematik

Die Messung der kinematischen und elastokinematischen Eigenschaften der Radaufhängungen des Fahrzeugs erfolgt auf dem Achsmessstand. Das Fahrzeug wird hier fest eingespannt und die Radaufhängungen mittels mechanischer Radersatzsysteme in jeweils drei Raumrichtungen kraft- oder weggeregelt bewegt, sodass die Aufhängungseigenschaften bei Einfederbewegungen, gegebenenfalls Lenkbewegungen, unter Quer- und Längskräften sowie unter kombinierten Lastfällen untersucht werden können. Die Aufzeichnung der Radbewegung erfolgt dabei über ein optisches Messsystem (AICON WheelWatch), bei dem durch jeweils eine über jedem Rad angebrachte Kamera die Bewegung von Messmarken an Karosserie und Radadapter erfasst wird. Auf diese Weise können alle relevanten kinematischen und elastokinematischen Daten der Achsen entweder zur direkten Parametrierung eines kennfeldbasierten Simulationsmodells oder aber zur Validierung eines MKS-Modells gewonnen werden.

Photogrammetrie

Zur Erzeugung eines MKS-Modells einer Radaufhängung ist eine genaue Kenntnis der Geometriepunkte notwendig. Die Gewinnung dieser Daten ohne Zugriff auf Konstruktionsdaten oder eine aufwendige Vermessung einzelner Fahrwerkbauteile erfolgt mit einem photogrammetrischen Messsystem. Die Radaufhängungen des auf dem Achsmessstand in den gewünschten Einfederungszustand gebrachten Fahrzeugs werden dabei mit einer Reihe kodierter Zielmarker sowie unkodierter Referenzmarker versehen und aus verschiedenen Blickrichtungen fotografiert. Bild 1 zeigt den Messaufbau. Um Bewegungen von Bauteilen zu bestimmen, die vom WheelWatch-System nicht erfasst werden, wie zum Beispiel der eines elastisch angebundenen Hilfsrahmens unter Längs- und Seitenkräften, wird diese Messung bei Bedarf für verschiedene Belastungszustände wiederholt. Die Auswertungssoftware setzt dann in einem automatisierten Verfahren die Einzelbilder anhand der kodierten Zielmarker in eine räumliche Beziehung und erstellt aus den unkodierten Referenzmarkern eine dreidimensionale Punktwolke. Diese kann dann in einem weiteren Schritt dazu genutzt werden, die zur Modell-parametrierung benötigten charakteristischen Geometriepunkte zu konstruieren. In Bild 2 sind die vom System erkannte Punktwolke, die daraus bestimmte Lage der Vorderachslenker und das schließlich abgeleitete MKS-Modell der Vorderachse dargestellt.

BILD 1
figure 1

Messaufbau zur Bestimmung der Geometriedaten an der Vorderachse (© fka)

BILD 2
figure 2

Identifizierte Punktwolke, Position der Fahrwerkslenker an der Vorderachse (links) und abgeleitetes MKS-Modell (rechts) (© fka)

Optimierung

Während für die Position der Referenz-marker eine Messgenauigkeit von 0,2 mm erreicht werden kann, entsteht durch die notwendige Konstruktion der Geometriepunkte eine zusätzliche Mess-unsicherheit, die bei ungünstig gelegenen Punkten im Millimeterbereich liegen kann. Zudem ist es für die meisten Anwendungsfälle erforderlich, auch die Elastokinematik der Achse im Modell abzubilden. Dazu erfolgt in der Modellparametrierung ein weiterer Schritt, in dem die Modelleigenschaften an die auf dem Prüfstand aufgezeichneten Kurven angepasst werden. In einem mehrstufigen Optimierungsverfahren [2] werden sowohl die elastokinematischen als auch die kinematischen Eigenschaften optimiert. Während die Optimierung eines Achssystems auf einen kompletten Satz kinematischer und elastokinematischer Zielgrößen ein komplexes und rechen-intensives Problem darstellt [3], liegt in dieser Anwendung durch die Kopplung mit der Photogrammetrie bereits ein guter Ausgangspunkt für die Optimierung vor. Der Parameterraum für die Geometriepunkte ist dabei durch die geringe Messunsicherheit des optischen Verfahrens eng begrenzt, um ein effizientes Vorgehen bei der Optimierung zu ermöglichen. In Bild 3 und Bild 4 sind beispielhaft für die Vorderachse die sich ergebenden Verläufe von Spur, Sturz sowie Längs- und Querverschiebung des Radmittelpunkts für die Lastfälle paralleles Einfedern und gegensinnige Seitenkrafteinleitung dargestellt. In Kombination mit anderen gewonnenen Parametern, Bild 5, erhält man so ausreichend Eingangsdaten für ein komplettes Vollfahrzeugmodell.

BILD 3
figure 3

Radstellungsänderungen der Vorderachse bei gleichsinnigem Einfedern (© fka)

BILD 4
figure 4

Radstellungsänderungen der Vorderachse unter Seitenkraft (© fka)

BILD 5
figure 5

Gesamt-prozess (© fka)

Trägheitsparameter

Weitere wichtige Vollfahrzeugeigenschaften, die das dynamische Verhalten eines Fahrzeugs bestimmen, sind die Trägheitsparameter. Dabei handelt es sich um die Masse, die Lage des Schwerpunkts in Längs-, Quer- und vertikaler Richtung, die drei Hauptmassenträgheitsmomente (Ixx, Iyy und Izz) sowie die Deviationsmomente (Ixy, Ixz und Iyz) des Gesamtfahrzeugs. Während Masse und Schwerpunktlage in Längs- und Querrichtung mit einfachsten Messmethoden bestimmt werden können, erfordern Schwerpunkthöhe und Massenträgheitsmomente einen erhöhten Messaufwand. Die Forschungsgesellschaft Kraftfahrwesen mbH Aachen (fka) nutzt dafür die Vehicle Inertia Measuring Maschine (VIMM) [4]. Dieser Prüfstand erlaubt innerhalb eines einzigen Messablaufs die vollautomatische, effiziente Ermittlung der Trägheitsparameter von Komponenten und Vollfahrzeugen mit einer Masse von circa 300 bis 2600 kg. Der Prüfkörper wird dabei auf einer Plattform fixiert, die in einem sphärischen Zentralgelenk gelagert ist und in allen drei Drehfreiheitsgraden durch Hydraulikzylinder dynamisch bewegt werden kann, sodass sich durch Auswertung der dabei auftretenden Kräfte die Trägheitsparameter bestimmen lassen.

Reifeneigenschaften

Eine hinreichend genaue Abbildung der Kraftübertragungseigenschaften der Reifen ist für die Simulation der Fahrdynamik von zentraler Bedeutung und erfordert aufgrund des komplexen und nichtlinearen Reifenverhaltens entsprechend geeignete Simulationsmodelle. Hier kommen in der Fahrdynamiksimulation zwei Modelltypen zum Einsatz. Ein verbreiteter Ansatz ist ein mathematisches Modell, wie das sogenannte Magic-Formula-Modell nach Pacejka [5], in dem die Reifenkräfte und -momente in Abhängigkeit von verschiedenen Eingangsgrößen wie Sturz, Radlast, Quer- und Längsschlupf sowie Längsgeschwindigkeit anhand mathematischer Gleichungen berechnet werden. Die Koeffizienten dieser Gleichungen haben dabei keine direkte physikalische Bedeutung, sondern werden durch manuelle oder automatische Optimierung so angepasst, dass Messungen des Reifens möglichst genau abgebildet werden.

Detailliertere Abbildungen des Reifenverhaltens bieten physikalische Reifenmodelle, die insbesondere für Komfort- und Betriebslastsimulationen auf unebenen Fahrbahnoberflächen zum Einsatz kommen. Der Aufbau des Reifens ist hier physikalisch modelliert, die Modellparameter haben daher physikalische Entsprechungen. Beispiele für solche Reifenmodelle sind FTire (cosin), CDTire (Fraunhofer ITWM) oder RMOD-K (T-Systems). Für die Bedatung beider Modelltypen sind genaue Messdaten erforderlich, die durch die fka an einer Reihe von Prüfständen aufgenommen werden. Zur Ermittlung der Quer- und Längsschlupfeigenschaften kommen zwei Trommelprüfstände zum Einsatz: der Pkw- und Motorradreifenprüfstand MoReP, der Messungen bei bis zu 45° Sturz ermöglicht, sowie der Nutzfahrzeugreifenprüfstand NuReP. Die fka wird darüber hinaus Ende 2016 einen Flachbahnreifenprüfstand vom Typ MTS Flat-Trac IV CT plus in Betrieb nehmen, der hochdynamische Messungen bei Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h auf einer ebenen Oberfläche erlaubt. Zur Bestimmung der Steifigkeitseigenschaften am stehenden Rad wurde ferner der Steifigkeitsprüfstand SteiReP entwickelt, an dem Längs-, Vertikal-, Quer- und Verdrehsteifigkeiten zur Parametrierung physikalischer Modelle vollautomatisch ermittelt werden können. Dynamische Struktureigenschaften physikalischer Reifenmodelle werden anhand von Schlagleistenmessungen gewonnen. Dazu wurde der Schlagleistenprüfstand SchlaReP entwickelt, bei dem besonderes Augenmerk auf eine hohe strukturelle Steifigkeit gelegt wurde, um Verfälschungen der Messsignale durch Eigenschwingungen zu vermeiden.

Parameterermittlung an Einzelkomponenten

Zur Bestimmung von Parametern, die nicht aus Messungen am Vollfahrzeug ermittelt oder geeignet abgeschätzt werden können, sind Messungen an Einzelkomponenten erforderlich. So erfolgt eine Bestimmung der Dämpferkennlinien im servohydraulischen Prüfzentrum. Hier können auch für andere Fahrzeugkom-ponenten, wie beispielsweise die Fahrwerklager, umfassendere Parameteriden-tifikationen durchgeführt werden. Die Messung der Lager auf dem Komponentenprüfstand erlaubt insbesondere auch eine Identifikation der dynamischen Eigenschaften, sodass die so gewonnenen Daten auch zur Parametrierung komplexerer Lagermodelle genutzt werden können.

Zusammenfassung

Die oben vorgestellte Methode zeigt, wie durch eine Kombination von optischen Messungen und Optimierungsverfahren in einem kostengünstigen und zeiteffizienten Prozess valide Mehrkörpersimulationsmodelle erstellt werden können. Damit sind für viele Anwendungen die Vorteile der Mehrkörper-Simulation auch ohne Detailkenntnis der Konstruktionsdaten nutzbar.