1 Einleitung

Während schuldfähige Straftäter ihre Haftstrafen in Gefängnissen verbüßen, werden schuldunfähige und gemindert schuldfähige Straftäter (derzeit knapp 11.000 Menschen bundesweit) zur „Besserung und Sicherung“ im sogenannten Maßregelvollzug (MRV) untergebracht (DESTATIS 2015b). Der MaßregelvollzugFootnote 1 ist eine heikle Staatsaufgabe: Zum einen geht er für die Untergebrachten mit längeren Verweildauern und stärkeren Grundrechtseingriffen einher als der Strafvollzug in Haftanstalten. Zum anderen hat die Bevölkerung ein Interesse an einer effektiven Sicherung der häufig gefährlichen Straftäter. Die hochgesicherten forensischen Kliniken und (in geringerer Zahl) Entzugsanstalten, in denen der Maßregelvollzug durchgeführt wird (Kammeier 2010; Stolpmann 2010; Töller und Dittrich 2011), wurden bis Anfang der 2000er-Jahre durch die Länder betrieben. Seither jedoch sind sie in einer Reihe von Ländern privatisiert worden (siehe Tab. 1), während der Strafvollzug in Haftanstalten nach wie vor als nicht privatisierbarer Kernbestand staatlicher Aufgaben gilt (Burgi 2008, S. 65; Dessecker 2008, S. 18; Pollähne 2008, S. 153). Wesentliches Argument für die Privatisierbarkeit des Maßregelvollzugs war meist die weitere organisatorische, bauliche und insbesondere fachliche Anbindung der Forensik an die Allgemeinpsychiatrie, die ebenfalls privatisiert wurde. Bedenken gegen die Privatisierung des MRV begründeten sich aus juristischer Sicht aus dem Funktionsvorbehalt des Grundgesetzes (Art. 33 Abs. 4 GG), weil hier nun Kräfte, die nicht Beamte sind, Zwang ausüben und auf andere Weise in Grundrechte der Untergebrachten eingreifen dürfen (Grünebaum 2012). Aus einer weiteren gesellschaftspolitischen Perspektive stellt sich insbesondere die Frage, ob hierfür erwerbswirtschaftlich orientierte Träger geeignet sind (Grünebaum 2012, S. 127; vgl. Würtenberger 2012, S. 30). Diese Frage warf auch das Bundesverfassungsgericht auf, als es 2012 zu entscheiden hatte, ob die in Hessen erfolgte Privatisierung des Maßregelvollzugs verfassungsgemäß ist (2 BvR 133/10, siehe z. B. Broß 2007; Willenbruch und Bischoff 2006; Grünebaum 2012).Footnote 2 Wir befassen uns in diesem Beitrag nicht mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit, sondern gehen vielmehr der Frage nach, wie es möglich war, dass eine solche Aufgabe überhaupt privatisiert wurde – welches also die Ursachen der Privatisierung des Maßregelvollzugs sind.

In der Literatur über den Maßregelvollzug wird dessen Privatisierung häufig mit der enormen Entwicklungsdynamik in diesem Bereich im Laufe der vergangenen 20 Jahre erklärt. So hat sich die Zahl der Untergebrachten seit Mitte der 1990er-Jahre mehr als verdoppelt. Damit sind die Kosten für die Länder gestiegen, während eine zunehmende öffentliche Sensibilisierung gegenüber Einrichtungen des Maßregelvollzugs im gleichen Zeitraum dazu führte, dass der Ausbau bestehender und der Bau neuer Kliniken zunehmend schwierig durchzusetzen waren und sind. Insofern wird die Privatisierungswelle, die diesen Bereich in den letzten 15 Jahren ergriffen hat, häufig als Antwort auf diesen „Problemdruck“ interpretiert: weil Private die quantitativ wachsende und zunehmend schwierige Aufgabe „billiger, schneller und besser“ erledigten (Barisch 2010, S. 19) und über mehr Investitionskapital für den erforderlichen Aus- und Zubau verfügten, sei eben privatisiert worden (PWC 2005, S. 8; Willenbruch und Bischoff 2006; Kammeier 2007, S. 87; Schott 2007; Strohm 2008). Diese funktionalistische Annahme halten wir aus der Perspektive der Staatstätigkeitsforschung für überprüfungsbedürftig (siehe auch Töller und Dittrich 2011).

Aus dieser Perspektive wäre es sinnvoll und notwendig, den Einfluss verschiedener Kausalfaktoren aus dem Repertoire der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung auf die Privatisierungsentscheidungen zu überprüfen. Dabei wäre (in Anlehnung an die sozioökonomische Schule) der Problemdruck im Sinne der zunehmenden Anzahl der Untergebrachten eine zu überprüfende Ursache. Aber der „Problemdruck“ müsste aus unserer Sicht weiter gefasst werden und auch die Investitionssituation der (Landes-) Kliniken (Bruckenberger 2005) und den Anteil der Landeskliniken am Krankenhaussektor des jeweiligen Landes (DESTATIS 2000) berücksichtigen. Überdies müsste der Einfluss von Institutionen und institutionellen Rahmenbedingungen (Peters 2012) untersucht werden. Wir sehen hier zwei relevante institutionelle Konstellationen: dies ist zum einen die Trägerschaft des Maßregelvollzugs in den Ländern. Eine zweite Konstellation stellen die Politiken der Länder zur Haushaltskonsolidierung dar (siehe Wagschal et al. 2009). Schließlich müsste auch die politische Ausrichtung der jeweiligen Landesregierung (Parteiendifferenzhypothese, Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 609; Belke et al. 2007; Obinger et al. 2014) als übliche Verdächtige der Staatstätigkeitsforschung überprüft werden.

Weil es einerseits die Fallzahl von 15 BundesländernFootnote 3 nicht erlaubt, eine Regressionsanalyse durchzuführen, wie dies in Untersuchungen zu den Ursachen von Privatisierungspolitiken üblich ist (z. B. Boix 1997; Zohlnhöfer und Obinger 2005; Obinger et al. 2014; Belke et al. 2007), andererseits aber das Vorgehen mit qualitativ-vergleichenden Fallstudien unübersichtlich wird, empfiehlt sich diese Konstellation zwischen kleinem und großem n für die Durchführung einer QCA (qualitative comparative analysis, Ragin 1987). Mit Hilfe der QCA ist es möglich, notwendige und hinreichende Bedingungen zu identifizieren, die zu einem bestimmten Politikergebnis (hier: Privatisierung des Maßregelvollzugs) führen. Gerade weil die QCA es für Studien mit mittleren Fallzahlen ermöglicht, mittels ihrer konfigurativen Logik über (vergleichende) Fallstudien hinauszugehen, ist sie in der Politikfeldanalyse und Staatstätigkeitsforschung in den letzten Jahren zunehmend und mit Erfolg angewendet worden (Rihoux et al. 2011).

Die wissenschaftliche Relevanz dieses Beitrags ergibt sich aus drei Aspekten, die inhaltlicher, theoretischer und methodischer Natur sind. Erstens: Eine Analyse der Privatisierung des Maßregelvollzugs ist vor dem Hintergrund einer durchaus etablierten Landschaft von Privatisierungsstudien (z. B. Boix 1997; Fink und Schneider 2004, S. 228; Zohlnhöfer und Obinger 2005; Sack 2006, 2015; Obinger et al. 2014) inhaltlich nicht „more of the same thing“. Vielmehr ist hier – erstmals jedenfalls in Deutschland – fundamental Anderes privatisiert worden als Elektrizitätsversorgung, Abfallentsorgung oder Telekommunikation. Zweitens: Die systematische Anwendung der Theorien der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung auf die Policies der deutschen Bundesländer ist trotz der Pionierarbeit von M.G. Schmidt von 1980 immer noch wenig erfolgt und blieb zumeist auf x‑zentrierte Studien zum Einfluss der Parteipolitik begrenzt (siehe z. B. Seeger 2003; Payk 2009; Hildebrandt und Wolf 2008 und Turner 2011). Drittens: Die Anwendung der QCA ist zwar in der Politikfeldanalyse seit spätestens 2006 fest etabliert, die vorliegenden Studien befassen sich aber insbesondere mit sozialpolitischen sowie umweltpolitischen Fragen (Rihoux et al. 2011, S. 18 ff.). Die Erklärung von Unterschieden in der Privatisierungspolitik war bislang noch nicht Gegenstand von QCAs; diese Politik wurde bislang überwiegend mit Hilfe quantitativer Verfahren analysiert (z. B. Boix 1997; Zohlnhöfer und Obinger 2005). Die Ergebnisse solcher Arbeiten könnten durch den Einsatz von QCA in vielen Bereichen sinnvoll ergänzt werden, nicht nur aufgrund des je nach Untersuchungsgegenstand bestehenden small n‑Problems, sondern auch, weil QCA (im Gegensatz zu quantitativen Verfahren) sensibel für Kombinationen kausaler Bedingungen sind. Nach der Bestandsaufnahme von Rihoux et al. (2011, S. 60–82) dürfte die vorliegende Untersuchung eine der ersten sein, die eine QCA zur Erforschung von Privatisierungsursachen anwendet (siehe auch Sack 2015).

In unserem Beitrag gehen wir folgendermaßen vor: In einem ersten Schritt stellen wir unser Forschungsdesign vor, in dem die Methode der multi-value QCA (mvQCA, vgl. Cronqvist 2005; Cronqvist und Berg-Schlosser 2009) eine zentrale Rolle spielt (Abschn. 2). Sodann präsentieren, diskutieren und kalibrieren wir das zu erklärende Ergebnis – den sogennannten Outcome –, nämlich die Situation von Privatisierung und Nichtprivatisierung des Maßregelvollzugs in den deutschen Bundesländern (Abschn. 3). In einem dritten Schritt (Abschn. 4) präsentieren, diskutieren und kalibrieren wir mögliche Faktoren für die Privatisierung als Bedingungen zur Erklärung des Outcomes: Problemdruck im Hinblick auf den Maßregelvollzug (Abschn. 4.1) zunächst in Form der Prävalenzraten (Anzahl der Untergebrachten pro Einwohner), aber auch weiter gefasst als Investitionsstau im Krankenhaussektor und der relativen Größe des Landesklinik-Komplexes in einem Bundesland; des Weiteren die institutionellen Rahmenbedingungen in Form der Trägerstruktur und der Bedeutung der Haushaltskonsolidierung (Abschn. 4.2); und die Parteiendifferenz (Abschn. 4.3). In einem nächsten Schritt (Abschn. 5) stellen wir zunächst die Ausgangsdaten vor (Abschn. 5.1), dann führen wir die QCA durch, präsentieren unsere Resultate und diskutieren diese Resultate im Lichte der Fälle (Abschn. 5.2). Abschn. 6 resümiert.

2 Das Forschungsdesign

Ziel dieses Beitrags ist die systematische Überprüfung unterschiedlicher Faktoren dahingehend, ob diese (einzeln oder in Kombination) die Privatisierung bzw. Nichtprivatisierung des Maßregelvollzugs (im Folgenden MRV) in den Bundesländern erklären können. Unsere Ausgangsvermutung lautet: Die Privatisierung des MRVs stellt weder nur eine Antwort auf zunehmende Prävalenzraten im MRV dar, noch ist sie durch die in der Privatisierungsliteratur umstrittene Parteiendifferenzhypothese zu erklären. Vielmehr erwarten wir, dass die Privatisierung des MRVs das Ergebnis fiskalischer Überlegungen im Hinblick auf die Landeskliniken ist.

Wir werden im Folgenden die unterschiedlichen möglichen Erklärungsfaktoren aus der Literatur zu den Ansätzen der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, der Privatisierungsforschung sowie der Literatur zum MRV und zur Krankenhauspolitik entwickeln und für die Anwendung in einer QCA kalibrieren. Für die Durchführung einer QCA bedarf es zunächst eines dichotomen Outcomes, also z. B. eines konkreten Politikergebnisses wie die Privatisierung des MRV, das entweder vorliegt oder nicht vorliegt. Diese Bedingung ist mit 15 Ländern, die den MRV entweder funktional privatisiert haben oder nicht, grundsätzlich gegeben. Doch ist die notwendige Dichotomisierung des Outcomes „Privatisierung des MRV“ aufgrund der Komplexität der unterschiedlichen rechtlichen Umsetzungsformen nicht trivial. Insbesondere diese Analysen, aber auch unsere weiteren Überlegungen zu möglichen notwendigen und hinreichenden Bedingungen und den kausalen Mechanismen stützen wir auf umfangreiches Quellenstudium zu den politischen Prozessen in 15 Bundesländern sowie auf 11 Expertenbefragungen.Footnote 4

Der Vorteil einer klassischen, nur mit dichotomen Ausprägungen durchgeführten QCA besteht in der eindeutigen deterministischen Logik von unterschiedlichen Kombinationen aus notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die das Eintreffen eines bestimmten Ereignisses erklären können (vgl. Ragin 1987). Insbesondere zur Überprüfung unserer zentralen Hypothese, wonach von einer Kombination unterschiedlicher Wirkungsfaktoren ausgegangen werden muss, eignet sich die Boolsche Logik der QCA. Für die Kalibrierung der sechs Bedingungen müsste daher bei Indexwerten oder metrischen Bedingungen die Dichotomisierung idealerweise auf Basis inhaltlich-theoretisch begründeter Grenzwerte durchgeführt werden (vgl. Schneider und Wagemann 2007, S. 174). Doch scheint das bei den von uns gewählten Faktoren nicht immer möglich zu sein. Aus diesem Grund greifen wir bei der Anwendung auf die mvQCA zurück, bei der für ordinale oder metrische Bedingungen auf Basis der empirischen Verteilung der Werte ein oder mehrere Grenzwert(e) ermittelt und so möglichst homogene Gruppen gebildet werden (Cronqvist 2005, 2007; Cronqvist und Berg-Schlosser 2009). Das Verfahren kann dann analog zu einer QCA nur auf Basis von wenigen Kategorien pro Bedingung durchgeführt werden.

Demgegenüber wird von Befürwortern der fuzzy set QCA (fsQCA) argumentiert, dass bei einer Nicht-Eindeutigkeit der Ergebnisse eine QCA mit Hilfe von nicht-deterministischen Kausalaussagen zum besseren Verständnis der Realität beitrage, die sich häufig einer rein dichotomen Logik entziehe (vgl. Schneider und Wagemann 2007, S. 174 ff.). Der Nachteil liegt aber darin, dass die Übertragung von Indexwerten in Wahrscheinlichkeiten des Eintreffens oder Nichteintreffens eines Ereignisses ebenfalls mit starken Annahmen verbunden ist. Entscheidend für unsere Argumentation zu Gunsten einer mvQCA ist jedoch, dass auch bei einer fsQCA die Festlegung von Schwellenwerten notwendig ist, das Problem der Setzung von Grenzwerten damit also nicht gelöst bzw. sogar potenziert wird (vgl. Lauth et al. 2015, S. 134). Bei der uns vorliegenden Datenstruktur ist bei einigen Bedingungen aber eben dies auf inhaltlich-theoretischer Grundlage nicht möglich, weshalb das Arbeiten mit empirisch gebildeten Kategorien sich ähnelnder Fälle pro Bedingung in einer mvQCA zu bevorzugen ist (vgl. Abschnitt 5.1).

3 Der Outcome: Privatisierung und Nichtprivatisierung des Maßregelvollzugs in den Bundesländern

Im Folgenden wird der Outcome unserer Untersuchung, die Situation von Privatisierung und Nicht-Privatisierung des MRVs in den Bundesländern, dargestellt. Dazu skizzieren wir zuerst kurz die Privatisierungsentwicklung im Zeitverlauf der letzten 16 Jahre, um einen Eindruck von Zeit und Raum in dieser Thematik zu vermitteln (Abschn. 3.1). Zweitens ordnen wir die sich ergebenden empirischen Befunde in die gängigen Privatisierungstypologien ein (Abschn. 3.2). Und drittens begründen und präsentieren wir unsere Kalibrierung für die QCA (Abschn. 3.3).

3.1 Privatisierung des Maßregelvollzugs in Zeit und Raum

Der Startschuss für die Privatisierung des MRVs fiel im Jahr 2000, als Sachsen-Anhalt die zwei MRV-Kliniken des Landes in private Rechtsform (Salus gGmbH) umwandelte. 2002 verkaufte Thüringen seine drei MRV-Einrichtungen an private und frei-gemeinnützige Träger (Pollähne 2008, S. 146). In Bremen wurde 2004 die MRV-Einrichtung in eine gGmbH umgewandelt. Im selben Jahr wechselten in Mecklenburg-Vorpommern zwei von drei MRV-Kliniken den Träger (vgl. Pollähne 2008, S. 146). Schleswig-Holstein verkaufte zum 1. Januar 2005 seine zwei MRV-Klinken an private Betreiber (Pollähne 2008, S. 146). In Hamburg veräußerte der Senat 2005 im Zuge des Verkaufs des Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK) an Asklepios auch den MRV in Ochsenzoll „mit“, obwohl die Justizbehörde Bedenken hatte. In Bayern entschied sich 2005 die Landesregierung aufgrund des Widerstands der Bezirke, die Träger des MRV sind, nach einem Gutachten der Unternehmensberatung PriceWaterhouseCoopers gegen eine Privatisierung (PWC 2005), allerdings erhielten die Bezirke die Möglichkeit, ihre MRV-Einrichtungen formell zu privatisieren. In Brandenburg wurden die MRV-Einrichtungen 2006 verkauft (Pollähne 2008, S. 146). In Hessen wurden 2007 die Maßregelvollzugseinrichtungen in eine gGmbH (Vitos) umgewandelt, die eine 100 %ige Tochter des Landeswohlfahrtsverbandes (Träger des MRV) ist. Im Frühjahr 2007 verkaufte das Land Niedersachsen nach Änderung der gesetzlichen Grundlagen acht von zehn Landeskrankenhäusern für insgesamt 107 Mio. Euro an sieben verschiedene, überwiegend privatwirtschaftliche Träger. Ende 2008 entschied der Niedersächsische Staatsgerichtshof, den die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die GRÜNEN im niedersächsischen Landtag angerufen hatten, dass das Privatisierungsgesetz zu einer Einschränkung des Demokratieprinzips führe (Niedersächsischer Staatsgerichtshof 2008). Daraufhin änderte der Landtag das MRV-Gesetz im Juni 2010.Footnote 5 Im Januar 2012 entschied, wie eingangs erwähnt, das Bundesverfassungsgericht, dass jedenfalls die Regelung in Hessen verfassungsgemäß sei (2 BvR 133/10).

Dabei wurde in allen Fällen, in denen es zur Privatisierung kam, der MRV nicht isoliert, sondern vielmehr als „Anhängsel“ der jeweiligen Landesklink (im Hamburger Fall des LBK) privatisiert (vgl. Volckart und Grünebaum 2009; Kammeiner 2010; Töller und Dittrich 2011, S. 198). Bei durchaus unterschiedlichem Bewusstsein für die Schwierigkeiten einer „Mitprivatisierung“ des MRVs war das Argument in der Regel, der MRV müsse baulich, personell und insbesondere fachlich an die Allgemeinpsychiatrie angebunden bleiben (z. B. Thüringen PlPr 3/55, S. 4716). Unser Outcome ist aber explizit die Privatisierung des MRVs, denn diese hat aufgrund der oben angedeuteten Sensibilität dieser Staatsaufgabe eine andere Qualität als die Privatisierung der Landeskliniken insgesamt.

3.2 Privatisierungstypen

Zwar dürfte der Befund der Privatisierung des MRVs nach diesem Überblick unstrittig sein (z. B. auch PWC 2005, S. 86 ff.; Pollähne 2008; Kammeier 2010, Rn. A 75 ff.; BVerfG 133/10), aber eine Strukturierung dieser empirischen Befunde mit Hilfe der gängigen Privatisierungstypologien (z. B. Maurer 2009; Grünebaum 2012, S. 121) erweist sich als sperrig, auch deshalb, weil es nicht nur Varianz zwischen den, sondern auch innerhalb der Bundesländer gibt. Es gibt, wie bereits deutlich geworden ist, in diesem Feld zwei Privatisierungsformen. Die erste Form, die wir in Sachsen-Anhalt, Bremen und Hessen vorfinden, ist leicht dem Typus der formellen Privatisierung oder Organisationsprivatisierung zuzuordnen: Krankenhäuser wandeln sich in private Rechtsformen (meist gGmbH) um, verbleiben aber in öffentlichem Besitz, der MRV bleibt damit in öffentlicher Hand. Schwieriger zuzuordnen ist die zweite Privatisierungsform. Auch wenn sich hier das Land aus der Betreibung der Kliniken zurückzieht und die Einrichtungen als solche verkauft, gilt die eigentliche Aufgabe des MRV als nicht privatisierbar (Scherer 2007, S. 618; Pollähne 2008, S. 152), sondern nur deren Durchführung, und zwar durch Beleihung (Pollähne 2008, S. 152). Das heißt, der Staat bleibt in der „Erfüllungsverantwortung“, und auch verfassungsrechtliche Bindungen, z. B. an die Grundrechte, bleiben bestehen (Burgi 2008, S. 59; Schmidt am Busch 2007). Wir verwenden hierfür den Begriff der funktionalen Privatisierung in dem üblichen Sinne, dass eine Aufgabe beim Staat verbleibt, an ihrer Erfüllung aber Private beteiligt werden (Maurer 2009, S. 5; Grünebaum 2012, S. 121). Wir unterscheiden also eine nur formelle von einer funktionalen Privatisierung im Sinne der Übernahme der Durchführung des MRV durch Private.

Allerdings sind sowohl hinsichtlich der Typologie (Idealtypen) als auch hinsichtlich ihrer Anwendung auf den Einzelfall (Realtypen) einige Differenzierungen erforderlich. Erstens findet eine Übertragung des MRV nicht nur auf privatwirtschaftliche, sondern auch auf frei-gemeinnützige Träger statt (Pollähne 2008, S. 147). Zweitens stimmt die in den Ländern vorfindbare Realität nie vollständig mit diesen Idealtypen überein. Hier ist die gesetzliche Ebene, auf der eine Privatisierung des MRV durch Beleihung vorgesehen sein muss, zu unterscheiden von der Ebene der konkreten Kliniken. Die rechtliche Möglichkeit, MRV-Einrichtungen an nicht-staatliche Träger zu übertragen, besteht inzwischen in 15 von 16 Bundesländern (Volckart und Grünebaum 2009, S. 299; Baur 2010, Rn. C 61). Erst wenn mehrere Einrichtungen, deren Träger zuvor das Land war, tatsächlich an einen privaten Betreiber verkauft werden und dieser Betreiber durch einen Beleihungsvertrag die Durchführung des MRV übertragen bekommt, liegt eine funktionale Privatisierung im hier verstandenen Sinne vor.Footnote 6

Damit gehören Thüringen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Brandenburg und Niedersachsen zu den funktionalen Privatisierern, Sachsen-Anhalt, Bremen und Hessen zu den formellen Privatisierern. Bayern, NRW, Berlin, Sachsen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland sind hingegen (bislang) Nicht-Privatisierer. Nur Mecklenburg-Vorpommern ist nicht ohne weiteres in diese Kategorien zu fassen. Denn nur hier wurde der MRV niemals in Landeskliniken ausgeführt. Eine der drei MRV-Kliniken gehörte und gehört auch heute noch zur Universität Rostock. Eine Klinik (Stralsund) war vormals in kommunaler Hand und wurde 2004 an einen privaten Träger veräußert. Und eine dritte Klinik (Ueckermünde) wurde bereits in den 1990er-Jahren in nicht-staatlicher, frei-gemeinnütziger Trägerschaft (Diakonie) gegründet, die 2004 ihre Anteile an einen privaten Träger verkaufte. Damit haben wir es heute zwar mit einem überwiegend von privaten Trägern wahrgenommenem, aber nicht mit einem privatisierten (doch auch nicht mit einem nach wie vor öffentlichen) MRV zu tun, weshalb wir Mecklenburg-Vorpommern aus unserer Studie ausschließen müssen.

3.3 Kalibrierung für die QCA

Es bestehen zwei Möglichkeiten, um diese Dreier-Typologie für eine QCA zu dichotomisieren. Entweder, wir fassen alle Privatisierungsformen (nur-formell und funktional) unter die Privatisierer und unterscheiden diese von den Nicht-Privatisierern. Oder wir verstehen nur die funktionalen Privatisierer als (wirkliche) Privatisierer. Wir haben uns für die zweite Option entschieden.

Entscheidend hierfür war die Frage, was die Privatisierung im Ergebnis bedeutet und welche Probleme sie aufwerfen kann. Im Fall der oben angesprochenen Verhandlung vor dem Verfassungsgericht hatte der Beschwerdeführer seine Klage damit begründet, dass in Hessen Mitarbeiter der Vitos gGmbH, deren Träger der Landeswohlfahrtsverband ist, in seine Grundrechte eingegriffen hätten. Grundrechtseingriffe dürften nach dem Funktionsvorbehalt des Grundgesetzes (Art. 33 Abs. 4 GG) aber grundsätzlich nur durch Beamte vorgenommen werden (Grünebaum 2012). Dieses Argument würde für formell und funktional privatisierten MRV gleichermaßen gelten und spräche dafür, beide gleich zu behandeln. Diese Diskussion geht aber nach unserer Einschätzung am Problem vorbei. Denn erstens wird der MRV auch in den Bundesländern, in denen er nicht privatisiert wurde, schon länger (je nach Bundesland seit den 1980er oder frühen 1990er-Jahre) nicht mehr bzw. wurde noch nie durch Beamte durchgeführt (siehe auch 2 BvR 133/10, Rn 122 ff.). Und zweitens gibt es eine Reihe anderer Institutionen und Verfahren der Steuerung und KontrolleFootnote 7, die – bei entsprechender Nutzung und Ressourcenausstattung – in der Lage sind, zu gewährleisten, dass Zwangsmaßnahmen im MRV nach fachlichen und rechtsstaatlichen Kriterien erfolgen.

Wir halten einen anderen Punkt für sehr viel wichtiger, auf den auch das Verfassungsgericht, das ja nur über den hessischen Fall zu befinden hatte, eingegangen ist. Dieses Argument ist, dass es einen grundlegenden Unterschied macht, ob der Träger eine staatliche Einrichtung ist, oder ob er eine private gewerbliche Organisation ist, die (wenn auch in unterschiedlichem Maße) auf das Erzielen von Gewinnen ausgerichtet ist. So argumentiert auch das BVerfG:

„Insoweit ist zunächst von Bedeutung, dass die erfolgte Privatisierung der hessischen Maßregelvollzugseinrichtungen nur als eine rein formelle vorgesehen ist. Das Gesetz gewährleistet, dass die der Rechtsform nach privaten Träger der Maßregelvollzugskliniken unmittelbar oder mittelbar vollständig in der Hand eines öffentlichen Trägers, des Landeswohlwohlfahrtsverbandes, bleiben (§ 2 Satz 3 HessMVollzG). Die Träger sind damit von erwerbswirtschaftlichen Motiven und Zwängen freigestellt. Eine Auslieferung der Vollzugsaufgabe an Kräfte und Interessen des privatwirtschaftlichen Wettbewerbs, die, beispielsweise in Bezug auf Verweildauer der Untergebrachten und Senkung von Behandlungs- und Betreuungskosten, den gesetzlichen Vollzugszielen und der Wahrung der Rechte der Untergebrachten systemisch zuwiderlaufen können, findet danach von vornherein nicht statt“ (2 BvR 133/10, Rn 160 bb).

Ob es in den von privaten Firmen betriebenen MRV-Kliniken tatsächlich dazu kommt, dass sich wirtschaftliche Erwägungen auf die Verweildauer der Untergebrachten oder Qualität der Behandlung und Betreuung auswirken, weiß derzeit niemand, denn belastbare Evaluationen hierzu liegen nicht vor (vgl. Töller und Dittrich 2011, S. 199 ff.). Aber dies kann nach breiter Überzeugung derzeit für den funktional privatisierten MRV jedenfalls nicht ausgeschlossen werden (Grünebaum 2012, S. 127; vgl. Würtenberger 2012, S. 30). Demnach liegt der wesentliche Unterschied zwischen öffentlichen und privat-gewinnorientierten Trägern, die wirkliche Privatisierung also dort vorzufinden ist, wo solche Träger mit der Durchführung des MRV betraut sind. Aus den genannten Gründen gelten in unserer Kalibrierung diejenigen Länder, die den MRV nur organisationsprivatisiert haben (Sachsen-Anhalt, Bremen und Hessen), nicht als Privatisierer (PRIV = 0) (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Privatisierer und Nichtprivatisierer des Maßregelvollzugs

4 Die Bedingungen

Unsere Faktoren, die zur Erklärung einer Privatisierung beitragen können, leiten wir aus verschiedenen Theorielinien der Staatstätigkeitsforschung ab. Im Folgenden werden diese entsprechend der Analyselogik der QCA als Bedingungen bezeichnet.

Aus der Perspektive der sozioökonomischen Schule betrachten wir die Prävalenzraten im MRV, die Investitionssituation der (Landes-) Kliniken sowie den Anteil der Landeskliniken am Krankenhaussektor des jeweiligen Landes (Abschn. 4.1). Aus der Perspektive des Neoinstitutionalismus betrachten wir den Einfluss von Institutionen, und zwar zum einen die Trägerschaft des Maßregelvollzugs in den Ländern und zum anderen die übergeordneten Politiken der Länder zur Haushaltskonsolidierung (Abschn. 4.2). Schließlich muss auch die politische Ausrichtung der jeweiligen Landesregierung (Parteiendifferenzhypothese) als übliche Verdächtige der Staatstätigkeitsforschung überprüft werden (Abschn. 4.3).

Entscheidend für unsere Datenerhebung ist die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums. Ausgehend von der Beobachtung, dass die erste Privatisierung 2002 und die bislang letzte 2007 erfolgte, konzentrieren wir uns für die Bedingungen auf das Zeitfenster von 2001 bis 2006. Unsere Prämisse hierbei ist, dass ein Wirkungsfaktor, wie z. B. die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung, zumindest ein Jahr vor einer Maßnahme bestanden haben sollte. Allerdings gibt es einige Abweichungen von diesem Prinzip: Im Fall der Bedingung Prävalenzrate müssen wir Daten von 2006 heranziehen, weil es andere nicht gibt (Abschn. 4.1). Bei den Ländern, die nicht privatisiert haben, muss die Parteiendifferenz über den ganzen Zeitraum 2001–2006 betrachtet werden, während wir bei den Ländern, die privatisiert haben, bei der Parteiendifferenz nur die Jahre vor der Maßnahme erheben, da andernfalls ggf. nach der Privatisierung erfolgte Regierungswechsel, die ja keinen kausalen Effekt mehr haben können, zu einer Verzerrung der Daten führen würden (Abschn. 4.3). Der Indikator für den Investitionsstau ist dagegen für einen langen Zeitraum, nämlich von 1973–2004 berechnet worden (Abschn. 4.2). Beim Anteil der Landeskliniken am Krankenhaussektor insgesamt erschien es uns sinnvoll, die Daten zu einem Zeitpunkt vor der Privatisierungswelle zu erheben, also haben wir das Jahr 2000 herangezogen (Abschn. 4.1).

4.1 Sozioökonomische Schule: Problemdruck

Die sozioökonomische Schule der Staatstätigkeitsforschung geht davon aus, dass wirtschaftliche und soziale Problemlagen staatliches Handeln erfordern und dabei wenig Spielraum lassen, wie gehandelt wird (z. B. Zöllner 1963). In der heutigen Staatstätigkeitsforschung hat dieser Ansatz einen wichtigen Platz, aber man nimmt inzwischen an, dass bestimmte Problemlagen zwar wichtige Anstöße für staatliches Handeln geben, dieses jedoch keinesfalls determinieren (Schmidt und Ostheim 2007, S. 35–38; Zohlnhöfer 2008, S. 158). Dabei ist die Identifizierung von „Problemdruck“ ein entscheidender Schritt (Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 608). In der Literatur zum Maßregelvollzug finden sich häufig die eher implizite, alltagstheoretisch inspirierte Annahme, dass der MRV vor allem privatisiert wurde, um angesichts der steigenden Zahl der Untergebrachten und der daraus folgenden Überbelegung der Einrichtungen leichteren Zugang zu Investitionskapital für den Ausbau bestehender und die Errichtung neuer Einrichtungen zu erhalten. Auch wird die Vermutung geäußert, die Privatisierung sei erfolgt, weil man angesichts des Kostendrucks in diesem Bereich von den privaten Betreibern eine effizientere Erledigung der Aufgabe erwarte (z. B. PWC 2005, S. 8; Willenbruch und Bischoff 2006; Kammeier 2007, S. 87, 2010, Rn. A 77; Barisch 2010, S. 19; kritisch: Pollähne 2008, S. 149–150).

4.1.1 Prävalenzraten

Auch wenn die Problematik des MRVs in ihrer Komplexität nur bedingt durch quantitative Parameter abzubilden ist, kann man den massiven Anstieg der nach § 63 StGB im MRV Untergebrachten (z. B. von 2724 im Jahr 1994 auf 6287 in 2008, Kammeier 2010, Rn. A69) als einen wesentlichen Kern des Problems bezeichnen. Diese steigende Anzahl der Untergebrachten lässt sich auch in einer steigenden Prävalenzrate (Anzahl der Untergebrachten pro 100.000 Einwohner) ausdrücken, die bundesweit von 3,9 in 1994 auf 9,1 in 2008 stieg (Kammeier 2010, Rn. A 69), wobei zwischen den Bundesländern gravierende Unterschiede bestehen (siehe Traub und Weithmann 2008, S. 596.).Footnote 8 Die gestiegene Prävalenzrate ist das Resultat eines Anstiegs der nach § 63 StGB Abgeurteilten (1994 waren dies bundesweit 551 Personen, 2007 waren es 1023 Personen, Kammeier 2010, Rn. A 68) und einer restriktiveren Entlassungspraxis durch die Strafvollstreckungskammern (Kammeier 2010, Rn. A 69), womit die Verweildauern der einmal Untergebrachten anstiegen.

Für uns stellt die Prävalenzrate einen geeigneten Indikator für den „Problemdruck“ im MRV dar. Hohe Prävalenzraten produzieren für die Länder zum einen hohe laufende Kosten, zum anderen erfordern sie organisatorische und finanzielle Anstrengungen, um die große Anzahl an Personen entsprechend gesichert und qualifiziert betreut unterzubringen. Wir greifen hier auf die Prävalenzrate von 2006 zurück, weil es für frühere Jahre keine Daten für alle Bundesländer gibt. Auch für 2006 gibt es nicht einen Datensatz für alle Länder, sondern vielmehr zwei Datensätze, einmal den sogenannten Kerndatensatz (alle Länder außer Bayern und Baden-Württemberg seit 2006, Jaschke und Oliva 2010) und einmal Erhebungen des Statistischen Bundesamts (alle westdeutschen Länder für alle Jahre, DESTATIS 2007); aus beiden haben wir (z. T. nach Rücksprache mit den statistischen Landesämtern) die Datenreihe zusammengestellt (siehe Tab. 2, Spalte 1). Falls der „Problemdruck“ in Form von Prävelanzraten als Bedingung auf den Outcome wirkt, sollten hohe Prävalenzraten eine Privatisierung begünstigen.

Tab. 3 Thresholds für die mvQCA
Tab. 2 Ausprägung der Bedingungen

Allerdings muss der „Problemdruck“ im Maßregelvollzug nach unserer Auffassung breiter definiert werden und den Investitionsstau in den Landeskliniken sowie deren Anteil am Krankenhaussektor insgesamt mit berücksichtigen.

4.1.2 Investitionsstau

Steigende Anzahlen Untergebrachter und hohe Prävalenzraten alleine müssen für die Länder kein Problem darstellen. Problematisch wird die Situation möglicherweise erst dann, wenn die Krankenhäuser strukturell unterfinanziert sind und hohe Zahlen Untergebrachter insbesondere baulich nicht adäquat aufgefangen werden können. Prinzipiell sind die Länder nach § 8 Abs. 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) von 1972 zur Finanzierung aller Krankenhäuser verpflichtet. Sie kommen dieser Verpflichtung jedoch in unterschiedlichem Ausmaß nach. Insbesondere seit 1993 sind die Mittel, die die Länder in die Krankenhäuser stecken, kontinuierlich rückläufig (Bruckenberger 2005, S. 5). In der Diskussion um die Privatisierung von KrankenhäusernFootnote 9 wird das längerfristiges Unterbleiben von Investitionen als Investitionsstau bezeichnet (Bruckenberger 2005, S. 15). Ausgeprägter Investitionsstau wird als starke Motivation zur Privatisierung verstanden, weil der mit der Zeit entstehende Investitionsbedarf so gravierend wird, dass schließlich nur noch privaten Trägern zugetraut wird, das nötige Geld aufzubringen (Bruckenberger 2005, S. 33). Zur Kalibrierung dieses Sachverhalts greifen wir hier einen in der einschlägigen Literatur entwickelten Indikator auf, der das längerfristige Unterbleiben von notwendigen Investitionen in die Krankenhäuser für die einzelnen Länder abbildet. Dieser Investitionsstau gilt für die LandeskrankenhäuserFootnote 10 ebenso wie für andere Kliniken. Die in Tab. 2, Spalte 2, eingetragenen Werte für den Investitionsstau („fiktiver investiver Nachholbedarf […] pro Planbett/Platz von 1973–2004“) wurden von Bruckenberger (2005, S. 20, Abb. 19) ermittelt. Je höher der Wert im negativen Bereich ausfällt, desto größer ist der Investitionsstau. Bei einem positiven Wert kann man von einem Investitionsüberschuss sprechen. Falls der „Problemdruck“ in Form eines Investitionsstaus als Bedingung auf den Outcome wirkt, sollte ein hoher Investitionsstau (negative Werte) eine Privatisierung des MRV begünstigen.

Dieser vermutete Wirkungsmechanismus beruht, das muss man betonen, auf der Annahme begrenzter Rationalität politischer Akteure. Zwar kann man davon ausgehen, dass die privaten Betreiber selber auch ein Interesse haben, in die Kliniken zu investieren (u. a. weil sie dort auch neue Geschäftsfelder entwickeln wollen), aber die Länder können sich der Investitionsverpflichtung gemäß § 8 Abs. 1 KHG auch durch Privatisierung keinesfalls entziehen, sie müssen die Kosten aber kurzfristig nicht tätigen und können diese für den Landeshaushalt „strecken“ (z. B. PlPr Thüringen 3/55, S. 4718).Footnote 11

4.1.3 Anteil der Landeskliniken

Die gerade angestellten Überlegungen zu den Landeskliniken legen es nahe, einen weiteren Faktor auf seinen Einfluss zu überprüfen. So könnte die relative Größe des Landesklinik-Komplexes in einem Land eine Auswirkung auf ihre Wahrnehmung als Problem haben. Anhand des Krankenhausverzeichnisses des Statistischen Bundesamtes von 2000 haben wir in Tab. 2, Spalte 3, den prozentualen Anteil der Landeskliniken an den Kliniken im Land (Häuser) insgesamt aufgeführt. Ein hoher Anteil der Landeskliniken an den Krankenhäusern könnte entsprechend eine Privatisierung des MRV begünstigen.

4.2 Institutionen und institutionelle Rahmenbedingungen

Die verschiedenen Varianten des Neo-Institutionalismus haben zumindest die Annahme gemeinsam, dass Institutionen einen größeren Einfluss auf politische Prozesse und ihre Ergebnisse haben, als irgendein anderer Faktor (Peters 2012, S. 184). Für die Politikfeldanalyse ist der Rational-Choice-Institutionalismus häufig eine erste nützliche Wahl. Demnach stellen Institutionen (verstanden als Strukturen und Regeln) einen Rahmen dar, innerhalb dessen rationale, nutzenmaximierende Akteure ihre Entscheidungen treffen (z. B. Ostrom 2007; Peters 2012, S. 47ff.). Institutionen ermöglichen und beschränken Akteurshandeln und beeinflussen die Wahl von Strategien. So argumentieren beispielsweise auch Zohlnhöfer und Obinger, dass sich Institutionen auf Privatisierungsentscheidungen auswirken, „indem sie Akteurskonstellationen, Akteursstrategien und Interaktionsmuster zwischen Akteuren konfigurieren“ (Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 610). Für unser Untersuchungsgebiet erscheinen zwei Institutionen potentiell relevant für die Privatisierung des MRV, die auf recht unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind: Die Trägerstruktur des MRV und die Haushaltskonsolidierungspolitiken. Beide unterscheiden sich zwischen den Ländern erheblich und beide könnten einen Einfluss auf die Privatisierungsentscheidungen gehabt haben.

4.2.1 Trägerstruktur des MRV

Die hier vorgestellte Bedingung hängt zunächst mit dem nicht ganz trivialen Umstand zusammen, dass auch der Staat nur verkaufen kann, was ihm gehört (Obinger et al. 2014, S. 14). Das heißt, eine Privatisierung (z. B. als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung) ist nur möglich, wenn die Klinken, um die es geht, dem Land gehören. Das ist dort nicht der Fall, wo der MRV von sogenannten höheren Kommunalverbänden (Mecking 1994) durchgeführt wird und die Einrichtungen diesen auch gehören: Dies ist der Fall in Bayern, wo die Bezirke den MRV durchführen, in Nordrhein-Westfalen, wo zwei Landschaftsverbände diese Aufgabe wahrnehmen, und auch in Hessen, wo der Landeswohlfahrtsverband dies tut. Das Land kann in diesen Fällen also zwar eine Privatisierung beschließen (wie für Bayern diskutiert, vgl. PWC 2005), aber keinen eigenen Gewinn daraus schlagen, womit eine wesentliche Motivation für eine Privatisierung entfallen sollte. Außerdem gibt es mit diesen höheren Kommunalverbänden politisch handlungsfähige Akteure, die mit einer funktionalen Privatisierung des MRV ein wesentliches Aufgabengebiet zu verlieren hätten, wie die von der bayerischen Landesregierung 2005 angestoßene Diskussion über eine Privatisierung des bayerischen MRV zeigt. In Tab. 2, Spalte 4, wurde das Vorhandensein einer institutionellen Restriktion mit einer 0 kodiert, da dies einer Privatisierung abträglich sein sollte, die Abwesenheit der Restriktion entsprechend mit einer 1. Aufgrund des Wirkungsmechanismus kann hier eine klare Erwartung für diese Bedingung formuliert werden: In den Bundesländern, in denen die Trägerschaft des MRV nicht beim Land selbst liegt, wirkt dieser Faktor als hinreichende Bedingung für eine Nicht-Privatisierung. Demgegenüber ist die Trägerschaft durch das Land notwendige Bedingung für eine Privatisierung.

4.2.2 Haushaltskonsolidierung

Haushaltskonsolidierungspolitiken fassen wir nicht unter die sozioökonomischen Problemlagen, weil sie das Ergebnis politischer Entscheidungen sind. Haushaltskonsolidierungspolitiken sind gerade nicht, wie in der Literatur verschiedentlich anklingt, mehr oder weniger automatische Resultate sozio-ökonomischer Problemlagen, insbesondere gravierender Verschuldungssituationen (Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 609, 624; Obinger et al. 2014; Belke et al. 2007, S. 227). Vielmehr zeigt die bundesländervergleichende Studie von Wagschal et al. (2009, S. 30 ff.) eindrucksvoll, dass Haushaltskonsolidierungspolitiken von dem genauen Ausmaß haushaltspolitischer Problemlagen relativ unabhängig sind. Wir verstehen Haushaltskonsolidierungspolitiken im Ergebnis als institutionellen Faktor, weil sie strukturell festgelegte übergeordnete Rahmenbedingungen für Akteurshandeln in vielen anderen Politikfeldern darstellen. Wie genau verhält sich Privatisierung zu strenger Haushaltkonsolidierung? Eine vergleichsweise strenge Haushaltskonsolidierung setzt zwar sicherlich auch bei anderen und nachhaltigeren Maßnahmen zur Reduzierung der öffentlichen Verschuldung an, Privatisierungen sind aber eine von der Politik gern ergriffene, weil im Vergleich zu Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen vergleichsweise konfliktarme Maßnahme. Privatisierungen können zur Haushaltskonsolidierung auf zwei Wegen beitragen: Zum einen kann der „Ausverkauf des Tafelsilbers“ (Zohlnhöfer und Obinger 2005) frisches Geld in die Staatskassen spülen. Allerdings können Privatisierungserlöse nicht in allen Bundesländern zur Haushaltskonsolidierung verwendet werden (Wagschal et al. 2009, S. 123, 136). Zum anderen kann man sich mit der Privatisierung bestimmter Aufgaben auch von manchen dauerhaften Subventionsverpflichtungen befreien (Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 609), von einigen, wie der Krankenhausfinanzierung, kann man sich nur bedingt befreien (s. oben).

Wagschal et al. (2009, S. 18) haben die Konsolidierungspolitiken der Bundesländer (und deren Erfolg) als eine von mehreren abhängigen Variablen untersucht, was es uns ermöglicht, diese Daten für unsere Zwecke als eine Bedingung zu verwenden. Aus der Erhebung der Konsolidierungsanstrengungen der einzelnen LänderFootnote 12 geht für die Jahre 1992 bis 2006 hervor, ob ein Land keine, teilweise oder substantielle Konsolidierungsanstrengungen unternommen hat (Wagschal et al. 2009, S. 52–63, S. 103–288). In den einzelnen Länderkapiteln werden diese Daten erläutert und im Zeitverlauf u. a. mit dem Durchschnitt aller Bundesländer kontrastiert. Wir summieren zunächst die Punktwerte für die Jahre 2001–2006 bzw. bei Privatisieren bis ein Jahr vor der Privatisierung. Dieser Wert wird dann durch die Anzahl der Jahre geteilt, also bei Nicht-Privatisierern jeweils sechs, bei den Privatisierern die Anzahl der Jahre von 2001 bis zum Jahr vor der Privatisierung. Hier zeigt sich bereits, welches Land in den für uns relevanten Jahren eine starke oder eher schwache Haushaltskonsolidierung betrieb (siehe Tab. 2, Spalte 5). Eine starke Haushaltskonsolidierung könnte die Privatisierung des MRV begünstigen.

4.3 Parteiendifferenz

Die Parteiendifferenzhypothese, also die Annahme, dass die parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen für die verfolgte inhaltliche Politik einen Unterschied macht, wird bereits seit der Studie von Schmidt (1980) als Erklärungsfaktor für unterschiedliche Politiken auch der deutschen Bundesländer untersucht (z. B. Seeger 2003; Payk 2009). Zuletzt kommt Turner (2011) in einer Studie, die verschiedene Politikfelder in verschiedenen Bundesländern untersucht, zu dem Ergebnis, dass Parteipolitik auf Landesebene nach wie vor grundsätzlich einen Unterschied macht. Allerdings unterscheidet sich – wie schon Schmidt feststellte – der Effekt der parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierung auf den Policy-Output nach Politikfeldern und nach Ländern (Turner 2011, S. 219 ff.). Privatisierungspolitiken der Länder waren aber noch nicht Gegenstand einer Untersuchung mit Hilfe der Parteiendifferenzhypothese. In der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung wird die Erklärungskraft der Parteiendifferenz für Privatisierungsentscheidungen seit beinahe 20 Jahren kontrovers diskutiert. Grundsätzlich kann man zwar plausibel annehmen, dass sich die ideologischen Positionen der politischen Parteien zu Staat und Markt im Allgemeinen und zu öffentlichen Unternehmen im Besonderen zwischen linken und konservativen Parteien grundlegend unterscheiden (Obinger et al. 2014; Belke et al. 2007, S. 218.). In den 1980er-Jahren hatten konservative Regierungen eindeutig eine größere Disposition zu umfassenden Privatisierungsmaßnahmen aufgewiesen als linke Regierungen (Boix 1997, S. 495). In den 1990er-Jahren schien sich jedoch insbesondere innerhalb der EU der Einfluss von Parteiendifferenzen auf Privatisierungspolitiken deutlich abzuschwächen (Fink und Schneider 2004, S. 228; Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 623), während Parteiendifferenz im OECD-Vergleich nach wie vor eine wichtige Determinante von Privatisierungspolitik blieb (Zohlnhöfer und Obinger 2005, S. 622; Belke et al. 2007, S. 237).Footnote 13 In einer neuen Studie, die den Anspruch erhebt, sowohl Privatisierung als auch die Parteien differenzierter zu operationalisieren als vorangegangene StudienFootnote 14, kommen Obinger et al. (2014, S. 21) zu dem Ergebnis, dass auch in der EU Parteipolitik für die Privatisierung nach wie vor einen relevanten Unterschied macht. Daraus ist für unsere Studie zu schließen, dass Parteiendifferenz als Faktor auf jeden Fall überprüft werden muss.

Wir haben die Regierungszusammensetzungen in den Bundesländern zwischen 2001 und 2006 folgendermaßen kodiert: Existierte im Untersuchungszeitraum die gesamte Zeit eine linke Regierung (SPD, Grüne, PDS/Die Linke), wird der Wert 0 vergeben, bei konservativen Regierungen (CDU/CSU, FDP) eine 2; bei großen Koalitionen oder einer SPD/FDP-Regierung wurde eine 1 vergeben (siehe Tab. 2, Spalte 2). Kam es zu einem Regierungswechsel, folgen wir der Logik des „Gelegenheitsfensters“. Nach der Logik der Parteiendifferenz besteht zumindest die Gelegenheit für eine Privatisierung, sobald eine konservative Regierung an der Macht ist. War also zumindest ein Jahr entweder CDU oder FDP mit der SPD an der Regierung beteiligt, wird eine 1 vergeben, bei mindestens einem Jahr mit konservativer Regierung wird eine 2 vergeben. Aus Sicht der Parteiendifferenz wäre zu erwarten, dass konservative Regierungen als Bedingung eine Privatisierung des MRV begünstigen. Andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass es auch in großen/sozialliberalen Koalitionen zu Privatisierungen kommen kann.

Abschließend sei nochmals betont, dass wir anders als in einer quantitativen Regressionslogik in der QCA nach möglichen Kombinationen von Bedingungen suchen, die letztlich als Bündel notwendiger oder hinreichender Bedingungen den Outcome Privatisierung des MRV erklären können. Da es über das Zusammenwirken der einzelnen Bedingungen keine theoretisch abzuleitenden Wirkungsmechanismen gibt, können an dieser Stelle keine eindeutigen Hypothesen abgeleitet werden. Vielmehr sollen mittels der QCA die Muster des Zusammenwirkens identifiziert werden. Einzig für die institutionelle Rahmenbedingung Trägerschaft des MRV lässt sich eine eindeutige Hypothese formulieren: Die Trägerschaft des MRV durch das Bundesland ist eine notwendige Bedingung für eine Privatisierung.

5 Daten, Analyse und Resultate

Im Folgenden stellen wir zunächst die aus den Ausführungen in Abschn. 4 resultierenden Ausgangsdaten vor (Abschn. 5.1), dann führen wir die QCA durch, präsentieren unsere Resultate und diskutieren diese im Lichte der Fälle (Abschn. 5.2).

5.1 Ausgangsdaten und Multi-Value QCA

Aus den oben dargelegten Kalibrierungen ergeben sich folgende Ausgangsdaten, die in Tab. 2 zusammengestellt sind. In Spalte 1 sind die Prävalenzraten (PRÄV) aufgeführt. In Spalte 2 finden sich die Werte für den Investitionsstau in den Krankenhäusern (STAU). In Spalte 3 ist der prozentuale Anteil der Landeskliniken an Kliniken insgesamt (KKH) aufgeführt. In Spalte 4 (INST) ist das Vorhandensein einer institutionellen Restriktion mit einer 0 kodiert, die Abwesenheit der Restriktion mit einer 1. In Spalte 5 wurde die Intensität der Haushaltskonsolidierungspolitik der Länder (HHK) abgetragen. In Spalte 6 schließlich findet sich die Parteiendifferenz (PD) von 2001–2006 bzw. für die positiven Fälle bis zum Jahr vor der Privatisierung.

Damit liegt auf Seiten der Bedingungen lediglich die mögliche institutionelle Restriktion (INST) in dichotomer Form vor. Dabei wurde die Ausprägung 1 vergeben, wenn diese Restriktion nicht vorliegt, da bei dem Wert 0 eine Privatisierung des MRV nicht erfolgen sollte. Schon die Bedingung, die auf Basis der Parteiendifferenz (PD) die Wahrscheinlichkeit zu Gunsten einer Privatisierung abbilden soll, ist ordinal mit drei Ausprägungen versehen. Für die Haushaltskonsolidierung (HHK) wurde ein Index konstruiert, wohingegen die Prävalenzrate (PRÄV), der Investitionsstau (STAU) und der Anteil an Landeskrankenhäusern (KKH) mit metrischen Werten gemessen wurden.

Auf dieser Basis haben wir eine mvQCA durchgeführt, die es erlaubt, mit nicht-dichotomisierten Daten zu arbeiten. Hier werden aus der vorliegenden Verteilung der metrischen Werte die Fälle in n Gruppen mit ähnlicher Ausprägung eingeteilt. Die ordinalen Werte der n Gruppen sind dann die weitere Berechnungsgrundlage (vgl. Cronqvist 2007; Cronqvist und Berg-Schlosser 2009, S. 73). Damit stehen nach wie vor die konfigurativen Erklärungsmuster aus unterschiedlichen Ausprägungskombinationen im Zentrum der Analyse, ohne dass ex-ante eine – vielleicht dann auch willkürliche – dichotome Grenzwertsetzung erfolgen musste (vgl. Cronqvist und Berg-Schlosser 2009, S. 73; Vink und Van Vliet 2009, S. 268).

In unserem Fall wurden die vier metrischen Bedingungen mit Hilfe des Software-Programms TOSMANAFootnote 15 auf Basis von Clusteranalysen in multi-value Bedingungen umgewandelt.Footnote 16 Die Entscheidung fiel bewusst auf eine datenbasierte Festlegung der Grenzwerte, da es für die von uns verwendeten Bedingungen keine theoretisch plausiblen Grenzwerte gibt. Die Wahl der Lösung hängt dabei vor allem von der Verteilung der Werte innerhalb der jeweiligen Bedingung ab. Dabei können Ausreißer dazu führen, dass sich dichotome Lösungen weniger anbieten als solche, in denen die Fälle in mehrere Gruppen eingeteilt werden. Als Faustregel gilt, dass so viele Gruppen gebildet werden, wie notwendig sind, um die Verteilung sinnvoll abzubilden, dabei aber die Anzahl der Gruppen möglichst gering gehalten werden soll (vgl. Herrmann und Cronqvist 2008, S. 44).

Für unsere Anwendung ergaben sich unterschiedliche Lösungen. Die Prävalenzbedingung PRÄV ist vergleichsweise gleich verteilt (vgl. Tab. 2), so dass sich hier eine Dichotomisierung anbietet. Das Ergebnis findet sich in der Wertetabelle (Tab. 4) in Spalte 2. Der Wert 1 wurde von TOSMANA jenen Ländern mit Prävalenzwerten über 9,95 vergeben, womit von diesen eher eine Privatisierung zu erwarten war. Die Haushaltskonsolidierungsbedingung HHK weist mit Sachsen einen Ausreißer nach oben aus. Bei einer Dichotomisierung in zwei Gruppen würde Sachsen alleine als Konsolidierer geclustert, während alle anderen Länder eine Gruppe der Nichkonsolidierer bilden würden. Erst bei einer Einteilung in drei Gruppen wird eine klarere Unterscheidung möglich, so dass zwischen Nichtkonsolidierern (HHK = 0), Konsolidierern (HHK = 1, threshold bei 2,02) und starken Konsolidierern unterschieden werden kann bzw. muss (HHK = 2, threshold bei 3,75).

Tab. 4 Wahrheitstabelle

Ähnliches gilt für die Investitionsstau-Bedingung (STAU), die mit der Ausnahme des Ausreißers Nordrhein-Westfalen (NRW) eher gleichmäßig über den Werteraum verteilt ist (vgl. Tab. 2). So würde hier eine Dichotomisierung allein NRW den Wert 1 zuweisen. Eine Lösung mit fünf Gruppen – wobei nur drei besetzt sind – teilt die restlichen Länder in zwei ähnlich große Gruppen ein (Werte 0 und 1, threshold bei −0,7), während NRW allein den Wert 4 erhält (threshold −10), das zweite und dritte Cluster bleiben leer (Ergebnis vgl. Tab. 4). Für die weitere Berechnung werden die beiden leeren Cluster ignoriert und der Übersichtlichkeit halber NRW der Wert 2 zugewiesen.

Schließlich erscheint die Verteilung der Fälle über den Werteraum beim Anteil der Landeskliniken am Gesamtbestand aller Krankenhäuser eines Bundeslandes (KKH) am schwierigsten der mvQCA zuzuführen, da hier die drei Stadtstaaten Hamburg, Bremen sowie Berlin mit extrem hohen bzw. hohen Werten eine Differenzierung der Flächenländer erschweren. Bei einer Lösung mit drei Gruppen würde sich eine große Gruppe mit allen Flächenländern ergeben. Daher wurde eine Lösung mit vier Gruppen gewählt, die eine solche Differenzierung ermöglicht. Der threshold für den Wert 1 für die Flächenländer mit höherem Anteil an Landeskliniken liegt bei 5,91 (vgl. Tab. 4).

5.2 Präsentation der Resultate

Die mit Tosmana durchgeführte Analyse auf Basis der sechs Bedingungen ohne Berücksichtigung der logical remainders erbringt für die Erklärung des Outcomes Privatisierung = 1 folgende fünf unterschiedliche Kombinationen als komplexe Lösung für die fünf Bundesländer (zu Beginn der Zeile in Klammern genannt):

$$\text{PR{\"A}V}\left \{0\right \}\ *\ \text{PD}\left \{1\right \}\ *\ \text{HHK}\left \{1\right \}\ *\ \text{STAU}\left \{1\right \}\ *\ \text{KKH}\left \{1\right \}\ *\ \text{INST}\left \{1\right \}\ +\left (\text{BB}\right )$$
$$\text{PR{\"A}V}\left \{0\right \}*\ \text{PD}\left \{2\right \}*\ \text{HHK}\left \{1\right \}*\ \text{STAU}\left \{0\right \}*\ \text{KKH}\left \{3\right \}*\ \text{INST}\left \{1\right \}+\left (\text{HH}\right )$$
$$\text{PR{\"A}V}\left \{1\right \}*\ \text{PD}\left \{2\right \}*\ \text{HHK}\left \{1\right \}*\ \text{STAU}\left \{1\right \}*\ \text{KKH}\left \{0\right \}*\ \text{INST}\left \{1\right \}+\left (\text{NS}\right )$$
$$\text{PR{\"A}V}\left \{0\right \}*\ \text{PD}\left \{0\right \}*\ \text{HHK}\left \{0\right \}*\ \text{STAU}\left \{1\right \}*\ \text{KKH}\left \{0\right \}*\ \text{INST}\left \{1\right \}+\left (\text{SH}\right )$$
$$\text{PR{\"A}V}\left \{0\right \}*\ \text{PD}\left \{2\right \}*\ \text{HHK}\left \{0\right \}*\ \text{STAU}\left \{1\right \}*\ \text{KKH}\left \{1\right \}*\ \text{INST}\left \{1\right \}\left (\text{TH}\right )$$

Somit ergibt sich für jedes Bundesland je eine eigenständige Kombination. Es zeigen sich jedoch schon erste verallgemeinerbare Ergebnisse: Tatsächlich erfolgte in keinem Land mit institutioneller Restriktion (INST = 0) eine Privatisierung des MRV. INST = 1 kann somit als notwendige Bedingung identifiziert werden, die jedoch keine hinreichende ist, da es sieben Bundesländer gibt, die trotz fehlender institutioneller Restriktion nicht privatisiert haben. Gerade für Hessen und Bayern scheint diese Einschränkung aber maßgeblich gewesen zu sein, denn auf Basis der Ausprägungen der anderen Bedingungen (s. unten) wären diese beiden Länder Kandidaten für eine Privatisierung gewesen. Damit wird die am Ende des Abschn. 4 formulierte Hypothese bestätigt.

Die Prävalenzrate PRÄV kommt sowohl in der Ausprägung 1 als auch 0 in den unterschiedlichen Kombinationen für Privatisierung vor. Ein überdurchschnittlicher Problemdruck in Form hoher Prävalenzraten war in vier der fünf Fälle mit Privatisierung nicht gegeben, weshalb der (hier ohnehin kritisch betrachtete) Wirkungsmechanismus, dass die Privatisierung des MRV abhängig vom Problemdruck im MRV selbst ist, eindeutig widerlegt wird.

Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass die Parteiendifferenz in der Kombination mit anderen Bedingungen tatsächlich zur Erklärung der Privatisierung des MRVs beitragen könnte, da nur Schleswig-Holstein trotz rein „linker“ Regierung im Untersuchungszeitraum privatisiert hat. In drei Ländern gab es eine konservative Regierung (HH, NS, TH) oder zumindest eine große Koalition (BB). Hier lohnt sich nun aber ein Blick auf die nicht-privatisierenden Länder, zu denen sowohl SL, BW und SAA (konservative Regierungen, PD = 2) als auch HB und RPF (Regierungsbeteiligung CDU bzw. FDP, PD = 1) gehören (vgl. Tab. 4, Spalte 3). Somit zeigt sich, dass die Parteiendifferenz keinen Einfluss auf die Privatisierung hatte.

Um die Ergebnisse weiter zu verdichten und gemeinsame Muster zu identifizieren, wurde die Analyse um die logical remainders – also jene Kombinationen, die empirisch nicht vorkommen – erweitert. Diese werden berücksichtigt, um mittels einer Minimierung durch vereinfachende Annahmen von der komplexen Lösung zu sparsameren Lösungen zu gelangen, was der sogenannten Standard-Analyse entspricht (vgl. Schneider und Wagemann 2010, S. 151 ff.). Das Ergebnis zeigt nun drei unterschiedliche Lösungen:

figure a

Diese sparsame Lösung führt zu einem eindeutigen Ergebnis für drei Bundesländer: in Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen ist es die Haushaltskonsolidierung (HHK = 1), die in diesen Ländern ohne institutionelle Restriktion (INST = 1) zur Privatisierung des Maßregelvollzugs führte. Wie in Abschn. 4.2.2 ausgeführt, ist im Rahmen einer vergleichsweise strengen Haushaltskonsolidierung Privatisierung eine – im Vergleich zu Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen – beliebte Strategie, die es ermöglicht, kurzfristig Geld in die Staatskasse zu spülen. In Niedersachsen waren es beispielsweise 107 Mio. Euro, die der Verkauf der Landesklinken einbrachte (Dessecker 2008, S. 23).

Schleswig-Holstein zeichnet sich nicht durch institutionelle Restriktionen, aber durch einen starken Investitionsstau (STAU = 1) bei geringem Anteil der Landeskliniken (KKH = 0) und gerade unterdurchschnittlicher Haushaltskonsolidierung (HHK = 0) aus. Die mvQCA ergibt kein eindeutiges Bild in den drei sparsamen Lösungen: Die drei gefundenen Lösungen (PRÄV = 0 PD = 0 oder 1; PD = 0 INVEST = 1; PD = 0 LKK = 0) finden keine inhaltlich sinnvolle Interpretation. Interessant ist, wie schon erwähnt, dass SH als einziges linkes Bundesland privatisierte. Wie unsere Daten in Tab. 2 zeigen, ist SH ein eher schwacher Haushaltskonsolidierer. Schaut man jedoch „in den Fall“, kann man feststellen, dass haushaltspolitische Erwägungen dennoch eine zentrale Rolle für die Privatisierung spielten: 2001 hatte Schleswig-Holstein von allen Flächenländern die dritthöchste Pro-Kopf-Verschuldung (6626 Euro, DESTATIS 2011). Dass man sich in Schleswig-Holstein von der Notwendigkeit zur Haushaltskonsolidierung geradezu umgetrieben fühlte, ohne dass sich dies aber in hohen Konsolidierungsindikatoren (also effektiver Haushaltskonsolidierung) niederschlug, mag auch durch einen weiteren Indikator aus der Wagschal-Studie deutlich werden: In keinem Bundesland war zu dieser Zeit (2001–2006) die Diskrepanz zwischen der angekündigten und der tatsächlich durchgeführten Haushaltskonsolidierung so ausgeprägt wie in Schleswig-Holstein (Wagschal et al. 2009, S. 71). Aufgrund der wegen der Wirtschaftsstruktur besonders prekären Einnahmesituation einerseits und eines ohnehin schon vergleichsweise niedrigen Ausgabenniveaus andererseits (Wagschal et al. 2009, S. 265) spielten Veräußerungen von „Tafelsilber“ in der Phase vor 2006 insgesamt eine große Rolle (Wagschal et al. 2009, S. 269). Dies mag plausibilisieren, warum man sich in Schleswig-Holstein im von der Landesregierung angestoßenen Prozess der Verwaltungsreform, an dem eine Strukturkommission auf Staatssekretärsebene und eine Expertengruppe beteiligt waren, in dem anfänglich noch eine formelle Privatisierung anvisiert war, schlussendlich für den Verkauf und die funktionelle Privatisierung entschieden hat. Der Privatisierungserlös betrug knapp 50 Mio. Euro (Landesregierung SH 2004), wobei hier nicht nur der Privatisierungserlös, sondern – angesichts des großen Investitionsstaus in den Krankenhäusern – tatsächlich auch der Rückzug aus der operativen Aufgabenwahrnehmung eine Rolle gespielt haben dürfte.

Auch für Thüringen erbringt die sparsame Lösung einen eindeutigen Befund: Thüringen ist kein Haushaltskonsolidierer (HHK = 0), hat aber einen hohen Anteil an Landeskliniken (LKK = 1), was es von anderen Bundesländern abgrenzt, die als Nicht-Konsolidierer nicht privatisiert haben. Darüber hinaus weisen die Krankenhäuser in Thüringen jedoch auch einen relevanten Investitionsstau (STAU = 1) auf. Thüringen war, wie in Abschn. 3.1 ausgeführt, im Jahr 2002 das erste Land, das den MRV funktional privatisierte. Der Blick „in den Fall“ bestätigt, dass in Thüringen bis 2005 Haushaltskonsolidierung tatsächlich keine Rolle gespielt hat, und zwar – im Gegensatz zu Schleswig-Holstein – weder in der praktischen Politik noch in den Diskursen und Erklärungen der Regierung (Wagschal et al. 2009, S. 282–287). In Abschn. 4.2.2 haben wir argumentiert, dass Haushaltskonsolidierungspolitiken von dem genauen Ausmaß haushaltspolitischer Problemlagen relativ unabhängig sind. Das bedeutet für den Fall Thüringen, dass nicht stattfindende Haushaltskonsolidierung keinesfalls impliziert, dass es keine finanziellen Schwierigkeiten gegeben hätte. Das Land Thüringen erlebte im Haushaltsjahr 2001/2002 einen massiven Einnahmeneinbruch, auf das 2003/2004 mit Haushaltssperren reagiert wurde (Wagschal et al. 2009, S. 281, 283). In Kombination mit einem relevanten Investitionsstau in den Thüringischen Krankenhäusern insgesamt einerseits, einem hohen Anteil der Landeskliniken andererseits (also insgesamt ein hoher Finanzbedarf in den Landeskliniken) und einer massiven Überbelegung speziell im MRV (160 Untergebrachte auf 132 Plätze) war es für das Land wichtig, dass die privaten Träger die Verdopplung der MRV-Plätze (von 132 auf 260) und eine Investition von 40 Mio. Euro in gut 2 Jahren in Aussicht stellten, ein Vorhaben, das „mit Mitteln des Landes nicht möglich gewesen“ wäre, so der zuständige Minister (PlPr 3/55, S. 4717).Footnote 17

Betrachten wir abschließend noch die Nicht-PrivatisiererFootnote 18, so haben wir drei Gruppen: erstens solche Länder, die zwar Haushaltskonsolidierer sind (BY und HE), jedoch institutionelle Restriktionen aufweisen und deshalb die notwendige Bedingung nicht erfüllen; zweitens jene Länder, die zwar keine institutionelle Restriktion haben, aber keine Haushaltskonsolidierer sind (BW, BE, HB, RPF, SL, SA) und drittens NRW, das kein Haushaltskonsolidierer war und aufgrund der institutionellen Restriktionen nicht privatisieren konnte.

Auch hier haben wir einen Problemfall: Sachsen (SA) mit überdurchschnittlicher Haushaltskonsolidierung hätte nach unseren Ergebnissen den MRV eigentlich privatisieren müssen. Eine nähere Betrachtung des Falls stellt unsere Resultate keinesfalls infrage, sondern bestätigt sie vielmehr in gewisser Weise: denn Sachsen hat die psychiatrischen Landesklinken (bereits im Jahr 1998) privatisiert, dabei aber diejenigen Landesklinken mit forensischen Abteilungen ausgenommen und (anders als viele andere Bundesländer) bewusst in Landesregie behalten. „Der Freistaat Sachsen steht hier auf dem Standpunkt, dass es sich bei der Durchführung des Maßregelvollzugs um eine hoheitliche Aufgabe handelt, die in öffentlicher Hand verbleiben soll. Das SächsPsychKG schränkt hier auch die Trägerschaft auf den Freistaat Sachsen, kommunale Träger und Anstalten des öffentlichen Rechts ein.“ (Stellungnahme Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz 2012).

6 Resümee

Der MRV ist eine Staatsaufgabe, die – wegen der massiven Grundrechtseingriffe und der langen Verweildauern einerseits und des öffentlichen Sicherheitsbedürfnisses andererseits – sogar noch heikler ist, als der Strafvollzug in Gefängnissen. Während jedoch der Strafvollzug in Gefängnissen (jedenfalls in Deutschland) als nicht privatisierbarer Kernbereich staatlicher Aufgaben gilt, wurde der MRV in den vergangenen 15 Jahren in 5 von 15 Ländern (ohne Mecklenburg-Vorpommern) privatisiert. Als privatisiert galten in dieser Untersuchung Länder, die den MRV funktional privatisiert, also die Kliniken verkauft und die Aufgabe durch Beleihung an einen frei-gemeinnützigen oder einen privatwirtschaftlichen Träger übertragen haben. Als nicht privatisiert galten hingegen auch Länder, die den MRV lediglich formell privatisiert, also bei weiterhin öffentlicher Trägerschaft die Rechtsform geändert haben (siehe Abschn. 3).

Das Ziel unseres Beitrags war, herauszufinden, warum es zur Privatisierung gekommen ist, also Bedingungen für diese Entwicklung zu identifizieren. Dieses Ansinnen haben wir mit der Methode der mvQCA verfolgt. Denn einerseits erlaubt es die Fallzahl von 15 Bundesländern nicht, eine Regressionsanalyse durchzuführen, andererseits führt das Operieren mit qualitativ-vergleichenden Fallstudien zu unübersichtlichen und ggf. auch unklaren Ergebnissen. Ausgehend von einem dichotomen Outcome (Privatisierung/Nichtprivatisierung des MRV) wollten wir notwendige und hinreichende Bedingungen für den Eintritt dieses Politikergebnisses identifizieren. Dabei sollten – anders als bei Regressionen – mögliche Kombinationen der verschiedenen Bedingungen herausgefiltert werden können.

Mit Hilfe der mvQCA konnten wir aufschlussreiche Resultate generieren. Erstens: Weder Problemdruck im MRV in Form der Prävalenzrate noch Parteiendifferenz erklären Privatisierung oder Nichtprivatisierung. Zweitens: Das Fehlen institutioneller Barrieren ist eine notwendige Bedingung für Privatisierung, oder anders formuliert: Wo höhere Kommunalverbände den MRV durchführen – NRW, Hessen, Bayern –, ist es (unabhängig von anderen Faktoren) nicht zur funktionalen Privatisierung gekommen. Drittens: Fehlen die institutionellen Restriktionen, dann führt eine überdurchschnittliche Haushaltskonsolidierung dazu, dass der MRV privatisiert wurde (Hamburg, Niedersachsen und Brandenburg). Viertens: Den restlichen Bundesländern, die keine institutionellen Restriktionen aufwiesen, fehlt dagegen die überdurchschnittliche Haushaltskonsolidierung, weshalb sie nicht privatisierten. Alleine Sachsen mit überdurchschnittlicher Haushaltskonsolidierung hätte eigentlich privatisieren müssen.

Auf Basis der von uns mit TOSMANA bestimmten Lösungen können wir 12 von 15 Fällen schlüssig erklären. Die Problematik der abweichenden Fälle für unsere Resultate ließ sich nach intensiver Betrachtung deutlich reduzieren: So hatte Sachsen in der Tat die Landeskliniken privatisiert, dabei den MRV aber bewusst ausgenommen. In Schleswig-Holstein war die schwierige Haushaltssituation, die jedoch zu dieser Zeit noch nicht zu messbaren überdurchschnittlichen Konsolidierungsanstrengungen führte, sicherlich eine Ursache. Thüringen war 2002 der erste Privatisierer, hier erscheint die Kombination aus Investitionsstau allgemein, hohem Anteil der Landeskrankenhäuser am Gesamtkrankenhaussektor in Kombination mit Haushaltsproblemen (ohne dass diese Anfang der 2000er-Jahre schon zu relevanter Haushaltskonsolidierung geführt hätte) ursächlich für die frühe Privatisierung.

Die Triebkräfte für die Privatisierung des MRVs waren somit fiskalischer Natur: die als institutionelle Rahmenbedingung wirkende Haushaltskonsolidierung (meist begleitet von „Aufgabenkritik“) erweist sich dabei als stärkste Einflussgröße. Damit machen unsere Resultate deutlich, dass die Privatisierung des Maßregelvollzugs mit der Aufgabe selbst nur begrenzt etwas zu tun hat. Der MRV wurde nicht privatisiert, um die spezifischen Probleme dieser Aufgabe zu lösen – etwa weil Private die quantitativ wachsende und zunehmend schwierige Aufgabe billiger, schneller oder besser erledigten. Der MRV wurde vielmehr mit den Landesklinken „mitprivatisiert“, weil die Länder (durch Verkaufserlöse) ihre Haushalte konsolidieren wollten.

Diese Resultate sollten auch zumindest vorsichtige Prognosen erlauben: Bei den Ländern, die bislang nicht privatisiert haben, ist dann nicht mit einer funktionalen Privatisierung zu rechnen, wenn (nach der Logik der Pfadabhängigkeit) bereits eine formelle Privatisierung erfolgt ist oder wenn institutionelle Barrieren bestehen. Mit einer funktionalen Privatisierung ist demnach nicht zu rechnen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hessen, Bremen und Sachsen-Anhalt, zudem nicht in Berlin und Sachsen, wo nicht der MRV, wohl aber die Psychiatrischen Landeskliniken formell bzw. funktional privatisiert wurden. Wahrscheinlich würde bei den restlichen Ländern eine Privatisierung dann erfolgen, wenn sich Veränderungen bei der Haushaltskonsolidierung ergeben. Sollte es in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, etwa durch einen Regierungswechsel, zu einer verstärkten Haushaltskonsolidierung kommen, dann wird eine Privatisierung des MRVs im Anhang der Landeskliniken wahrscheinlich. Allerdings könnte die in den vergangenen Jahren erfolgte Politisierung der Thematik möglicherweise auch dazu führen, dass dann das sächsische Modell einer Privatisierungsausnahme für den MRV Schule macht.

Neben diesen Resultaten und darauf aufbauenden tentativen Prognosen für die Privatisierung des MRVs stellt diese Studie einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Privatisierungsdiskussion dar. Zum einen hat sie nachgewiesen, dass hier jedenfalls Parteiendifferenz keinen Effekt auf Privatisierung hatte. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass die Methode der QCA in diesem Kontext deutlichen analytischen Mehrwert erzeugen kann.