1 Konjunkturen des Beziehungsdiskurses: Vom „pädagogischen Bezug“ zur „Prozessqualität“ (sozial-)pädagogischer Organisationen

Die Beschäftigung mit dem Themenschwerpunkt „Beziehung“ verweist zunächst auf längst vergangene Zeiten einer kulturphilosophisch orientierten Sozialpädagogik nach Nohl (1933/1978), die der personalen Qualität eines „pädagogischen Bezugs“ besondere Bedeutsamkeit für die Erziehung zusprach. Solche Reflexionsformen über Erziehung und soziale Hilfe als Beziehung wurden auch als personale Pädagogik bezeichnet. Die theoretische Beschreibung und Analyse des zwischenmenschlichen Fundaments pädagogischer Beziehung verhalf der Pädagogik als universitärer Disziplin Anfang des 20. Jahrhunderts zu wissenschaftlicher Eigenständigkeit. Zugleich wirkten solche Reflexionen für die sich ausdifferenzierenden und professionalisierenden erzieherischen und helfenden Berufe identitätsstiftend.

1.1 Zur Marginalisierung des pädagogischen Bezugs im Prozess der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der (Sozial-)Pädagogik

Im weiteren Ausdifferenzierungs- und internen Differenzierungsprozess der Bildungs-, Erziehungs- und Hilfesysteme rückten entsprechende Themen mehr und mehr in den Hintergrund. So erfolgt die Diskussion dieser Problemkreise in der Sozialen Arbeit heutzutage eher mit kühleren Redeweisen über „Nähe und Distanz“ oder die Gestaltung von „Care“ (vgl. Uhle und Gaus2009). Solche Distanzierungen von der Tradition personaler Pädagogik haben ihre Gründe und Hintergründe.

Zunächst führte die Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft selbst zu einer Marginalisierung der kulturphilosophisch-kulturpädagogisch ausgerichteten Tradition hin zum Status einer Minderheitenposition. Zudem verselbständigte sich die „Sozialgestalt“ einer „Sozialarbeitswissenschaft“, in deren „Theoriegestalt“ die Erziehungswissenschaft nur mehr einen von vielen Referenzrahmen bot (Tenorth2001, S. 63 ff.). Schließlich verselbständigte sich das Handlungssystem der Sozialen Arbeit, auch mit neuen Fragen der Professionalisierung. In der Auseinandersetzung sowohl mit strukturfunktionalistischen Ansätzen der berufssoziologischen und bildungshistorischen Professionsforschung als auch mit poststrukturalistischen, feministischen, machtanalytischen Positionen der Profession(alisierung)skritik wurde stark das Problematische an Professionsethoi in den Vordergrund gerückt, die berufliches Handeln, berufliche Zuständigkeit über „Beziehungen“ diskutieren.

Ebenso verdeutlichten Professsionsdebatten in der historisch-empirischen Bildungsforschung über „Semi-Professionen“ (vgl. Etzioni1967) und in der Sozialen Arbeit über die „bescheidene Profession“ (vgl. Schütze1992), dass (sozial-)pädagogische Professionalität niemals über fachspezifische Handlungskompetenzen alleine zu definieren ist. Vielmehr ruht sie immer auch auf einem zwischenmenschlichen Beziehungsfundament stabiler emotionaler Zuwendung. Als wissenschaftlicher Gegenstand kann diese Tatsache jedoch niemals vollständig und völlig widerspruchsfrei mit professionstheoretischen Konzeptualisierungen erfasst werden. So wissen zwar Lehrerinnen wie Sozialarbeiterinnen, Kulturpädagoginnen wie Erzieherinnen, dass ohne die persönliche Nähe konkret leiblicher Personen, ohne den Aufbau von Bindungen, ohne die Möglichkeit von Übertragungen, Gegenübertragungen und Projektionen, ohne enthusiasmierte und enthusiasmierende Begeisterung für Themen, Aufgaben und Projekte, ohne vertrauensvolle Fürsorge, Zuwendung und Begleitung, kurz: ohne „Liebe“ keine gelingende Gestaltung pädagogischer Prozesse möglich ist (vgl. Drieschner und Gaus2011). Alle Akteure wissen jedoch ebenso, dass die Thematisierung dieser „Liebe“ der Anerkennung der Professionalität der genannten Arbeitsfelder in der Wahrnehmung von Öffentlichkeit, Politik und Geldgebern entgegensteht.

Von daher wurde es auch in der Sozialen Arbeit still um „geistige Mütterlichkeit“ nach Gertrud Bäumer, Alice Salomon und Eduard Spranger. Gleiches gilt für die liebevolle „Sorge“ nach Johann Heinrich Pestalozzi, den liebevoll begleitenden „Bezug“ und die „Erziehungs- und Bildungsgemeinschaft“ Nohls, den jugendbewegten „Eros“, die „Umfassung“ nach Martin Buber und für viele andere Konzepte personaler Pädagogik. In den 1960er Jahren war Erika Hoffmann in der Frühpädagogik die letzte bedeutende Vertreterin einer fröbelianisch-pestalozzianischen Tradition, welche die Gestaltung von „Nähe“ in „Beziehungen“ als relevantes Thema diskutierte. In der Schulpädagogik wurden schließlich gar Problematisierungen von Pädagogik und Didaktik als „Technologieersatztechnologie“ nach Luhmann und Schorr (1979) ausgeblendet: mit den KMK-Beschlüssen (2004) erhob man die Vision eines Unterrichtstechnologen zum Leitbild der Lehrerausbildung. Dieser neue Lehr-Lern-Experte sollte mit professionell pädagogischen Kompetenzen etwa des Classroom Managements, der Instruktion, der testbasierten Diagnostik und der fachdidaktischen Expertise ausgestattet werden, um den Kompetenzzuwachs auf Seiten der Lernenden in fachlichen Domänen sicherzustellen. Vergessen schien, dass Lehrkräfte nicht Stoffe unterrichten, sondern Menschen, dass sie keine Kompetenzen herstellen, sondern biographische Lernprozesse in und durch Beziehungen gestalten – ebenso, wie Sozialarbeiterinnen nicht Probleme lösen, sondern Menschen in schwierigen Lebenslagen und bei schwierigen Transitionen in Lebensläufen begleiten.

Der bildungshistorische Blick offenbart, dass die aktuelle neuerliche Hinwendung zum Beziehungsthema nicht nur als kurzfristige Reaktion auf die Problematik sexueller Übergriffe in der Heim- und Internatserziehung zu werten ist. Vielmehr erweist sie sich als Ausdruck längerfristiger Veränderungen auf den Ebenen von sowohl professionellen Deutungsmustern als auch systemischer Leistungserbringung.

Bis in die 1960er Jahre hinein waren die geisteswissenschaftlichen Deutungen rund um Beziehung, Begegnung und Bezug in Schule und Erwachsenenbildung, um Fürsorge und Wohlfahrt in der Sozialarbeit, um Pflegen und Behüten in der Frühpädagogik noch ungebrochen dominant. In der bildungspolitischen Reformära der späten 1960er und frühen 1970er Jahre ging es hingegen in allen Bereichen unter dem Anspruch einer wissenschaftlichen Forschungsorientierung („empirische Wende“) verstärkt um kognitive Förderung und kompensatorische Erziehung und Begleitung mit dem Ziel, soziale Benachteiligungen auszugleichen (Roßbach1993, S. 9). Diese Debatte entfaltete sich im Spannungsfeld einer eher sozialtechnologischen Funktionsorientierung einerseits und einer eher sozialphilosophisch ausgerichteten Emanzipationsorientierung andererseits.

Unter sozialtechnologischen Vorzeichen mussten bis dahin gültige Konzeptionen von Erziehung und sozialer Hilfe als Beziehung und Begegnung aufgrund ihrer Wirkungsunsicherheit verworfen werden. An deren Stelle trat der Versuch – besonders anschaulich in der Schulpädagogik – über curriculare und didaktische Reformen den Nexus von Lernziel-, Lerninhalts-, Lernorganisationsentscheidungen sowie Evaluationen technologisch zu steuern (vgl. Robinsohn1967). Sinnbild hierfür ist der kybernetische Regelkreis, der Erziehung und Unterricht als Differenz zwischen Ist- und Soll-Zustand der Lernplanung erfasst.

Parallel wurde mit der strukturfunktionalen Gesellschaftstheorie Talcott Parsons das pädagogische Verhältnis nicht mehr persönlich, sondern sachlich als komplementäre Rollenbeziehung konzipiert, die auf die für die Systemreproduktion notwendige Vermittlung von Wissen und Wertorientierungen zielt.

Auch aus emanzipatorischer Sicht schienen personal-pädagogische Konzeptionen nicht mehr tragbar. Gegenstand kritischer Abgrenzung wurde hier die Asymmetrie eines traditionell verstandenen Verhältnisses von Erzieher und Zögling. So sollte etwa das durch Liebe, Autorität und Gehorsam gekennzeichnete Autoritätsverhältnis im pädagogischen Bezug in einen „Verhandlungsstil der Erziehung“ überführt, durch antiautoritäre Erziehung oder gar durch eine antipädagogische Absage an den Erziehungsanspruch abgelöst werden.

Mitte der 1970er Jahre begann die bildungspolitische Reformeuphorie abzuklingen, in den 1980er Jahren verlagerte sich der Diskurs in allen Bereichen hin zu Fragen sozioemotionaler und sozialer Entwicklung. Nun ging es insbesondere um Fähigkeiten kommunikativen Handelns und zum Aushalten von Konflikten, um soziale Verantwortungsbereitschaft sowie Individualisierung von Lernmöglichkeiten und Lernerfahrungen. „Ganzheitlichkeit“ wurde das neue Schlagwort, das in den 1990er Jahren allen Bereiche ein semantisches Dach bot: Diskussionen um „Schulkultur“, „Schulentwicklung“ und „Unterrichtsklima“ in der Schulpädagogik, um den Kindergarten als „Lebensraum“ in der Frühpädagogik, um „lebenswelt-“ und „ressourcenorientierte“, „sozialökologische“ und „sozialraumbezogene“ Ansätze in der Sozialen Arbeit. Eine Abkehr von Hoffnungen auf Verwissenschaftlichung über Disziplinbildung korrespondierte mit einer Hinwendung zu Versuchen der je spezifischen Entwicklung von je eigenen Professionalitätsverständnissen. In diesen Überlegungen ging es bereits implizit wieder stärker um Beziehungen. Freilich war in dieser Phase noch nicht explizit von deren „Qualität“ die Rede. Eher implizit entfalteten sich zunächst auf der Deutungsebene professioneller (Früh-, Schul-, Kultur- und Sozial-)Pädagoginnen neue Deutungen zur Bedeutsamkeit entgegenkommender Sozialräume und Beziehungen.

1.2 Zur Wiederentdeckung der pädagogischen Beziehung in der Qualitätsforschung

Aus zunächst noch vereinzelten und eher ungerichteten Fragen nach „Qualität“ entwickelte sich seit den 1990er Jahren ein eigenständiger Qualitätsdiskurs. Von nun an wurden explizite Fragen nach Standards, Indikatoren und Wirkungen in Organisationen des Elementarbereichs (vgl. Tietze1998), des Schulbereichs (vgl. Helmke und Schrader1993) und der Sozialen Arbeit (vgl. Baur et al.1998; Schmidt und Schneider2002) gestellt. Durch die massenmedial als „PISA-Schock“ inszenierten Ergebnisse der internationalen Schulvergleichsforschung erfuhr die Diskussion 2001 eine klare Zuspitzung. Die PISA-Ergebnisse machten, so die Interpretation von Bildungspolitik und Bildungsforschung, das gravierende Qualitätsproblem im deutschen Bildungssystem sichtbar.

Zeitgleich und parallel dazu vollzog sich eine weitere Entwicklung. Im Prozess einer sich dynamisierenden Globalisierung wuchsen die Interessen auf Seiten des ökonomischen Systems an einer Beschneidung der relativen Autonomie des Bildungssystems und des Systems Sozialer Hilfen zugunsten einer effizienteren und effektiveren Zuarbeit des Bildungssystems zu wirtschaftlichem Nutzen. Unabhängig davon, dass Ergebnisse historischer Bildungsforschung die relative Eigenlogik des Bildungssystems nachweisen, welche sich derartiger linearer Funktionalisierung widersetzt: alleine die Interessen des ökonomischen Systems zeitigten neue Diskurse über Bildung. Für das System Sozialer Hilfen wie für das Bildungssystem zeigt etwa die Lissabon-Erklärung von 2000 mit ihrem unter dem Aspekt von Wirtschafts- wie von Arbeitsmarktpolitik gemeinsam auf beide Systeme gerichteten Globalziel der „Employability“ in diese Richtung; bildungssoziologisch sind die neuen Diskurse etwa von Richard Münch aufgearbeitet worden (vgl. Münch2010).

Die Bildungspolitik reagierte auf diese neuen Herausforderungen mit der Implementierung von Qualitätsüberprüfungen und darauf bezogenen Steuerungsmodellen. Erstaunlicherweise war es gerade dieser als technokratisch und bürokratisch gescholtene Qualitätsdiskurs, über den die Frage nach der Güte (sozial-)pädagogischer Beziehungen und Interaktionen wieder in den Blick rückte. Dabei wurde jedoch nicht mehr auf die klassische Semantik von „Liebe“, „Beziehung“ und „Vertrauen“ gesetzt, sondern auf den Begriff der „Prozessqualität“, womit sich der alte Problemkreis völlig anders kontextualisiert und semantisch verwandelt darstellt.

Heutige Begriffe und Modelle von Qualität fanden zunächst hauptsächlich im ökonomischen System Verbreitung. Dieses wiederum übernahm eine Semantik, die schon in den 1960er Jahren ursprünglich in der Gesundheitsökonomie und -politik entwickelt worden war (vgl. Donabedian1966). Inzwischen operiert die gesamte Diskussion mit Begriffen, die keine einheimischen sind. Sie werden – wenn überhaupt – vielfach eher formal als inhaltlich bestimmt. So wird im Effekt der Qualitätsbegriff sowohl in der Bildungs- und Sozialforschung verwendet als auch von der Bildungs- und Sozialpolitik auf Organisationen in den Sozialsystemen Bildung und Soziale Hilfe übertragen.

In ökonomischer Funktionslogik wird Qualität in allen Bereichen nach Effizienz bemessen; diejenigen Prozesse einer Organisation werden als qualitätsvoll eingestuft, die zu einem hohen Outcome führen. Strukturqualität bezeichnet dabei die materiellen Rahmenbedingungen von Organisationen, Ergebnisqualität erfasst die Effekte der Leistungsprozesse. Hierbei wird in der zeitlichen Dimension zwischen Outputqualität (kurzfristige Effekte) und Outcomequalität (langfristige Effekte) unterschieden. Prozessqualität – als Bindeglied zwischen den beiden Effektarten – steht für die Gesamtheit der Leistungsprozesse innerhalb einer Organisation. Beziehungs- und Interaktionsgestaltung fällt somit in diesen Bereich der „Prozessqualität“.

In der Rezeption dieser Qualitätsdiskurse durch die Bildungsforschung wird als wesentliche Erweiterung des Modells die Orientierungsqualität diskutiert. Sie umfasst die Einstellungen, Ziele, Werte und Überzeugungen der Akteure sowie die Konzeption von Einrichtungen (vgl. Tietze1998). Damit wird einerseits eine alte Frage der personalen Pädagogik angesprochen, allerdings wird auch diese jetzt neu kontextualisiert: In klassischen Erörterungen systematischer Pädagogik ging es um „Liebe“ als Mittel UND Ziel von Pädagogik. Im Zeichen des Qualitätsdiskurses wird das „Mittel“ professionell eingesetzter Beziehungen dem Bereich der Prozessqualität zugeordnet. Die Zielstellung von „Beziehungsfähigkeit“ wird hingegen, noch nicht gänzlich geklärt in der Diskussion, hierbei teils als Zielvorstellung in den Konzepten professioneller Akteure derer Orientierungsqualität zugeschlagen, teils, sofern es als Outcome (sozial-)pädagogischer Bemühungen operationalisiert wird, als Element der Ergebnisqualität operationalisiert.

In Bezug auf Qualitätsanalysen in den Systemen Bildung und Soziale Hilfe sind zudem unterschiedliche Problemkreise und Diskussionsstände zu beachten. Um die Jahrtausendwende traten, im einen Extrem des sich differenzierenden und immer größer werdenden Systems der Kindertagesbetreuung, zunächst Probleme der Strukturqualität in den Vordergrund. Hier ging es z. B. um die übergreifende Implementierung kindgemäßer Fachkraft-Kind-Relationen oder um angemessene Gruppengrößen als Vorbedingung von Prozessqualität. Im anderen Extrem eines schon ausdifferenzierten, intern differenzierten und integrierten schulischen Bildungssystems ging es demgegenüber zunächst viel stärker um Fragen der Ergebnisqualität. Wesentliches Ergebnis ist das Netz aus internationalen und nationalen Schulleistungsstudien wie TIMSS, PISA und IGLU sowie KMK-Ländervergleichen und VERA.

Ungeachtet solch unterschiedlicher Ausgangslagen in den einzelnen Teilbereichen der Systeme Bildung und Soziale Hilfe ist für die Zukunft die Konvergenz der Extreme zu beachten. Das „Bildungssystem“ ist, im weiten Sinne des Nationalen Bildungsberichts (2006)Footnote 1, jetzt und in der Zukunft als ein Gesamtsystem von frühpädagogischen Organisationen über Schule und Hochschule bis hin zu erziehungsbegleitenden Hilfen, kultureller Bildung, Weiterbildung und lebensbegleitenden Angeboten über den Lebenslauf zu begreifen. Dementsprechend verweist historische Bildungsforschung darauf, dass die Stufen, Teil- und früheren Randbereiche des Bildungssystems über Integrationsprozesse gegenwärtig verstärkt aufeinander zuwachsen (vgl. Drieschner und Gaus2012).

Diese integrative Konvergenz ebenso wie das erhöhte Qualitätsbewusstsein wird seit dem Ende der 1990er Jahre massiv durch neue Vorgaben politischer Globalsteuerung forciert, wie sie sich etwa aus der Ausrichtung auf die OECD-Indikatoren für Bildung und Soziales oder aus dem politischen Globalziel eines „aktivierenden Sozialstaates“ ergeben. Der Bildungs- und Sozialbereich reagiert, indem er sich der politischen Vorgabe stellt, Indikatoren „erfolgreicher“ Systemleistung nachzuweisen. Mit der damit verbundenen Umstellung von der Input- zur Outcome-Steuerung wird die Indexierung und Evaluation entsprechender „Ergebnisqualitäten“ zur übergreifenden Aufgabe in allen schul-, früh-, sozial und kulturpädagogischen Bereichen.

Damit entsprechende Ergebnisqualitäten erreicht werden können, gewinnt nach dieser Systemlogik die Prozessqualität zunehmend an Bedeutung. Wird auf Bildungs-, Kultur- und Sozialangebote geschaut, so geht es, rein analytisch auf die Spezifität der Systemleistung konzentriert, im Kern immer um die Entfaltung von Entwicklungspotenzialen in der Person des Lernenden, des Klienten, des sich Bildenden. Entwicklungspotenziale einer Person sind aber immer nur als Entwicklungspotenziale eines Menschen in prozessual ablaufenden Beziehungen zu verstehen.

1.3 Probleme im Qualitätsdiskurs

Die Beobachtung der Interaktion zwischen Sozialsystemen muss um die Betrachtung einer zweiten Ebene ergänzt werden. Immerhin geht es hier um Personen, Individuen, Subjekte – systemtheoretisch formuliert um „psychische Systeme“. Das Problem eines generalisierenden Qualitätsdiskurses ist, dass er zwar semantische Anschlussfähigkeit zwischen den Systemen Bildung, Soziale Hilfe, Ökonomie und Politik bietet. Die Beziehung zwischen dem Bildungssystem bzw. dem System Sozialer Hilfen und der psychischen Systemebene ist damit aber noch weitgehend unterbestimmt. Für die Systeme von Bildung und Sozialer Hilfe ist es jedoch zur Erhöhung ihres Outcomes konstitutiv, einen Rückbezug zu den ihnen anvertrauten „psychischen Systemen“ zu finden. Insofern ist für diesen Bereich Prozessqualität systemtheoretisch in einem Bereich spezifischer Kommunikation angesiedelt, der auf Veränderung psychischer Systeme zielt.

Soziale und psychische Systeme operieren nach Luhmann (1985) autopoietisch, d. h. selbstreferenziell, geschlossen und strukturdeterminiert. Dabei bedienen sie sich zweier Modi: Kommunikation einerseits und Bewusstsein andererseits. Da Gedanken nicht in Kommunikation und Kommunikation nicht in Gedanken übersetzt werden können, bleiben soziale und psychische Systeme füreinander immer Umwelten. Kommunikation fasst Luhmann als Einheit dreier Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Kommunikation emergiert, wenn eine Information (Selektion eines Inhalts) von ihrer Mitteilung (Selektion einer Mitteilungsform) unterschieden wird. Die Anschlusskommunikation sichert die Autopoiesis des sozialen Systems und zeigt, wie die vorherige Kommunikation verstanden wurde.

Damit Annahme und Anschlussfähigkeit von Kommunikation wahrscheinlicher werden, bilden soziale Systeme Erwartungsstrukturen (symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, funktionsspezifische binäre Codes) aus, nach deren Maßgabe Anschlusskommunikation selektiert wird. In der funktional differenzierten Gesellschaft pluralisieren sich diese binär codierten Unterscheidungsmöglichkeiten, mit denen Anschlusskommunikation sichergestellt wird. Speziell die pädagogische Kommunikation ist doppelt codiert. Sie orientiert sich an den Codes vermittelbar/nicht vermittelbar sowie besser/schlechter. Für die genuin sozialpädagogische Kommunikation ist dagegen der Code helfen/nicht helfen konstitutiv. Nach Luhmann (2002) verweisen solche Codes auf zentrale gesellschaftliche Bezugsprobleme der Systeme, wie etwa die Vermittlungs-, Selektions- und Hilfefunktion. Aus dem Dargestellten ergeben sich zwei wesentliche Probleme:

Zum einen ist der Code eines Bildungssystems im neuen, weiten Sinne des Wortes derzeit eher unklar. In Zeiten eines immer stärker zusammenwachsenden Bildungssystems, das z. B. den Kindergarten sukzessiv als Elementarbereich strukturell integriert und seine strukturellen Koppelungen mit dem System der Sozialen Hilfe (z. B. Jugendhilfe, Jugendkulturarbeit, Hilfen für Bildung und Beschäftigung) intensiviert, erweist sich eine rein schulzentrierte Sicht auf Bildung als ungenügend. Diskussionen über „nonformale, informelle und akzidenzielle Lern- und Bildungsprozesse“, über die Entgrenzung des Pädagogischen, „die andere Seite der Bildung“, „lebenslanges Lernen“ oder die „Pädagogisierung aller Lebensbereiche und Lebensalter“ indizieren einen Prozess hin zu einer Systemintegration des Bildungssystems auf höherer Ebene. Da sich hierfür allerdings noch keine übergreifende, allgemein akzeptierte Codierung durchgesetzt hat, ist u.a. auch die Bestimmung der Qualität von Prozessen in und zwischen den Systemen des Bildungsbereichs derzeit so schwierig.

Dazu kommt, zum anderen, dass diese Sozialsysteme auf psychische Systeme zielen, die – so Luhmann (1985) – auf der Basis von Bewusstsein agieren. Dies bedeutet: Hier schließt Gedanke an Gedanke an, insofern Gedanken als temporalisierte und dem schnellen zeitlichen Verfall ausgesetzte Bewusstseinselemente in einem rekursiven Transformationsprozess ständig neue Gedanken produzieren. Dabei stehen Gedanken in einer Beobachtungsfolge. Beobachtete Gedanken können auch als Vorstellungen bezeichnet werden. Dieser autopoietische Prozess des Übergangs der Gedanken ist entscheidend durch die kognitive Systemstruktur gelenkt.

Soziale und psychische Systeme folgen also jeweils einer eigenen Logik. Vor diesem Hintergrund ist es für Systeme wie das Bildungssystem oder das System Sozialer Hilfen konstitutiv, Kontingenzen im Verhältnis zwischen sozialem und psychischem System zu problematisieren, um strukturelle Koppelungen zwischen beiden zu ermöglichen. Denn in der Perspektive ihrer relevanten Umwelten, insbesondere des politischen und des ökonomischen Systems, liegt ihre angestrebte Systemleistung darin zu versuchen, für das und mit dem anvertrauten psychischen System, dem „Selbst“ des „Selbstlerners“, wie Schefold (2011, S. 14 ff.) ausführt, so weit als möglich die systemspezifische Kommunikation in eine psychisch verankerte Gedankenwelt zu transformieren.

Hier zeigt sich das altbekannte Problem einer „Technologieersatztechnologie“, die Prozesse psychischer Entwicklung soweit als möglich sicherzustellen verspricht, allerdings unter veränderten Vorzeichen. Wurde – wie oben angesprochen – in den 1970er Jahren versucht, über Verwissenschaftlichung und Technisierung pädagogischer Handlungsfolgen das Unwägbare pädagogischer Beziehungen so weit als möglich einzugrenzen, wird inzwischen (an)erkannt, dass die Beziehungsebene nicht außer Acht gelassen werden kann. Im Sinne einer „soft technology“ ist sie notwendiges Mittel, um strukturelle Koppelungen zwischen Bildungssystem und Lernenden und KlientInnen überhaupt zu ermöglichen. Das Problem der Wirkungsunsicherheit bleibt – ohne ihren Einsatz aber steht das Problem im Raum, dass sicher keine Wirkungen erzielt werden.

Die Anerkenntnis, dass auf die soft technology „Beziehung“ nicht verzichtet werden kann, findet derzeit in der (sozial-)pädagogischen Kommunikation übergreifend Ausdruck. So wird etwa in der Elementarpädagogik seit einigen Jahren verstärkt über die Beziehungsseite von Erziehung und Bildung im Kontext sicherer Erzieherinnen-Kind-Bindungen diskutiert. Der individuelle Bildungsprozess rückt hier etwa über Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren in den Fokus. So diskutiert die Schulpädagogik inzwischen die Individualisierung von Unterricht unter der Geltung von Heterogenität. Differenzierte Diagnose- und Förderverfahren spielen hier eine wichtige Rolle, um die emotionalen und motivationalen Aspekte der individuellen Lehrer-Schüler-Interaktion professionell zu fassen. Auch die Soziale Arbeit stellt seit einiger Zeit „Formen der personenbezogenen Leistungserbringung neben die Leistungen über Rechte und finanzielle Unterstützung… Diese Leistungen werden immer häufiger an Kommunikation … gekoppelt“ (Schefold2011, S. 12).

2 Prozessqualität vs. pädagogische Beziehungsqualität

Bis hierhin kann festgehalten werden, dass die Antwort auf die Frage nach der Wirksamkeit pädagogischer Kommunikation derzeit wieder verstärkt in der Gestaltung von Beziehungs- und Interaktionsformen gesucht wird. Es ist systemlogisch, dass sich die Qualitätsdebatte inzwischen zunehmend auf die Prozessqualität von Interaktionssystemen innerhalb pädagogischer Organisationen zuspitzt, dass also wieder Beziehungsaspekte diskutiert werden. So erscheint es auf den ersten Blick, als ob sich ein Kreis schlösse: Wie schon vor 80 Jahren ist es die personale Dimension von Erziehung als Begegnung, die das Berufsfeld umtreibt. Ein zweiter Blick offenbart jedoch auch auftretende Gefahren und Verkürzungen, wenn Qualitätskonzepte aus dem Management- und Personalentwicklungsbereich ungeprüft, ohne eine systemspezifische Konzeption in den Gesundheits-, Bildungs- oder Sozialbereich transferiert werden.

Zu beachten ist die Gefahr des naturalistischen Fehlschlusses, dass etwas nur schon deshalb gelten darf, gar soll, weil es empirisch auffindbar bzw. wirksam ist. Die Beantwortung der quaestio facti bietet aber noch keine Antwort auf die quaestio juris. Vielmehr ist es Sinn wie Zweck von Wissenschaft, gerade solche Zirkel zu hinterfragen. Daher wird im Folgenden diskutiert, wie aus fachlich pädagogischer Perspektive mit den aufgezeigten Tendenzen umzugehen ist.

Die erste Kritik richtet sich an den Sprachgebrauch der Wissenschaften selbst. Derzeit wird „Prozessqualität“ in allen Bereichen rein formal als jene Ebene thematisiert, auf welcher der Ertrag einer Organisation hervorgebracht wird. Unschwer ist jedoch zu erkennen, dass sich die Ziele, Codierungen und Medien von Organisationen je nach den gesellschaftlichen Teilsystemen voneinander unterscheiden. Von daher ist Prozessqualität je spezifisch für unterschiedliche Organisationen zu definieren, zu operationalisieren und nach deren Maßgabe zu evaluieren. (Sozial-)pädagogische Qualitätsforschung muss deshalb je nach Untersuchungsbereich und Anwendungsfeld die enge Kooperation mit den entsprechenden wissenschaftlichen Reflexionssystemen wie Pflegewissenschaft, Medizin, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Sozialarbeitswissenschaft und Anthropologie suchen, um theorielose, unbestimmte oder unangemessene Konstruktbildungen und Qualitätsfeststellungen zu vermeiden.

Zweitens sei vorgeschlagen, den Begriff „Prozessqualität“ für das pädagogische Feld durch den Begriff „pädagogische Beziehungsqualität“ zu ersetzen. Nur eine eigene Semantik wird verdeutlichen, dass zwischen der Prozessqualität eines Unternehmens und derjenigen einer Jugendhilfeeinrichtung keine Strukturanalogie unterstellt werden kann. Während ökonomische Prozesse etwa auf die Realisierung hoher Produkt- bzw. Dienstleistungsstandards zielen, besteht die Spezifik pädagogischer Prozesse darin, Menschen zur Selbstveränderung aufzufordern und anzuregen. Genau diese Besonderheit wird aber in Begriffen wie dem der „personenbezogenen Dienstleistungen“, welcher seit einigen Jahren gerade die Soziale Arbeit an- und umtreibt, systematisch ausgeblendet.

Drittens geht es hierbei nicht nur um eine semantische Anschlussfähigkeit, sondern aus fachsprachlicher Sicht einer Disziplin darum, Reflexions- und Erkenntnisniveaus der historisch-systematischen Erziehungswissenschaft nicht – und ohne Not – aufzugeben. Denn der Gedanke sich bildender Menschen, wie er Bildungs- und Erziehungstheorie seit Jahrtausenden umtreibt, kann gar nicht völlig in einem formalen Analyseschema aufgehen, das sich, wiederum formal, darauf beschränkt, sich verändernde psychische Systeme zu konstatieren.

Traditionsbestände personaler Pädagogik revisited

Aus (sozial-)pädagogischer Sicht ist zunächst daran festzuhalten, dass sich die pädagogisch zu unterstützende Entwicklung des anderen Selbst nur in konkreten, emotional stabilen Beziehungen vollziehen kann, weshalb Pädagogen auch als Beziehungsarbeiter bezeichnet werden. Folglich benötigt die professionelle Reflexion pädagogischer Beziehungsqualität anderes und mehr als organisationstheoretische Formalisierungen oder systemtheoretische Modellierungen. Die konkrete Gestaltung und Evaluation pädagogischer Beziehungsqualität braucht den Anschluss an das bereits erreichte, hohe Niveau der Theoriebestände personaler Pädagogik. Unter diesem Anspruch seien fünf Aspekte benannt, die hier als Ansätze für weitere Überlegungen vorgeschlagen werden:

  1. 1.

    Liebe als Mittel UND Ziel: Klassische personale Pädagogik wusste um den Zusammenhang von „Liebe“ als Mittel UND als Ziel von Erziehung und Hilfe. Liebe ist hier nicht nur die helfende Kraft, um Selbstbildungsprozesse über so etwas wie eine Bildungsprojektgemeinschaft zu ermöglichen. In Form von Gottes-, Wahrheits-, Heimat-, Partner- oder anderer Liebe ist Liebe zugleich Ziel des Selbstbildungsprozesses. Im neuen Qualitätsdiskurs hingegen wird „Beziehung“ als Prozessqualität alleine als Mittel diskutiert. Dies ist aber ungenügend. Schon Platon wusste um den Übergang des Erziehungsmittels Liebe zum Bildungsziel der Liebe zur Weisheit (philo-sophia), hier als Korrelat zu Ergebnisqualität (Outcome). Schon Johann Friedrich Herbart (1888) wusste um den „Takt“ als personale Fähigkeit, Bewusstheit, abgelagert im Habitus des Erziehers, hier als Korrelat zu Orientierungsqualität. Schon Pestalozzi reflektierte den Zusammenhang von Agape als Grundlage und Ziel von Erziehung, ebenso wie Nohl in besonders eindrücklicher Weise Beziehungsmerkmale wie Liebe, Vertrauen und Zuwendung zum Kind als Erziehungsmittel mit dem Gedanken der Bildung als Persönlichkeitsentwicklung verband. Die Trennung zwischen Prozess-, Ergebnis- und Orientierungsqualität zielt demnach am grundlegenden Ertrag personaler Pädagogik vorbei, da alle Aspekte untrennbar zusammengehören und auseinander hervorgehen. Aktuell werden sie jedoch unwillkürlich getrennt und unverbunden diskutiert, ohne die personale Beziehungsgebundenheit des Selbstbildungsprozesses wirklich ins Auge zu fassen.

  2. 2.

    Beziehungsgebundenheit des Bildungsprozesses: Klassische personale Pädagogik basiert auf der Annahme der sozialen Existenz und der Angewiesenheit des Menschen auf andere Menschen in seinem Entwicklungs- und Bildungsprozess. Diese Angewiesenheit wird in einer antinomischen Spannung zur Selbstständigkeit und Selbstentwicklung bereits des kleinen Kindes gesehen. So wird das Kind einerseits als abhängig, schutzbedürftig, als auf Unterstützung und Hilfe angewiesen betrachtet, andererseits und gleichzeitig als Gestalter seiner eigenen Entwicklung. Es kann nur selbst, aber auch immer nur im Rahmen menschlicher Bezüge, zu seiner „eigenen Form“ kommen, wie es Nohl idealtypisch ausdrückte. Demnach ist die seelische Grundverfassung des Menschen durch einen konstitutiven, auf verschiedenen Altersstufen durchaus konflikthaften dialektischen Zusammenhang zwischen personaler Nähe und Ich-Stärke, zwischen Anlehnungs- und Autonomiebedürfnissen gekennzeichnet. Das Streben nach Bindung wie komplementär nach einer im Rahmen von Bindungen erwachsenen Autonomie wird als anthropologische Grundtatsache beschrieben und analysiert: Bindung und Autonomie erscheinen gleichermaßen als Potenziale wie als Aufgaben der menschlichen Entwicklung. Sie können und müssen im Rahmen enger emotional basierter Beziehungen realisiert werden. Die Empathiefähigkeit und feinfühlige Beantwortung sowohl von Bindungs- als auch von Autonomiebedürfnissen gilt in diesem Zusammenhang als Schlüssel für die Entwicklung einer sozial gut gebundenen, autonomen Persönlichkeit.

    Vor diesem Hintergrund zielt die pädagogische Frage darauf, wie aus der Ambivalenz von Abhängigkeit, Schutzbedürftigkeit, Unterstützung und Hilfe einerseits und dem Streben nach Eigenständigkeit andererseits menschliche Autonomieentwicklung gefördert werden kann. „Autonomie in Verbundenheit“ als Bildungsziel bedeutet sowohl „innere Unabhängigkeit“ und Urteilskraft als auch die „Fähigkeit, Beziehungen und Bindungen einzugehen und einer Gemeinschaft anzugehören“ (Flitner2004, S. 144). Autonomie meint also nicht Beziehungslosigkeit, wie mitunter fälschlicherweise angenommen, sondern die Fähigkeit, selbstbestimmt in vertiefte Bindungen und in Austausch mit anderen einzutreten. Dem aktuellen Qualitätskonzept fehlt eine solche handlungsleitende pädagogisch-anthropologische Fundierung der Beziehungsgebundenheit menschlicher Bildungsprozesse. Insofern ist mit Nachdruck daran zu erinnern, dass „Bindung“ in dieser Tradition nicht nur als helfende Kraft zur Bereitstellung extern formulierter Ziele fungiert, sondern immer auch und vor allem im Dienst der Autonomieentwicklung steht.

  3. 3.

    Problem von Nähe und Distanz: Wenn von „Beziehung“ gesprochen wird, so wird prima vista eine Hochschätzung von Nähe oder Liebe unterstellt. Personale Pädagogik hat jedoch herausgearbeitet, dass pädagogisch werthaltige Beziehung immer nur als dialektisches Geschehen von Liebe UND Amtsansehen (vgl. August Heinrich Niemeyer1879) bzw. Autorität (Nohl1933/1978) zu begreifen ist. „Beziehung“ ist zunächst nur ein formaler Begriff. Dialektiken wie die von Liebe und Autorität, von Nähe und Distanz oder, mit Ulrich Oevermann (2008) , von „diffusen und spezifischen“ Beziehungsmomenten sind inzwischen in den (sozial-)pädagogischen Professionsdebatten tiefgehend erörtert worden. Professionell Beteiligte müssen sich beim Versuch des Aufbaus von Bündnissen auf emotionale personale Beziehungen einlassen, die immer paradoxaler Art sind: So sind sie zugleich mit Wertschätzungen und mit Ablehnungen konfrontiert, müssen Nähe ermöglichen und Distanz wahren, müssen Selbsttätigkeit, ja, die Selbstbestimmung des Adressaten immer unterstellen, zugleich aber auch immer von einem Mangel an Autonomie, an Selbstbestimmung ausgehen. Nähe, Zuneigung und Vertrauen sind damit Bestandteile der paradoxalen Struktur von immer rollenförmig distanziert angelegten professionellen (sozial- wie schul)pädagogischen Beziehungen.

    Dieses professionstheoretische Problem eines personalen Beziehungsaufbaus in Korrelation mit einem rollenförmig-institutionellen Handeln verschärft sich zudem durch seine professionsstrategischen Implikationen. In der Sozialen Arbeit etwa ergibt sich aus der Betonung der paradoxalen Struktur pädagogischen Handelns dreierlei: Zum einen ist es, schon seit den 1920er Jahren, die besondere, herausgehobene Aufgabe sozialpädagogischer Einzelfallarbeit, die Semantik von „Nähe“ und „Distanz“ mit dem psychoanalytisch-therapeutischen Problem von „Abwehr- und Gegenübertragungsphänomenen bei Helfern“ zu verbinden. Zum anderen kann, insbesondere seit der Orientierung am Lebensweltbezug, für Soziale Arbeit mit der Chiffre „Nähe“ der nur dieser Berufsgruppe zuzuordnende solidarische Bezug „zum subjektiven Standort der Klienten, zu [deren] Lebenswelt, [deren] Alltagsproblemen“ hervorgehoben werden. Und letztlich kann mit der Semantik von „Nähe“ und „Distanz“ auf die sozialpolitischen und organisationsbedingten Hintergründe und Möglichkeiten bzw. Hindernisse eines solidarischen Eintretens von Sozialpädagogen für ihre Klientel verwiesen werden (Doerr und Müller2007, S. 14). Die Professionserfordernisse und das Selbstverständnis von Professionellen legen damit die Semantik von „Nähe“ und „Distanz“ als einen Zwang und einen Vorteil heutiger (Sozial- und Schul-)Pädagogik zugleich nahe. Einerseits ist dem Problemkreis nicht zu entgehen – andererseits ist er durchaus zum eigenen Nutzen und Frommen zu verwerten.

  4. 4.

    Problematisierungen des Beziehungsbegriffs: Derzeitige Forschungstendenzen können beispielhaft durch die groß angelegte britische EPPE-Studie („Effective Preschool and Primary Education“) zur Wirksamkeit frühkindlicher Bildung illustriert werden. Die Forschergruppe um Sylva (2010) betont eine klare Korrelation: Einrichtungen, in denen die Prozessqualität durch eine liebevolle Atmosphäre gekennzeichnet ist, erzielen als Outcome erkennbar höhere Kompetenzzuwächse der ihnen anvertrauten Kinder.

    Solche Forschungsergebnisse überraschen zunächst nicht, ist doch pädagogisches Handeln aus bildungstheoretischer Perspektive immer als „Anregung zu Selbsttätigkeit“ oder als „bisubjektives Handeln“ zu bezeichnen (vgl. Winkler1990; Doerr und Müller2007, S. 10). Bei weiterem Nachdenken aber zeigt sich ein unpräziser, problematischer Wortgebrauch: Wenn von „liebevoller Atmosphäre“ die Rede ist, so kann es um das gehen, was personale Pädagogik nach Nohl und Buber als „Dyade“ zwischen Erzieher und Zögling diskutiert – oder um die Beziehungen in der „Gruppe“. Diese wiederum kann ganz unterschiedlich aufgefasst sein: als Gemeinschaft, als Gesellschaft, als Geselligkeit oder als Kreis, um nur Beispiele in der Tradition der Jugendbewegung oder nach Peter Petersen anzuführen. Es kann, noch anders, um die Beziehungen zwischen Erwachsenen gehen, um das Verhältnis der Erwachsenen zu dieser Gruppe, oder gar, mit Jean Jacques Rousseau, um die Nicht-Beziehung bzw. um die indirekte Beziehung über die Gestaltung entgegenkommender Orte, Räume und Plätze („negative Erziehung“). Auch kann, mit Spranger oder Bollnow (1964), die auffordernde, aufrüttelnde „Begegnung“ eines erwachsenen Menschen mit einem jungen Menschen gemeint sein. Schon in diesen Beispielen entfaltet sich eine ganze Forschungs- und Theorietradition, die völlig unbeleuchtet bleibt, wenn in aktuellen Untersuchungen, scheinbar eindeutig, von „liebevoller Atmosphäre“ als wesentlichem Moment der Prozessqualität die Rede ist.

  5. 5.

    Ethischer Eigenwert von Pädagogik – Das Problem der Machtausübung: Klassische personale Pädagogik wusste noch darum, dass Sinn und Zweck (sozial-)pädagogischen Tuns zuerst in der letztlich selbstbestimmten Entwicklung der anvertrauten Person liegen. In der übergreifenden Qualitätsdiskussion aber verschieben sich Überlegungen gemäß impliziten Vorgaben politischer Globalsteuerung. Jetzt steht die Frage im Mittelpunkt, wie Erziehung und Unterrichtung, Beratung und Hilfe die Mitwirkung von Adressaten zu externen Zwecken bewirken kann.

Zwar wusste auch schon personale Pädagogik, dass Beziehungsgestaltung als Erziehungsmittel immer auch eine instrumentale Strategie der Leitung von Menschen bzw. eine attraktive Vermeidungsstrategie einer zu offen zur Schau getragenen Machtausübung ist. Dieses gilt derzeit erst recht. Einerseits ist im aktivierenden Sozialstaat, viel mehr als in älteren Konzepten des aktiven Sozialstaates, die kompetent zu „befriedigender Lebensführung“ genutzte Freiheit des Subjektes zur Zielperspektive geworden. Andererseits ist den LernerInnen, den KlientInnen der Zwang zur „kompetenten“ Gestaltung des eigenen Lebens schon durch das Globalziel einer alles übergreifenden Employability via Kompetenzentfaltung vorgeschrieben. Auf dieses Ziel hin verpflichtet politische Globalsteuerung auch alle Organisationen von Bildung, Erziehung und Sozialem. Damit kommt es jedoch zu einer gegenüber den Diskussionsergebnissen der tradierten systematischen (sozial-)pädagogischen Theoriedebatte bemerkenswerten Verengung des Diskurses. Der Fokus wird auf den Einsatz von Beziehungen als Mittel der Macht zur Durchsetzung strategischer Machtziele eingestellt. Jetzt geht es darum, dass Gestaltungsweisen von Beziehung als Prozessqualität unter dem Aspekt der Effizienz mit Blick auf extern vorgegebene, nicht (sozial-)pädagogisch reflektierte Ziele beurteilt werden.

Bemerkenswert dabei ist nach Uhle (1997), dass durch den Einsatz der Strategie „Beziehung“ die ausgeübte Macht gerade nicht zu einem offenen Gewaltverhältnis wird. Vielmehr wird sie subtil zur „Neutralisierung des Willens“ von anderen verwendet. Luhmann (1975) bestimmt „Macht“ als Begrenzung von Handlungsspielräumen, um gemeinsames Handeln von Menschen zu ermöglichen, erst so werde die Möglichkeit ihrer gemeinsamen Kooperation wahrscheinlicher. Macht als Einflussmacht ermöglicht demnach Vorwegverständigungen selbstständiger Menschen über eine kontingente Welt. Das Verführerische, sozial Relevante an solcher Einflussmacht ist, dass sie ohne Verwendung von rigiden Macht- und Zwangsmitteln auskommt. Wenn zudem über die Funktion der Kontingenzbewältigung hinaus Qualitätsfragen gestellt werden, muss nach Luhmann die Frage der Schädigungsfähigkeit von Macht durch Machthaber gestellt werden. Auf diese Funktion von Macht aber, inklusive der weitergehenden Qualitätsfrage, hebt die heutige Semantik von Nähe und Distanz ab:

Beziehungen zu gestalten heißt zwar, Einflussmacht bei anderen gewinnen zu wollen. Es heißt aber nicht, deren Widerstreben durch eine Macht der Bekämpfung zu brechen. Vielmehr geht es um eine werbende Einflussnahme. Soft technologies wie der Einsatz von Zuneigung und Nähe als Erziehungsmittel stellen die kulturelle Konvention in Rechnung, dass die Selbstbestimmungsansprüche von anderen nicht verletzt werden. Trotzdem oder gerade deshalb verspricht ihr Einsatz einigen Gewinn: Letztendlich geht es hier darum, das LernerInnen und KlientInnen das tun wollen, was sie tun sollen (vgl. Uhle1997).

Im Rahmen solcher funktionalistischer Begrenzung bleiben heutige Diskussionen um Beziehung als Mittel zur Herstellung von Prozessqualität, ebenso wie Aus- und Weiterbildungskonzepte zu Beziehungskompetenzen professioneller (sozial-)pädagogischer Fachkräfte, weit hinter schon erreichten Diskussionsbeständen systematischer Pädagogik zurück. Denn dort wurde längst etwa von Buber der (sozial-)pädagogisch relevante Gegensatz des abzulehnenden Anfassens gegenüber dem zulässigen Umfassen thematisiert. Und selbst wenn, wie etwa durch den ganz anders argumentierenden Spranger, offensiv die Einflussmacht von Pädagogik legitimiert wurde, so ging es doch immer um eine Macht, die aus der kulturellen Eigenständigkeit und Selbstbedeutsamkeit des pädagogischen Bereichs resultierte, nicht aber aus seiner sozioökonomischen Funktionalität (Uhle und Gaus2009, S. 30 ff.).

Zusammengefasst: Ergibt sich das Bildungssystem dem derzeit vorherrschenden Qualitätsdiskurs ohne das Bemühen um eine eigene fachspezifische Reflexionsebene, so unterwirft es sich fremden Zielsetzungen und Legitimationen. Wird die Gestaltung (sozial-)pädagogischer Beziehungen nur mit einem aus der Ökonomie stammenden Begriff der Prozessqualität diskutiert, so werden Fragen von „Beziehung“ nur mehr als Fragen nach effizienten Mitteln zur Erhöhung von Outcomes diskutiert.

Insofern ist es mehr als ein semantisches oder definitorisches Problem, wenn Fragen der Nähe-Regulation aktuell mit fachfremden Begriffen wie „Prozessqualität“ belegt werden. Outputorientierte Steuerungsmodelle kommen im Bildungssystem an ihre Grenzen, denn sie fokussieren Personen, Individuen oder Subjekte wenn überhaupt eher marginal und immer im Kontext der gemeinsamen Zielerreichung von Systemleistungen. Im (sozial-)pädagogischen Bereich hingegen geht es eben nicht nur um solche Outcome-Ziele, wie sie sich aus den Umwelt-Relationen des Bildungs- und Sozialsystems primär zum wirtschaftlichen und politischen System ergeben. Es ist zwar auch, aber bei weitem nicht nur deren Aufgabe und Funktion, Stratifizierungs-, Berechtigungs-, Allokations- und Integrationsfunktionen zu erfüllen. Es ist jedoch primär ihre Aufgabe, einem Bildungssinn im klassischen Sinne des Wortes zu entsprechen. Damit aber sind Liebe, Nähe, Vertrautheit nicht nur Mittel, sondern immer auch normative Ziele zur Entwicklung von Ich-Stärke, Autonomie und Bildungsfähigkeit. Insofern sei hier dafür plädiert, in Zeiten eines überbordenden Qualitätsdiskurses an einem disziplinär wie professionell verorteten Begriff einer spezifisch pädagogischen Beziehungsqualität weiterzuarbeiten.