Anders als in vielen anderen Ländern ist das Schulessen in Deutschland – genauer Westdeutschland – relatives Neuland. Abgesehen von den Krisenzeiten in und nach den beiden Weltkriegen, in denen die Hungersnot die Verpflegung von Kindern in den Schulen nötig machte, erwartete die deutsche Schule immer, dass Kinder mittags nach Schulschluss zu Hause mit Essen versorgt wurden. Dies ändert sich derzeit. Mit der Etablierung der Ganztagsschulen in Deutschland wird die Verpflegung von SchülerInnen in der Schule zunehmend zur Normalität und durch Investitionsprogramme in rasanter Geschwindigkeit ausgebaut.

1 Schulessen: Ein neuer Markt für Kommerz und Wissenschaft

Mit der Ausbildung des historisch neuen, öffentlichen Verpflegungsbereichs für Kinder entsteht ein begehrliches Absatzfeld für kommerzielle Essensanbieter, das im Gegensatz zur Betriebsverpflegung noch stark expandiert (vgl. wissen.de2010). Größtenteils wird die schulische Essensversorgung schließlich „outgessourced“ an externe Catering-Firmen. Nur in etwa 13 % der Schulen wird die Verpflegung in Eigenregie der Schule oder durch Eltern bzw. Schüler organisiert (vgl. Evers und Hämel2010).

Das Schulessen ist also ein „Geschäft“, um das sich viele bemühen. Hierbei zeichnen sich für die Pädagogik neuartige Allianzen zwischen Schule und freier Wirtschaft ab. Gastronomie, Pächter, Firmen und Konzerne suchen Zugang zur Schule, um Absatz zu sichern. Schulträger geraten in die Rolle umworbener, attraktiver Geschäftskunden – eine Rolle, die professionsgeschichtlich fremd und ungewohnt ist und auf die man kaum vorbereitet ist, zumal Schule bislang vehement als marktfreie Bastion zum Schutz der Schülerinnen und Schüler verteidigt wurde. Dieser Grundsatz erodiert nun schleichend. Schule öffnet sich für Marktakteure und Marktinteressen; pädagogische Räume werden zu Wirtschaftsräumen; Bildungsanliegen werden kommerzialisiert.

So profiliert sich beispielsweise der Konzern Nestlé als Bildungsförderer: „Mit verschiedenen Bildungsinitiativen unterstützt Nestlé deshalb Aktionen, die vor allem im schulischen Umfeld das Wissen über die Bedeutung und den Wert von Lebensmitteln vermitteln.“ (Nestlé2010, S. 3). Die Compass-Group, Weltmarktführer im Catering, hat gerade beschlossen, ihren Schulverpflegungszweig mit einem Projekt auszubauen, das die Schülerernährung mit Bildungsangeboten verknüpft (vgl. Scolarest/Compass Groupo. J.). Wirtschaftliches Gewinnstreben zeigt sich im Schulverpflegungsmarkt jedoch i. d. R. nicht offen, sondern gut verschleiert durch pädagogische Werbetexte.

Auch wenn es heißt, dass der Markt der Schulverpflegung kaum rentabel ist, wird derzeit massiv versucht, Claims abzustecken und Anteile zu gewinnen. Nur über Absatzmengen lässt sich hier Gewinn erzielen, denn schließlich sind dem Schulessen preislich dramatisch enge Grenzen gesetzt (vgl. wissen.de2010). Bundesweit kostet ein Schulessen im Schnitt 2,43 €, in Sachsen-Anhalt gar nur 1,81 € (vgl. wissen.de2010).

Der andere Markt ist der der Berufe und Disziplinen. Bislang ist das Schulessen zentral von der Ökotrophologie als Sparte der Life Sciences, zu denen Sozialwesen und Erziehungswissenschaften nicht gehören, besetzt, und sie nutzt die aktuellen Schulentwicklungen offensiv dazu, die eigene Bedeutung fachpolitisch auszubauen.

Alle Netzwerke, die sich mit den Entwicklungen der Schulernährung beschäftigen, sind zentral in der Hand ökotrophologischer Akteure und zum großen Teil an entsprechenden Instituten angesiedelt. Die Ökotrophologie der Hochschule Fulda entwickelt z. B. derzeit einen Studiengang „Schulökotrophologie“ und profiliert damit einen speziellen Beruf und eine Disziplin, in deren Hoheit das Schulessen fallen soll.

Des weiteren findet man aber auch gesundheitswissenschaftliche und agrarwissenschaftliche Akteure in diesem Terrain. So fallen das Schulessen wie auch allgemein die Fragen der Bevölkerungsernährung i. d. R. in den Zuständigkeitsbereich der Landwirtschafts- und Verbraucherministerien, nicht der Bildungs- und Schulministerien. Zu guter Letzt: auch die Marktforschung besetzt das Thema – dies hängt unmittelbar mit dem erstgenannten Markt zusammen.

2 Ein Markt ohne die Sozialpädagogik

Entscheidend ist hier: Die fachterritorialen Entwicklungen finden fast ohne erziehungswissenschaftliche und sozialpädagogische Disziplinen und Professionen statt. Ihre Expertise wird zwar am Rande auch angefragt – und bei der praktischen Steuerung der schulischen Essenssituationen auch ganz unmittelbar und umfangreich genutzt. Zumindest werden vielfach erzieherische Fachkräfte, LaienhelferInnen und JugendarbeiterInnen in der Schulmensa als „Wächter“ eingesetzt. Deinet (2009, S. 132 f.) berichtet, dass viele Schulen in der Jugendarbeit Unterstützung bei der Gestaltung der Mittagsverpflegung suchen. Dennoch ist die Sozialpädagogik nicht offensiver und anerkannter Diskursakteur zum Schulessen. In vorderster Front bestimmen andere das Feld. Aufschlussreich ist hier ein Blick auf die Akteure der jüngeren deutschsprachigen Studien zum Schulessen:

  • „Marktstudie: Die Schulverpflegung an Ganztagsschulen“ (ZMP/CMA2005): Die Studie der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) mit Beteiligung der Zentralen Markt- und Preisberichtstelle (ZMP) befragte 539 Ganztagsschülerinnen und -schüler der Klassen 1–13 und deren Mütter.

  • „Kunden(un-)zufriedenheit in der Schulverpflegung“ (Lülfs und Spiller2006): Die Studie des Lehrstuhls Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte der Universität Göttingen wurde vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) gefördert und befragte 1.991 Schüler und Schülerinnen der Klassen 5–13 aus Gesamtschulen, Haupt- und Realschulen, einem Gymnasium und Privatschulen in verschiedenen Bundesländern zu ihrer Zufriedenheit mit dem Schulessen.

  • „Strukturanalyse Schulverpflegung“ (Arens-Azevedo und Laberenz2008): Diese Studie des Departments Ökotrophologie der HAW Hamburg befragte im Auftrag der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) bundesweit Verantwortliche in 2.940 Ganztagsschulen.

  • „So is(st) Schule. Chancen für das lernende Esszimmer“ (Nestlé2010): Die repräsentative Studie, die mit Beteiligung der iconkids & youth, Deutschlands größtem Marktforschungsinstitut für Kinder und Jugendliche durchgeführt wurde, befragte 750 GanztagsschülerInnen der 5.–13. Jahrgangsstufe sowie je ein Elternteil.

  • „Essensangebote an Schulen. Unterschiedliche Konzepte, unterschiedliche Akzeptanz?“ (Evers und Hämel2010): Die Studie entstand am Institut für Wirtschaftslehre des Haushalts und Verbraucherforschung der Universität Gießen und wurde von der Hans Böckler Stiftung gefördert. Im Rahmen einer semi-standardisierten schriftlichen Fragebogenerhebung wurden Schulleitungen von 48 Schulen in Hessen befragt.

  • „Schulverpflegung in Sachsen. Erhebung und Analyse der Schulverpflegungssituation in allgemeinbildenden Schulen“ (Freistaat Sachsen2010): Die Studie wurde vom Forschungsverbund Public Health Sachsen und Sachsen-Anhalt in Kooperation mit der „Vernetzungsstelle Kita- und Schulverpflegung“ im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz sowie des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und Sport durchgeführt; es wurden die Schulleitungen in 611 allgemeinbildenden Schulen zu den Rahmenbedingungen des Mittagsessens standardisiert befragt und die Speisepläne untersucht, die Studie enthält zudem ein Grußwort der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Diese Übersicht zeigt: Keine der Studien kam unter erziehungswissenschaftlicher oder sozialpädagogischer Federführung zustande. Vielmehr dominieren Ökotrophologie, Marktforschung und Gesundheitswissenschaften. Dies hat Folgen für die Zielsetzung der entsprechenden Forschungen, die empirischen und theoretischen Konzipierungen sowie das methodische Design. Es werden vor allem standardisierte Befragungsinstrumente als die klassischen Instrumente der Marktforschung eingesetzt. Inhaltlich kreisen die Studien um die Qualität des unmittelbaren Essensangebotes, der räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen und um die Fragen der Kundenakzeptanz und -zufriedenheit und wie diese zu verbessern sind – sie sehen nämlich nicht gut aus.

Evers und Hämel (2010) stellen bei ihrer Untersuchung hessischer Schulen fest: „Die gegenwärtige Inanspruchnahme von Essensangeboten verläuft auf niedrigem Niveau und ohne große Dynamik. Nur knapp ein Viertel der befragten Schulen erreicht mit ihren Angeboten mehr als 30 % der Schülerinnen und Schüler. An der Mehrheit der Schulen liegt die Teilnahmequote unter 20 %. Immerhin jede fünfte Schule verzeichnet sogar eine sinkende Inanspruchnahme.“ (Evers und Hämel2010, S. 3). Zudem sinkt mit zunehmendem Alter die Akzeptanz der schulischen Mittagsverpflegung deutlich (vgl. Evers und Hämel2010). Dies bestätigt auch die Nestlé-Studie (2010). Außerdem liegen die Zufriedenheitswerte zur Schulverpflegung relativ niedrig. „Das Urteil der Schüler fällt insgesamt nur mittelmäßig aus. Auf einer Skala von − 2 ( = sehr unzufrieden) bis + 2 (= sehr zufrieden) ergibt sich ein Mittelwert von 0,04. Zudem haben die Schüler die Mensen mit einer Gesamtnote von 3,19 (bei einer Skala von 1 = sehr gut bis 5 = mangelhaft) relativ schlecht bewertet. […] Vergleicht man diese Werte mit den Zufriedenheitswerten von Gästen in verschiedenen anderen Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen, so wird deutlich, dass bei den Schülern eine hohe Unzufriedenheit vorherrscht.“ (Lülfs und Spiller2006, S. 7)

Was die Entwicklung von Verbesserungen betrifft, kaprizieren sich die entsprechenden Überlegungen überwiegend auf den Inhalt und das Setting des Essensangebotes. So wird z. B. vermutet, dass die Gründe für die mit dem Alter nachlassende Beteiligung am Schulessen „bei den knapp bemessenen Essenszeiten, dem wenig altersgerechten Ambiente der Essensräume, dem hohen Lärmpegel im Speiseraum sowie dem klassischen Ausgabesystem in der Warmverpflegung, das den älteren Schülerinnen und Schülern so gut wie keine Auswahlmöglichkeiten bei den einzelnen Essenskomponenten bietet“, liegen (Freistaat Sachsen2010, S. 23). Zudem wird eine stärkere marktwirtschaftliche Orientierung empfohlen. Lülfs und Spiller (2006) kritisieren, dass noch viel zu oft Schüler schlicht als „Esser“ oder „Nutzer“ der Schulkantine betrachtet werden und nicht als „Kunden“ oder „Verbraucher“ (Lülfs und Spiller2006, S. 2), und sie plädieren für eine offensivere Orientierung an den kommerziellen Essensanbietern. „Es klafft […] eine große Lücke zwischen der Professionalität des Jugendmarketings in der Systemgastronomie und der relativ geringen Markt- und Kundenorientierung in der Schulmensa.“ (Lülfs und Spiller2006, S. 15)

3 Teleologische und normative Funktionalisierungen des Schulessens

Neben den genannten empirischen Studien liegen zudem umfangreich programmatisch-konzeptionelle Texte zum Schulessen vor. Sie alle sind geprägt von normativen Erziehungsansprüchen und teleologischen Verzweckungsabsichten. In der Broschüre der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zu den Qualitätsstandards des Schulessens wird als Zielsetzung formuliert: Das Schulessen soll einen Beitrag zur Gesundheitserziehung leisten, indem es junge Menschen ganz unmittelbar mit gesundem Essen versorgt und ihnen auf diesem Weg auch die Grundsätze einer ausgewogenen Ernährung beibringt. Es soll zudem die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler, ihr Sozialverhalten und ihre Kommunikationsfähigkeit fördern und schließlich auch das Schulklima insgesamt verbessern (vgl. DGE et al.2007).

In einer anderen Publikation wird propagiert, „Ernährungsbildung bzw. pädagogische Impulse zur Habitualisierung gesundheits- und genussorientierter Ernährungsmuster in das Schulessen einzubinden“ (Lülfs und Spiller2006, S. 3). In der Nestlé-Studie2010 heißt es schließlich: „Wie gut der Lernstoff des Vormittags verarbeitet wird, wie aufnahmebereit Schüler am Nachmittagsunterricht teilnehmen, darüber wird auch über den Speiseplan der Schulmensa mit entschieden. Wenn Schüler darüber klagen, nach dem Mittagessen müde und träge zu sein, dann kann ein erfolgreicher Schulunterricht nicht gelingen.“ (Berssenbrügge2010, S. 3) Und später: „Ganztagsschulen sind eine ideale Lebenswelt, um Einfluss auf die Ernährungssituation von Kindern und Jugendlichen zu nehmen. Die Schulzeit erstreckt sich im Regelfall über viele Jahre, die Kinder müssen in gleicher Weise betreut werden, ohne dass ihr sozialer Hintergrund sich hierbei unmittelbar auswirken könnte.“ (Arens-Azevedo2010, S. 19)

Alle Texte legen beredtes Zeugnis dazu ab, wie die fachliche Beschäftigung mit dem Essen zentral von dem Gedanken getragen ist, wünschenswerte Entwicklungen bei den Schülerinnen und Schülern auszulösen, die weit über die eigentliche Sättigung hinausreichen: Sie sollen besser lernen, leistungsstärker werden, sozialer miteinander umgehen und sich gesundheitsförderlicher verhalten. Es geht um die Durchsetzung normativer Verhaltensstandards, bei denen das Schulessen helfen soll, will und auch besonders gut kann, weil – wie es bei Nestlé unbedarft heißt – junge Menschen in der Schule flächendeckend erreichbar sind. Das Schulessen wird so unter der Hand zu einem bevölkerungs- und gesundheitspolitischen Zugriffs- und Regulierungsort.

Von diesen Perspektiven ist auch die sozialpädagogische Disziplin nicht frei, wie folgende Szene aus einem Seminar in einem Studiengang „Soziale Arbeit“ demonstriert:

Im Seminar wird die Übungsaufgabe bearbeitet, eine fiktive Schulkantine so zu gestalten, dass das Mittagessen ein schulkulturell bereicherndes Ereignis wird. Eine Arbeitsgruppe will den Raum mit Aufklärungsmaterialien ästhetisch schmücken: Man könnte z. B. ein Poster mit der „Ernährungspyramide“Footnote 1 aufhängen oder attraktive Bilder von Obst und Gemüse. Diese visuellen Eindrücke würden sich auf diese Weise dann als Leitlinie für das eigene Essen gut einprägen. Der Vorschlag findet im Seminar viel Zustimmung.Footnote 2

Vergleicht man diese Überlegungen mit denen von Bruno Bettelheim (1975), die er vor einigen Jahrzehnten zur Patientenverpflegung in seiner psychiatrischen Klinik angestellt hat, fällt ein radikaler Perspektivenwechsel auf. Bettelheim beschäftigte sich damals damit, wie man in einen großen Speisesaal eine würdige und heilsame Atmosphäre bringt – warum eine Tischdecke und gutes Porzellan statt Plastik- und Klinikgeschirr auf den Tisch sollen, welche Tischformen für die Kommunikation bei der Mahlzeit günstig sind, warum das Personal gemeinsam mit den Patienten essen soll, wie das Essen im Speisesaal am besten ausgegeben wird, warum alle Patienten seiner Klinik auch zwischen den Mahlzeiten jederzeit Zugang zu Nahrungsmitteln haben müssen und wie die Patienten partizipativ eingebunden werden können. Dies alles blieb bei den studentischen Überlegungen außen vor. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, wie das Leitkonzept der gesunden Ernährung bei den Essenden zu verankern ist. Dies war wiederum für Bettelheim überhaupt kein Thema. Dieses Seminarereignis demonstriert, wie sehr auch in der Sozialen Arbeit die Beschäftigung mit dem Schulessen durch normative Erziehungsansprüche geprägt ist.

Solche Überlegungen haben ein grundsätzliches Problem. Sie beschäftigen sich nämlich vor allem damit, was seinsoll, und nicht mit dem, was tatsächlichist, also mit dem realen turbulenten Leben in der Schulkantine, das oftmals so gar nicht dem entspricht, was propagiert wird. Was die jungen Nutzer und Nutzerinnen mit dem Verköstigungsangebot machen, was es für sie bedeutet, wie sie das Essen mit ihrem eigensinnigen vitalen Leben füllen, was sie dort suchen, wozu sie es benutzen, welche sozialen Themen dort von ihnen inszeniert und verhandelt werden – dies alles bleibt außen vor.

Der Paradigmenwechsel der modernen Kindheitssoziologie von der normativen und adultozentristischen zur kindzentrierten Perspektive ist hier noch sehr weit entfernt. Es scheint gar, als sorge das Essensthema dafür, dass die sozialpädagogischen Entwicklungen hin zu partizipations-, lebenswelt- und subjektorientierten Diskursen und Praxen beim Essensthema in besonderer Weise wieder ausgebremst werden. Offenbar ist das Gesundheitsparadigma mit seiner ideologischen Nähe zur autoritär strukturierten Medizin dafür prädestiniert, normativ-autoritäre Haltungen wieder zu stärken und zu legitimieren (vgl. Rose2010). Möglicherweise mag hierbei auch eine Rolle spielen, dass das Essen von seiner Sache her Dimensionen menschlicher Triebhaftigkeit und damit Bedrohungsphantasien in besonderer Weise aktualisiert, denen man nicht anders als durch rigide Zugriffe Herr zu werden glaubt.

4 Der andere – praxeologische – Blick: Was passiert eigentlich beim (Schul-)Essen genau?

Dennoch lassen sich auch Ansätze zu einer kulturtheoretisch inspirierten, praxeologischen Essensforschung ausmachen. So liegen konversationsanalytische Studien zu Tischgesprächen vor (vgl. Keppler1995; Lossin2003), in denen aber die non-verbalen Interaktionen und szenischen Arrangements noch unbeachtet bleiben. Eine ganzheitlichere Perspektive ist Kathrin Audehm in ihrer umfassenden ethnografischen Monografie zum Familienessen gelungen, in der es um die Ritualisierungen und Interaktionen am Esstisch geht (vgl. Audehm2007).

Ebenso lassen sich erste qualitative Studien zumEssen in pädagogischen Institutionen finden (vgl. Dilfer et al.2009; Kullmann2009; Mohn und Müller-Hebenstreit2007; Rose und Schäfer2009; Rose und Schulz2007; Schulz2010; Sturzenhecker2009; Zörner und Behnisch2010). Viele von ihnen arbeiten explizit ethnografisch. Ihr Anliegen ist, die pragmatischen Vollzüge der kollektiven Mahlzeit qualitativ zu rekonstruieren und empirisch aufzuzeichnen, was zwischen den Akteuren und Akteurinnen bei diesem Ereignis konkret passiert. Diese Studien, die fast alle nur als Aufsätze publiziert sind, haben sämtlich einen explorativen Charakter. Die Untersuchungsorte sind Kindergärten, Jugendhäuser und Heime. Die Schule als Ort des Essens fehlt hier noch. Als einzige Ausnahme ist hier der Beitrag von Hoffmann (2011) zu nennen, Es geht also derzeit noch darum, das Schulessen als sozialen Raum überhaupt erst für eine praxeologische Forschung zu entdecken und systematisch zu entwickeln.

Dies gilt einmal mehr als Kulturanthropologie und Ernährungssoziologie zeigen, dass die Nahrungsaufnahme nicht allein ein Akt der physiologischen Reproduktion, sondern einphénomène social total (vgl. Mauss1990) ist, in dem soziale Ordnungen ausgehandelt und hergestellt werden. Speisen fungieren als symbolische Zeichensysteme, die über ihre bloße Materialität als Nährstofflieferant hinaus verweisen. „Sich zu ernähren, ist ein Verhalten, das sich jenseits des eigentlichen Ziels entfaltet“ (Barthes1982, S. 72), d. h. es geht hierbei vielfach um anderes als nur die Nahrungszufuhr. Wer mit wem, wann, wo, wie, was – oder was auch nicht – verspeist, spiegelt soziale Ordnungen, Vergemeinschaftungen und Abgrenzungen zwischen Kulturen und Gruppen wider. Die Tischgemeinschaft bildet „den materiellen Kern der sozialen Kohäsion auf der mikrosozialen Ebene“ (Bauer1996, S. 2). Sie verkörpert auf elementare Weise kollektive Verbundenheit, wie umgekehrt der Ausschluss aus einer Tischgemeinschaft einem sozialen Ausschluss gleichkommt – zu früherer Zeit gar den Hungertod bedeutete (vgl. Barlösius1999).

Zudem erfordert das Essen insofern besonders aufwendige soziale Regulierungen als es sich dabei um den „egoistischsten“ menschlichen Trieb handelt, weil das, was der eine isst, nicht mehr von anderen gegessen werden kann. Damit steht dass Essen immer in der Gefahr, existentiell-archaische Konkurrenzen zu aktualisieren, und es bedarf feingliedriger Regulationen zur erfolgreichen Konfliktbändigung. „Die ‚unermessliche‘ soziale Bedeutung der Mahlzeit resultiert daraus, dass sie diesen Naturalismus überwindet und Essen zu einem sozialen Akt macht“ (Barlösius1999, S. 173).

Die Enge des Tisches setzt zudem die Einzelnen für einen längeren Zeitraum miteinander fest und erzwingt körperliche Stilllegungen. Auch dieses birgt Stressmomente, die minimiert werden müssen. Ausdifferenzierte Tischsitten haben sich deshalb entwickelt, die dafür sorgen, dass die Tischgruppe nicht zersprengt und stattdessen Verbundenheit performativ hervorgebracht wird (vgl. Elias1976; Audehm2007). Die Kultivierung eines spezifischen Verhaltensrepertoires bei Tisch, die Reglementierung von Tischgesprächen, die ästhetisch-architektonische Rahmung des Ortes der Mahlzeit, das instrumentelle Equipement – dies alles sind pragmatische Regulative zur Affektregulierung und Befriedung des sozialen Raums der Mahlzeit.

Vor diesem Hintergrund offenbart sich die öffentliche Mittagsverpflegung als bedeutsamer und gleichzeitig höchst fragiler sozialer Raum. Hier kommen Mädchen und Jungen verschiedener Altersstufen und Klassenverbände, in Gesamtschulen auch verschiedener Schulformen, verschiedener Schichten, ethnisch-kultureller Milieus und – falls Lehrkräfte auch in der Schulmensa essen – auch verschiedene Generationen zusammen. Gleichzeitig erweist sich dieser Ort als relativ dereguliert. Im Kontrast zum vorherigen, streng und durch Erwachsene repräsentierten und kontrollierten Unterrichtsgeschehen am Vormittag entfällt diese disziplinierende Rahmung beim Mittagessen weitgehend. Die Öffnung der relativ kleinen „privaten“ oder zumindest „semi-öffentlichen“ Schulklassenformation des Unterrichts, die Vermischung mit der gesamten Schulgemeinschaft bei gleichzeitiger Defensivität der erwachsenen und pädagogischen Steuerung lässt das Risiko steigen, dass soziale Unruhen aufbrechen und Affekte überschießen. Von daher ähnelt diese Situation durchaus den Schulpausen.

5 Die Schulkantine als institutionelle „Hinterbühne“

Anregend können hier auch die qualitativen Schulforschungen von Jürgen Zinnecker sein, auch wenn diese aus einer Zeit stammen, in der deutsche Schulen noch kein Mittagessen vorhielten. Zinnecker konnte aufzeigen, dass das Schulleben letztlich aus zwei Bühnen besteht: der Vorderbühne und der Hinterbühne. Auf der Vorderbühne werden „vorrangig die offiziellen Regeln und Zielperspektiven der Institution zur Geltung gebracht“ (Zinnecker2001b, S. 254). Es sind dies die Handlungen und Orte, an denen die Beteiligten das in den Vordergrund rücken, was zum Lehrplan und Auftrag der Schule gehört. Unterricht und Lehrkräfte repräsentieren diese Vorderbühne. Die Hinterbühne bezeichnet demgegenüber das schulische „Unterleben“ – all das Subversive, das nicht dem offiziellen Kanon der Schule entspricht. Es entfaltet sich überall dort, wo die schulische Kontrolle sich lockert: für die Lehrer z. B. im Lehrerzimmer, für Schülerinnen und Schüler auf dem Pausenhof, in den Toiletten, den Umkleiden der Sporthalle, vor dem Schulgelände am Morgen oder nach Schulschluss, aber auch – soweit möglich – gerade inmitten des Unterrichtsgeschehens. Schülerinnen und Schüler entwickeln widerständige, regelwidrige Taktiken, weil sie zum einen teilweise noch nicht über die erforderliche Kompetenz für regelgerechtes Verhalten verfügen, zum anderen aber auch, weil sie in der Institution zu den Machtlosen gehören und von daher eigene Regelvorstellungen nicht legitim in die Schulordnung einschleusen können. „Es fehlen ihnen […] die nötigen Mitentscheidungschancen, die Voraussetzung dafür sind, dass ein Mitglied sich sinnvoll an der Erarbeitung eines institutionellen Arbeitskonsens beteiligen kann.“ (Zinnecker2001b, S. 253)

Die pädagogische Institution führt also ein „Doppelleben“. Sie organisiert nicht nur das Lernen der Kinder und Jugendlichen, wie es offiziell vorgesehen ist, sondern zugleich auf der Hinterbühne die subkulturelle Gesellschaft der Gleichaltrigen (vgl. Zinnecker2001a). Dies geschieht umso massiver je weiter die Verschulung von Kindheit und Jugend voran schreitet und damit das informelle Straßenleben mit seinen großzügigen Kontrolllücken und erwachsenen- und pädagogikfreien Nischen verdrängt. Dies wirkt in ganz direkter Weise zurück auf Schule. Die Elemente des Straßenlebens werden nun – sozusagen im Ausgleich –innerhalb der Schule gelebt: Freundschaften und Feindschaften, Cliquenbildungen und -abgrenzungen, Geschlechterspiele, körperliche Selbsterprobungen, Abenteuer, narzisstische Inszenierungen und Profilierungen, Eigensinn und Widerstand gegen Erwachsene und die Erwachsenenwelt, Kultivierung einer Gegenwelt. Kindheitsforschung spricht deshalb von der regelrechten „Verstraßung“ von Schule (vgl. Zinnecker1995), d. h. Schule wird von Schülerinnen und Schülern zur kompensatorischen Arena, in der das, was zu vergangenen Zeiten auf der Straße stattfand, nun verhandelt wird – jedenfalls so lange wie dies die Institution zulässt.

Es spricht einiges dafür, die Schulkantine als Raum zu begreifen, an dem sich das schulische „Unterleben“ und das Straßenleben in besonderer Weise inszenieren und die institutionelle Erwachsenenmacht attackieren. Von ihrer strukturellen Anlage her kann die Schulkantine als kontrollarme Gelegenheit oder auch „ökologische Nische“ gelten, was sie dafür prädestiniert, als Schülergegenwelt funktionalisiert zu werden.

6 Sozialpädagogische Perspektiven für die Essensforschung und -entwicklung in der Schule – und in anderen pädagogischen Einrichtungen

Vor diesem Hintergrund drängt sich eine stärkere Beteiligung der sozialpädagogischen Disziplin und Profession an der Fachdebatte zum Schulessen geradezu auf. Im Unterschied zur Schulpädagogik lässt sich Sozialpädagogik schließlich als ausgewiesene Expertin für das schulische Hinterbühnen- und Straßenleben der Kinder und Jugendlichen bezeichnen.

Aufgrund ihrer stärker ausgebildeten lebenswelt- und subjektorientierten Fachparadigmen ist sie nicht nur immer schon massiver mit der „Hinterbühnen- und Straßenkultur“ junger Menschen konfrontiert, sondern hat sie auch eher gelernt, junge Menschen als eigensinnige Co-Konstrukteure pädagogischer Interaktionen anzuerkennen und mit diesem Fakt umzugehen.

Auch wenn sich – wie oben angedeutet – für die Soziale Arbeit ein gewisser Reflex zur Rückkehr zu einer normativen Pädagogik erkennen lässt, wenn es um das Essen geht (vgl. Rose2010), was ernst zu nehmen ist, so bietet ihre Fachlichkeit doch prinzipiell und bisher allein den geeigneten Rahmen, um das Schulessen weniger als alimentären Funktionsraum, sondern offensiver als sozialen Interaktionsraum zu begreifen, in dem Peer- und Generationenbeziehungen gestaltet, Körper- und Selbstinszenierungen aufgeführt, Doing Pupil stattfindet und gleichzeitig ausgesetzt wird. Dies zu verstehen, ist das eine, damit pädagogisch adäquat umzugehen, das andere. Für Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit liegen hier die Anknüpfungspunkte, um sich stärker als bisher in die Fachdebatte zum Schulessen einzumischen. Folgende Themen könnten und müssten von ihr stark gemacht werden.

6.1 Kinder und Jugendliche als eigensinnige Akteure des Schulessens

Wie für die Schule so gilt auch für die Schulkantine die Realität des o.g. Doppellebens. Es gibt eine offizielle Programmatik als Textbuch für ihre Vorderbühne – um in der Theatermetapher zu verbleiben. In diesem Textbuch steht, was die Schulverpflegung normativ repräsentieren soll: gesundes Essen, Gesundheitsbildung, Verbesserung der Konzentrations- und Lernfähigkeit, soziales Lernen. Dieses Textbuch ist relativ gut ausformuliert. Ökotrophologie und Gesundheitswissenschaften, aber auch die Pädagogik beteiligen sich hieran intensiv. Doch es gibt noch ein ganz anderes Textbuch – nämlich das, das die Kinder und Jugendlichen als Nutzer der Schulmensa selbst mitbringen. Für sie ist das erwachsene Textbuch relativ bedeutungslos. So wie sie in der Schule weniger den Ort des Lernens als vielmehr den des spannenden Zusammenseins suchen, suchen sie auch in der Mensa kaum den Ort des gesunden Essens, der Gesundheitsbildung, der Verbesserung ihrer Konzentrations- und Lernfähigkeit, des sozialen Lernens, sondern schlicht die aufregende und beheimatende Gesellschaft der Gleichaltrigen.

Pausenhof und Mittagessen sind jene schulischen Orte, an denen sich Kontrolle und Disziplinarauflagen für die Schüler deutlich lockern. Die erwachsenen Ortswächter treten in den Hintergrund, Arbeitsauflagen verschwinden, Verhaltenstandards entspannen sich. Dies alles lässt das Mittagessen zwangsläufig zu einem Ereignis werden, in dem sich das subkulturelle Unterleben massiv Bahn bricht bzw. zu brechen sucht.

Forschungen zum Schulessen verfehlen ihren Gegenstand, wenn sie nicht bereit sind, sich den Sinnproduktionen der Kinder und Jugendlichen in dieser Situation zuzuwenden und die Realität des Hinterbühnenlebens der Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen. Wie jeder pädagogisch-institutionelle Prozess, so ist auch das Schulessen letztlich nur als Co-Produktion von zahlreichen normativen institutionellen Akteuren auf der einen Seite und der essenden Schülerschaft auf der anderen Seite vollständig zu verstehen.

6.2 Partizipation beim Schulessen

Wie schon zu Beginn gesagt – bislang erweisen sich die Fachdiskussionen zum Schulessen als relativ adultozentristisch, d. h. hier äußern sich erwachsene Expertinnen und Experten, die unter sich klären, was ein gutes Schulessen ausmacht. Keine Frage: sie tun dies mit den besten Absichten und vor dem Hintergrund dezidierten Wissens zu Ernährungsphysiologie, Großküchenhandwerk und -technik, Betriebswirtschaftlichkeit und Pädagogik. Doch es hat einen paternalistischen Charakter und birgt damit ein Problem: Die Adressaten der Schulkantine sind aus diesen Diskussionen ausgeschlossen. Es wirdüber sie gesprochen,für sie geplant, aber nichtmit ihnen.

Zinnecker (2001) weist darauf hin, dass das schulische Unterleben sich ganz intensiv aus der institutionellen Machtlosigkeit der Schüler und Schülerinnen nährt. Auch in der Schulkantine gehören sie zu den Machtlosen, denn es sind Ökotrophologie, Catering-Firmen, Kantinenarchitekten und Schulleitungen, die die Programmatik bestimmen, was subkulturelle Taktiken auf Schülerseite dann einmal mehr mobilisiert.

Exemplarisch wurde dies in der spektakulären „Feed me better“-Kampagne des Star-Kochs Jamie Oliver in den englischen Schulkantinen deutlich. Oliver begann, in einzelnen Schulen selbst zu kochen – aus frischen Produkten, mit viel mehr Gemüse als bislang üblich, Frittiertes wurde verbannt. Doch er stieß auf erheblichen Widerstand bei den Küchenkräften, Eltern und Schülern. Die Zahl der Mittagesser in den Schulkantinen sank um bis zu 30 %. Mütter versorgten ihre Kinder mit Junk-Food am Schulzaun (vgl. Ottovay und Schorb2009). Die Geschichte offenbart die Essensfrage als soziale Machtfrage. Und sie zeigt, was passieren kann, wenn Reformen des Schulessens im Alleingang von einzelnen Fraktionen paternalistisch durchgesetzt werden und nicht als gemeinsames Thema mit allen Betroffenen verhandelt werden: nämlich mit Küchenkräften, Eltern, Lehrkräften und Schülern.

Die Marktstudien zum Schulessen räumen der partizipativen Praxis durchaus einen gewissen Stellenwert ein. So wird gefordert, Schülerinnen und Schüler stärker an der Gestaltung des Mittagessens zu beteiligen. „Durch ein gewisses Mitspracherecht kann die Akzeptanz der Schulverpflegung erheblich gesteigert werden.“ (Lülfs und Spiller2006, S. 71) Auch an anderer Stelle heißt es: „Die Mitsprache von Schülerinnen und Schülern bei der Speiseplangestaltung erscheint im Hinblick auf die Steigerung der Akzeptanz ein wesentlicher Aspekt zu sein. Diese Mitsprache sollte institutionalisiert werden.“ (Arens-Azevedo und Laberenz2008, S. 57). Das Plädoyer für Schülerpartizipation beschränkt sich jedoch in der Regel auf die Mitbestimmung bei der Speisenauswahl. Partizipationsmodelle, die Schülerinnen und Schüler radikal aus der Konsumentenrolle entlassen und ihnen eine umfassende Mit-Verantwortung bei der institutionellen Verpflegung übertragen, sind noch kaum zu finden.

So entsteht auch eine ungeahnte pädagogische Paradoxie. Das Schwinden des häuslichen Kochens in den Familien wird als Lernverlust für Kinder problematisiert, und dennoch wird in der Schulverpflegung genau dieses fortgesetzt. Der Verfall der familialen Mahlzeitenrituale wird beklagt, gleichwohl wird in der Schule auch nicht gemeinsam an dieser praktischen Aufgabe gearbeitet. Ebenso werden Solidaritätsverluste bei der jungen Generation diagnostiziert, trotz alledem wird die Essensversorgung als soziale Handlung par excellence nicht den Schülerinnen und Schülern übergeben.

Der Ausschluss der Schülerinnen und Schüler von Ernährungstätigkeiten mag aus der Perspektive einer effektiven öffentlichen Essensorganisation praktisch sein, doch werden hiermit jungen Menschen (über-)lebenspraktische Lerngelegenheiten vorenthalten. Im Grunde genommen bereitet die Schulverpflegung, so wie sie derzeit kultiviert ist, junge Menschen geradewegs auf die Rolle des von der Produktion abgekoppelten, ausschließlich konsumierenden und damit vollständig marktabhängigen und naiven Essers vor. Am Ende dieser entfremdenden Entwicklung steht dann wiederum die Forderung nach einem speziellen Schulfach „Ernährung“ (vgl.u. a. Food monitor2008), in dem das, was nicht mehr alltagspraktisch gelernt wird, nun in künstlichen Lernarrangements vermittelt werden soll.Footnote 3

6.3 Schulverpflegung als Ort gelebter Solidarität und Gastlichkeit

Die derzeitige Organisation des Schulessens macht es zudem auch zu einer beziehungslosen Angelegenheit. Es gibt zwar Beziehungen zwischen den Essenden, aber keine zu den Essenproduzierenden und -versorgenden. Die Mahlzeit tritt dem Essenden als pure Sache entgegen – ohne Herkunft, ohne Geschichte, ohne Menschen, die an ihrer Entstehung beteiligt waren. Ausgenommen ist hier höchstens das Personal an der Ausgabetheke. Die nutritive Versorgungshandlung ist arrangiert als sachlich-rationalisierte, anonyme Handlung ohne Beziehungssymbolik und entspricht damit vollständig und reibungslos dem Modus kommerziell-industriellen und individualisierten Nahrungskonsums. Diese Form mag technokratisch funktional sein, doch hat sie nachhaltige soziokulturelle Folgen, die kaum reflektiert werden.

Die menschliche Essensversorgung ist lebens- und menschheitsgeschichtlich eingebettet in dichte soziale Beziehungen. Die frühesten Beziehungserfahrungen sind unmittelbar an orale Sättigungserlebnisse durch versorgende Menschen geknüpft (vgl. Freud und Burlingham1982). Das kleine Kind besetzt jene libidinös, die es nähren – und dies im ganz direkten Wortsinn: nämlich nutritiv. Nicht zufällig kreisen viele beglückende Kindheitserinnerungen um kulinarische Genüsse, die von nahe stehenden Personen dargeboten wurden (vgl. Vogt1992). Für andere Essen zu machen und ihnen dieses zu geben und umgekehrt von anderen Essen zu erhalten und dabei geschmackliches Vergnügen zu erfahren, erzeugt in einem asymmetrischen Beziehungsakt Nähe und Bindung zueinander.

Wenn Schule ihre Schülerinnen und Schüler nach dem funktionalen Kantinenmodell verpflegt,Footnote 4 in dem diese in einer Warteschlange an einer Theke anstehend bei Fremden ihr Essen abholen, vergibt sie schulkulturelle Entwicklungschancen. Anregend können hier wieder Bettelheims Überlegungen zur Praxis im Speisesaal seiner psychiatrischen Klinik sein. Dort wurde den Patienten das Essen am Tisch aufgetragen, und das Personal aß mit den Patienten am selben Tisch.

Im übrigen ist es […] ein großer Unterschied, ob man von einem Tablett ißt, auf dem man sich alle Gänge auf einmal von der Theke geholt hat, oder ob man bei Tisch einen Gang nach dem anderen serviert bekommt. Die erste Methode lädt nicht gerade dazu ein, genießerisch über dem Essen zu verweilen, die zweite tut es. Angenehm bedient zu werden vermittelt ein Gefühl, daß man wichtig genommen und gut versorgt wird. Der Caféteria-Stil hingegen gibt den Eindruck, auch wenn das Essen im einzelnen gut ist, daß niemandem sehr viel an den Mahlzeiten liegt. […] Große Krankenhaus-Speisesäle gestatten kaum eine andere Art von Mahlzeiten als die im Caféteria-Stil (und es ist ziemlich das gleiche, wenn das Tablett von einem gleichgültigen Helfer dem Patienten in die Abteilung oder auf sein Zimmer gebracht wird). An den Theken anzustehen, sich das Besteck selbst zu holen (statt es hübsch gedeckt an seinem Platz vorzufinden), all dies gibt dem Patienten das Gefühl, eine anonyme Nummer innerhalb einer Reihe anderer Leute zu sein. Dem Personal mag es nicht gleichgültig sein, ob er gut ißt und sein Essen mag, aber das sind nur Worte, die nicht von den Taten der Anstalt begleitet sind. (Bettelheim1975, S. 69 ff.)

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass die Gestaltung des Schulessens ungeahnte Beziehungsmitteilungen an die Schülerinnen und Schüler enthält und Folgen für die gesamte institutionelle Kultur auch jenseits der Schulkantine hat. Nahrung mit anderen zu teilen, aktualisiert – wie oben erwähnt – basale Themen menschlicher Konkurrenz und Triebhaftigkeit. Gleichwohl bietet jede Mahlzeit mit anderen Menschen Raum für Begegnung und Nähe und Anlass zur Kultivierung triebregulierender und gemeinschaftstiftender Rituale. Jede gastronomische Versorgungsleistung gegenüber anderen – sei es das Kochen, aber auch das Überreichen – kann eine emotionale Zuwendungsgeste sein, jedes Annehmen von Speisen ein Akt der Anerkennung des Gebenden. Hier werden also elementare Dimensionen von sozialer Angewiesenheit, Kollektivität und Solidarität akut und potentiell bearbeitbar.

Wenn aber das Essen in der modernen Schulthekenpraxis individualisiert und auf die physiologische Nahrungsversorgung reduziert wird, Versorgende und Empfangende voneinander isoliert sind, Lehrkräfte aus Überlastungsgründen sich fernhalten und Schülerinnen und Schüler bei der Ordnung ihres Essens allein gelassen werden, dann können diese sozialisierenden Potentiale nur schwer ausgeschöpft werden. Vor diesem Hintergrund wäre eine Fachdiskussion neu zu eröffnen, die die derzeitigen Praxisstandards des Schulessens kritisch in den Blick nimmt und offensiv Alternativen erarbeitet.

Hierzu gehört beispielsweise die Beschäftigung mit der verbreiteten Thekenpraxis, aber auch mit den nicht anwesenden Lehrkräften am Mittagstisch. Die übliche Entmischung von Kindern und Erwachsenen beim Schulessen mag beiden Seiten entgegen kommen, weil die anstrengenden Anforderungen der schulischen Vorderbühne auf diese Weise gelockert werden. Lehrkräfte müssen nicht mehr Rahmer und Wächter sein, und auch Schülerinnen und Schüler sind so vor erwachsenem Normen- und Kontrolldruck geschützt. Doch der gemeinsame Mittagstisch könnte auch ein kontrastiver intergenerativer Beziehungsraum sein. Nahrung zu teilen schafft Gemeinschaft und Egalität. Für Lehrkräfte böte sich die Möglichkeit, mit den eigenen Schülerinnen und Schülern unter anderen, freundlicheren Vorzeichen als im Unterricht ins Gespräch zu kommen und Nähe entstehen zu lassen. Für Schülerinnen und Schüler böte sich die Chance, ihre Lehrkräfte anders, nämlich als „gleiche“ Tischnachbarn beim gemeinsamen Mahl zu erleben.

Die Präsenz der Erwachsenen beim Mittagstisch scheint auch insofern bedenkenswert als die Ordnung der Mahlzeit eine sozial äußerst anspruchsvolle Angelegenheit darstellt. Schließlich sind mächtige Triebimpulse und Konfliktpotentiale zu regulieren, um eine befriedete Mahlzeit zu arrangieren. Wenn, wie allgemein beklagt wird, die Tischgemeinschaft ihre sozialisierende Kraft in der Moderne angesichts der zunehmenden Individualisierungen des Essens zunehmend verliert, setzt sich genau dieses in der schulischen Kantinenpraxis letztlich fort. Erwachsene Ortwächter verweigern sich als rahmende Disziplinarinstanzen und so wird Kindern und Jugendlichen selbst überantwortet, den Nahrungskonsum und die sozialen Interaktionen zu regulieren – vielleicht doch eine überbordende Aufgabe, bei der die Anwesenheit von Erwachsenen entlasten könnte.

Nachzudenken ist schließlich auch über die möglichen sozialen Wirkungen einer Kultur der Bewirtung und Gastlichkeit in der Schulgesellschaft.Footnote 5 Dies wäre ein Novum für das pädagogische und institutionelle Selbstverständnis. Aber es scheint sehr naheliegend, dass sich das institutionelle Klima entscheidend verändert, wenn es selbstverständlich wird, dassalle Mitglieder der Schulgesellschaft an den erforderlichen gastronomischen Versorgungsaufgaben mitbeteiligt würden. Dies radikalisiert den Partizipationsgedanken, der in den Programmatiken zum Schulessen zu finden ist. Hier ginge es um sehr viel mehr als um die Mitbestimmung bei der Speisenauswahl, nämlich um die Etablierung einer solidarischen Fürsorgekultur im Schulalltag, in dem Erwachsene, Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler andere tatsächlich versorgen und sich um ihr Wohl kümmern – bei der Essensproduktion, vielleicht gar der Erzeugung von Grundnahrungsmitteln in Schulgärten und -landwirtschaftenFootnote 6, der Essensreichung, der Mahlzeitenritualisierung und Raumgestaltung. Es wäre dies ein soziales Handeln, das Echtheitscharakter hätte statt künstlich inszeniert zu werden. Angesichts dessen, dass die mangelnden sozialen Kompetenzen junger Menschen vielfach beklagt werden und zur Abhilfe „soziales Lernen“ dann als spezielles Unterrichtsfach propagiert wird, täten sich hier potentiell innovative pädagogische Perspektiven für Schule auf.