In der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Anzahl forensisch untergebrachter Patienten seit 1993 nahezu verdoppelt [1, 2, 3, 4], was verschiedentlich in dramatisierender Weise kommentiert wurde („Maßregelvollzug vor dem Kollaps“, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 22.05.04; taz-magazin, 03.09.05). Als mögliche Ursachen dieser Entwicklung werden vor allem eine veränderte Rechtsprechung, eine kompromisslosere Haltung der Politik gepaart mit entsprechender Medienaufbereitung, eine selbstkritischere Gutachter- und Behandlungspraxis, eine Verschiebung von allgemeinpsychiatrischen Patienten in die forensische Psychiatrie sowie eine zunehmende Straffälligkeit psychisch Kranker diskutiert [5, 6]. Insbesondere werden für die zunehmende Belastung des Maßregelvollzugs Gesetzesänderungen verantwortlich gemacht, die seit Anfang 1998 eingeleitet wurden [7]. Es ist jedoch bisher nicht untersucht worden, ob es sich bei der Bestandserhöhung um einen generellen Trend handelt, von dem alle Bundesländer gleichermaßen betroffen sind oder ob unterschiedliche Entwicklungen vorliegen.

Ein systematischer Vergleich der Entwicklungen in den Bundesländern ist ein erster, aber notwendiger Schritt, um mögliche Handlungsspielräume zur Beeinflussung der Bestandsentwicklung erkennen zu können. Falls sich unterschiedliche Entwicklungen zeigen, kann dies Anlass sein, die jeweils bestehenden Strukturen zu überdenken, bzw. gezielte Hypothesen zu den Ursachen unterschiedlicher Entwicklungen zu entwickeln und zu überprüfen. Die Prüfung von Hypothesen zu möglichen Ursachen differierender Bestandsentwicklungen würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung übersteigen. Ziel des vorliegenden Beitrages ist zunächst die Klärung der Frage, ob und in welchem Ausmaß in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Entwicklungen vorliegen.

Die folgende explorative Datenanalyse bezieht sich ausschließlich auf den Maßregelvollzug nach § 63 StGB. Der Grund hierfür ist, dass die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB zwar durch die bundesweit einheitliche Rechtsgrundlage des Strafgesetzbuches erfolgt, der Vollzug der Maßregel aber im Verantwortungsbereich der Länder liegt. Zudem ist diese Maßregel zeitlich unbestimmt. In jedem Einzelfall erfolgt eine in der Regel jährliche Entscheidung über die Fortdauer oder Aussetzung der Maßnahme. Veränderungen in der Anwendung und Vollzugspraxis des § 63 StGB (in Form von häufigeren Anordnungen und/oder längerer Verweildauer und/oder selteneren Aussetzungen) haben deshalb nachhaltigere Auswirkungen auf die Bestandsentwicklung forensischer Patienten als eine steigende Unterbringungsrate nach § 64 StGB, da in diesen Fällen durch die in der Regel maximale 2-jährige Unterbringungsdauer der Bestand sich in kürzerer Zeit wieder auf ein bestimmtes Niveau einpendeln dürfte.

Es werden die folgenden Auswertungen dargestellt:

  • Vergleich der durchschnittlichen Bestands- und Aburteilungsraten der Jahre 1993 bis 2003 in den einzelnen Ländern,

  • Vergleich der Länder hinsichtlich der Veränderungen der Aburteilungen und der Bestände im Verlauf von 10 Jahren seit 1993,

  • Divergenz oder Konvergenz der Entwicklungen (Haben sich in der Zeit von 1993 bis 2003 die Bundesländer eher auseinander entwickelt oder angenähert?),

  • Zusammenhang der Bestands-, Aburteilungs- und Kriminalitätsraten,

  • Vergleich der „Kompensationsleistungen“ der Länder im Beobachtungszeitraum.

Methode

Datenbasis

Es wurden jahres- und länderbezogene Daten des Statistischen Bundesamtes zu Bestand und Aburteilungen verwendet [8]. Daten für die Jahre seit 1993 liegen nur für das frühere Bundesgebiet vor. Die „neuen“ Bundesländer konnten deshalb nicht berücksichtigt werden. Stichtag für die Bestände und Aburteilungen ist der 31. Dezember eines Jahres. Die Berechnungen beziehen sich auf den Zeitraum bis 2003, da neuere Daten zu den Aburteilungsraten zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht vorlagen. Bestandsdaten bis einschließlich 2005 sind in den Einzeldiagrammen der Länder enthalten (Abb. 1). Es ist ersichtlich, dass die Bestandsentwicklungen bis 2003 sich in den meisten Ländern bis zum Jahre 2005 linear fortsetzen. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass die Entwicklungen bis 2003 auch repräsentativ für die beiden folgenden Jahre sind.

Abb. 1
figure 1

Prävalenz/Bestand der Patienten im Maßregelvollzug nach § 63 StGB je 100.000 Einwohner, „alte“ Bundesländer, 1993–2005

Die Rate der Gewaltkriminalität für die „alten“ Bundesländer wurde der Polizeilichen Kriminalstatistik für die Jahre 1993 bis 2003 entnommen. Die allgemeine Kriminalitätsrate ist in der BRD im genannten Zeitraum insgesamt um 4% gesunken. Steigerungen waren jedoch in Rheinland-Pfalz (17%), im Saarland (12%), in Nordrhein-Westfalen (6%) und in Berlin (2%) zu verzeichnen.

Für die Unterbringung gemäß § 63 StGB ist die Entwicklung der allgemeinen Kriminalität wahrscheinlich weniger bedeutsam, obwohl eine gewisse Koppelung der allgemeinen Kriminalität mit der Kriminalität bei psychischen Erkrankungen angenommen wird [10]. Ausschlaggebender dürfte die Entwicklung der Gewaltkriminalität sein, da für die Unterbringungsvoraussetzungen nach § 63 StGB ein ausreichendes Maß an „Erheblichkeit“ der Straftaten erreicht werden muss. Die Gewaltkriminalität steigt im Unterschied zur allgemeinen Kriminalität an, von 1993 bis 2003 in der BRD insgesamt um 25%. Diese Erhöhung ist im Wesentlichen auf eine vermehrte Anzahl von angezeigten Körperverletzungsdelikten zurückzuführen. Schwere Straftaten „gegen das Leben“ gehen insgesamt zurück [11].

Vergleichsgrundlage

Zum Vergleich der Länder untereinander wurden die absoluten Daten auf je 100.000 Einwohner (EW) bezogen. Dabei wurden die ebenfalls jahresbezogenen Angaben zur Einwohnerzahl der Länder des Statistischen Bundesamtes verwendet.

Ermittlung der Aburteilungs- und Bestandsraten 1993 und 2003

Um natürliche Schwankungen sowie mögliche Ungenauigkeiten in den Datenreihen auszugleichen, wurden als Ausgang- (1993) und Endzeitpunkte (2003) des Beobachtungszeitraumes die „theoretischen“ Bestands- bzw. Aburteilungsraten verwendet, die durch die jeweiligen Anpassungsgeraden für diesen Zeitraum gegeben sind. Die Berechnung der Anpassungsgeraden erfolgte mit dem Statistikprogramm STATISTICA, ebenso die Berechnung der der Produkt-Moment-Korrelationen (Version ‚99; Statsoft. Inc, 1999).

Datenlage in Niedersachsen

Die Rechtspflegestatistik des Statistischen Bundesamtes berichtet für das Land Niedersachsen in den Jahren 1993 und 1994 extrem niedrige Aburteilungszahlen (§ 63 StGB). Diese Zahlen (4 bzw. 9 Aburteilungen absolut) sind sowohl im zeitlichen Verlauf in Niedersachsen (1991 und 1992 jeweils 32 Aburteilungen, 1995 bis 1997: 28, 47 und 89 Aburteilungen) als auch im Vergleich mit dem Durchschnitt der anderen Bundesländer nicht realistisch und sind wahrscheinlich auf Besonderheiten der Datenerfassung in diesen Jahren zurückzuführen. Die Angaben für die Jahre 1993 und 1994 in Niedersachsen wurden deshalb durch Schätzungen ersetzt. Dabei wurde folgendermaßen vorgegangen:

Die durchschnittliche Aburteilungsrate/100.000 EW für alle Länder mit Ausnahme Niedersachsen wurde für die Jahre 1995 bis 2003 berechnet, ebenso die entsprechende Rate für Niedersachsen. Für diesen Zeitraum lag die Aburteilungsrate in Niedersachsen um 0,058 unterhalb derjenigen aller anderen Länder. Die durchschnittliche Aburteilungsrate aller anderen Länder für 1993 und 1994 (0,815 und 0,876) wurden um 0,058 verringert und als Schätzungen für die Aburteilungsrate Niedersachsens in den Jahren 1993 und 1994 verwendet (0,757 und 0,818).

Datenlage in Rheinland-Pfalz

Für 2000 und 2001 liegen keine Angaben zu Aburteilungen vor, das Statistische Bundesamt hat für diese Jahre die Daten aus 1999 eingesetzt. Diese Angaben wurden verwendet.

Berechnung der Kompensationsleistung

Als Maß für die „Kompensationsleistungen“ wurde die Differenz zwischen der Summe der Aburteilungen von 1994 bis 2003 und dem tatsächlichen Bestandszuwachs in diesem Zeitraum gebildet. Der Bestandzuwachs wurde dadurch ermittelt, dass zum Ausgangswert jedes Bundeslandes (Bestand im Jahr 1993) die jährlichen Bestandszuwächse bis einschließlich 2003 summiert wurden.

Ergebnisse

Durchschnittsvergleich 1993–2003

In Tab. 1 sind die durchschnittlichen Aburteilungs-, Bestands- und Gewaltkriminalitätsraten für den Zeitraum 1993–2003 bezogen auf je 100.0000 Einwohner der 11 „alten“ Bundesländer dargestellt. Da die Annahme plausibel erscheint, dass Aburteilungsrate und Bestand zusammenhängen, sind die Länder entsprechend der Anzahl der Aburteilungen aufsteigend geordnet.

Tab. 1 Gewaltkriminalitätsrate, Aburteilungen nach § 63 StGB und Patientenbestand von 11 Bundesländerna

Es zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Aburteilungs- wie auch in der Bestandsrate. So wurde im Durchschnitt des 11-Jahres-Zeitraumes im Saarland fast dreimal häufiger eine Maßregel verhängt als in Schleswig-Holstein. Das Saarland hat auch die höchste Bestandsrate aller Bundesländer, sie ist mehr als doppelt so groß wie diejenige Hamburgs.

Veränderungen 1993–2003

Bestandsveränderungen

Die folgende Längsschnittbetrachtung soll zwei Fragen klären:

  1. 1.

    Liegt ein stetiger oder sprunghafter Anstieg der Bestände in den Ländern vor? Falls tatsächlich in erster Linie Gesetzesänderungen seit Anfang 1998 den Bestandszuwachs bedingen, müsste nach 1998 eine Steigerung des Zuwachses zu beobachten sein.

  2. 2.

    Sind die Unterschiede der Länderbestände im Jahr 2003 auf unterschiedliche Ausgangsbestände (1993) bei gleichen oder ähnlichen Zuwachsraten zurückzuführen oder liegen unterschiedliche Zuwachsraten vor? Diese Frage zielt auf eine mögliche Divergenz der Entwicklungstrends in den Ländern ab.

Die Bestandskurven der BRD insgesamt und der einzelnen Bundesländer im Untersuchungszeitraum (ergänzt um die Jahre 2004 und 2005) zeigt Abb. 1. Jede Einzelgrafik enthält die jeweilige Anpassungsgerade für die Datenreihen 1993 bis 2003.

Linearer oder beschleunigter Anstieg?

Eine relativ stetige Entwicklung zeigen die Bundesländer Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen sowie Schleswig-Holstein. Eine Beschleunigung des Zuwachses zu einem bestimmten Zeitpunkt ist bei diesen Ländern nicht erkennbar. Die Annahme, dass Gesetzesänderungen in den Jahren seit 1998 zu einer drastischen Erhöhung oder einer Beschleunigung des Bestandszuwachses geführt hätten, lässt sich aufgrund der Bestandsentwicklung dieser Länder nicht belegen. In Bayern könnte am ehesten von einer exponenziell beschleunigten Bestandsentwicklung gesprochen werden, die im Jahr 2001 einsetzt.

Größere Sprünge im Bestandsverlauf zeigen die drei Stadtstaaten (2. Reihe in Abb. 1), Rheinland-Pfalz und das Saarland. Abweichungen von einer linearen Entwicklung zeigen also vor allem die kleineren Länder, was wahrscheinlich auch durch die niedrigeren absoluten Bestandszahlen bedingt ist. Die Entwicklungen dieser Länder sind jedoch so uneinheitlich, dass auch bei ihnen nicht auf einen übergeordneten Faktor geschlossen werden kann, der die Bestandsentwicklung bestimmen würde. Als Beleg für eine Zuwachssteigerung durch Gesetzesänderungen ab 1998 könnte allenfalls die Entwicklung in Hamburg gelten.

Ausgangsbestand 1993 und Bestandsentwicklungen

Anfangs- (1993) und Endbestand (2003) wurden anhand der Anpassungsgeraden bestimmt. Es ergab sich weder eine signifikante Korrelation zwischen den Beständen im Jahr 1993 und den Beständen des Jahres 2003 (r=0,35, p=0,30) noch eine signifikante Korrelation zwischen den Beständen im Jahr 1993 und der Steilheit des jeweiligen Anstiegs (r=−0,14, p=0,68). Die Ausgangssituation des Jahres 1993 ist also nicht prädiktiv für die Bestände der Länder im Jahre 2003. In allen Ländern fand zwar ein Bestandszuwachs seit 1993 statt, die Entwicklungen bis 2003 verliefen jedoch sehr unterschiedlich. So hatte Schleswig-Holstein ursprünglich den höchsten Bestand aller Länder, lag 2003 aber im „Mittelfeld“. Umgekehrt verlief die Entwicklung in Baden-Württemberg: 1993 noch im mittleren Bereich, hatte es 2003 den niedrigsten Bestand aller Bundesländer. Auch Länder mit ähnlichem Anfangsbestand (z. B. Rheinland-Pfalz, Bremen, Saarland) hatten ganz unterschiedliche Zuwächse zu verzeichnen (Abb. 1) Den geringsten Zuwachs im forensischen Patientenbestand im 10-Jahres-Zeitraum hatte Baden-Württemberg (plus 1,9 Plätze/100.000 EW), den größten Berlin (plus 8,5 Plätze/100.000 EW).

Veränderungen der Aburteilungen

Die Aburteilungen gemäß § 63 StGB weisen aufgrund der niedrigen absoluten Raten größere Schwankungen auf als die Bestandszahlen. Auch bei den Aburteilungen zeigten sich keine einheitlichen nichtlinearen Entwicklungen.

In allen Ländern stieg die Aburteilungsrate zwar im Verlaufe der 10 Jahre an, allerdings in recht unterschiedlichem Ausmaß. Eine nahezu gleich bleibende Aburteilungsrate (plus 0,06/100.000 EW) weist Schleswig-Holstein auf, die stärkste Zunahme zeigt Berlin (plus 1,4/100.000 EW). Auch die drei bevölkerungsreichsten Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg unterscheiden sich deutlich. Tab. 2 zeigt die Zunahme der Aburteilungen.

Tab. 2 Zunahme der Aburteilungsraten, 1993–2003

Es besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Aburteilungsrate des Jahres 1993 und der im Jahre 2003 (r=0,43, p=0,18), die Länder weisen also unterschiedliche Entwicklungen der Aburteilungsraten auf. Auch der Zusammenhang zwischen der Aburteilungsrate des Jahres 1993 und der Steilheit des Zuwachses ist nicht signifikant (r=−0,05, p=0,89), d. h. Länder mit ursprünglich geringerer Aburteilungsrate haben keine überproportionalen Steigerungen zu verzeichnen und umgekehrt.

Divergenz oder Konvergenz der Entwicklungen?

Bei der Betrachtung der durchschnittlichen Bestandszuwächse und Aburteilungen stellt sich die Frage, ob sich die Länder im Laufe der Zeit eher angeglichen oder eher auseinander entwickelt haben. Um diese Frage zu beantworten, wurden als Variabilitätsmaße die Standardabweichungen der Bestands- und Aburteilungsraten der Länder für jedes der Jahre 1993 bis 2003 berechnet. Um Bestands- und Aburteilungsentwicklungen miteinander vergleichen zu können, wurden die Standardabweichungen z-transformiert.

Den Verlauf der Standardabweichungen für die genannten Jahre sowie die entsprechenden Anpassungsgeraden zeigt Abb. 2. Die Unterschiede zwischen den Ländern nehmen zwar während des Beobachtungszeitraumes punktuell zu und ab, im Gesamttrend wurden sie jedoch größer. Dass die zunehmende Divergenz in fast gleichem Maße auf Aburteilungs- wie Bestandsraten zutrifft, ist den ähnlichen Steigungen der Anpassungsgeraden zu entnehmen.

Abb. 2
figure 2

Zunehmende Unterschiede der Standardabweichungen in den „alten“ Bundesländern

Zusammenhang der Bestands-, Aburteilungs- und Gewaltkriminalitätsraten

Schon beim Vergleich der Zeilen in Tab. 1 fällt auf, dass kein einfacher linearer Zusammenhang zwischen den Durchschnittsraten der Gewaltkriminalität, der Aburteilungen und der Bestände zu bestehen scheint. So ist das Land mit der niedrigsten durchschnittlichen Aburteilungsrate (Schleswig-Holstein) unter den Ländern mit den höchsten Bestandsraten (Saarland, Berlin, Bremen, Schleswig-Holstein). Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, dass alle Korrelationen zwischen den Datenreihen nicht signifikant sind (Kriminalitätsrate und Aburteilungen: r=0,15, p=0,66; Aburteilungen und Bestand r=0.41, p=0,21; Kriminalitätsrate und Bestand r=0,11, p=0,74). Die Höhe der Bestände ist also nur zum Teil von der Höhe der Aburteilungsraten bestimmt. Ebenso hängt die Aburteilungsrate nur unwesentlich mit der Gewaltkriminalitätsrate zusammen. Auch die hohen Gewaltkriminalitätsraten der Stadtstaaten schlagen sich nicht in entsprechend erhöhten Aburteilungsraten nieder.

Kompensation durch Entlassungen

In Abb. 3 ist für jedes Land die Summe der Aburteilungen von 1994 bis 2003 dargestellt (breitere helle Säulen). Diese Summen stellen den Gesamt-Input des jeweiligen forensischen Systems dar, d. h. alle Neuzugänge, mit der die forensischen Einrichtungen im Untersuchungszeitraum umzugehen hatten („Aburteilungsdruck“). Im hypothetischen Fall, dass im Verlauf der 10 Jahre kein Patient entlassen worden wäre und auch keine Bestandsreduktion durch Todesfälle oder andere Umstände stattgefunden hätte, wäre der Bestandszuwachs eines Landes identisch mit der jeweiligen Anzahl aller Neuzugänge.

Abb. 3
figure 3

Aburteilungsdruck und Kompensationsleistungen der „alten“ Bundesländer (s. Text)

Als Maß für die „Kompensationsleistungen“ wurde die Differenz zwischen der Summe der Aburteilungen und dem tatsächlichen Bestandszuwachs gebildet. Es ist anzunehmen, dass die „Kompensationsleistung“ (schraffierte Säulen in Abb. 3) vor allem die Summe der Entlassungen im Untersuchungszeitraum beinhaltet, aber auch zu einem nicht bestimmbaren Anteil Todesfälle, Verlegungen in den Strafvollzug oder andere Umplatzierungen. Dem Bestandszuwachs jedes Landes entspricht in Abb. 3 der Abstand zwischen den Enden der beiden Säulen.

Es ist erkennbar, dass die Länder im Beobachtungszeitraum mit unterschiedlichem Zugangsdruck konfrontiert waren und mit unterschiedlichen Kompensationen reagierten. Obwohl z. B. in Nordrhein-Westfalen weniger als die Hälfte der Aburteilungen Bayerns zu verzeichnen war, nahm der Bestand an forensischen Patienten in Nordrhein-Westfalen um 4,1/100.000 EW zu, in Bayern aber – bedingt durch eine etwa 4fache Entlassrate – nur um 2,9/100.000 EW.

Auch wenn man Länder mit ähnlichem „Aburteilungsdruck“ vergleicht, sind die Unterschiede deutlich: So zeigt z. B. Niedersachen bei einem mit Baden-Württemberg nahezu identischen „Aburteilungsdruck“ eine deutlich geringere Kompensation und damit einen größeren Bestandszuwachs. Bayern hat im Untersuchungszeitraum die größte, Nordrhein-Westfalen die geringste Kompensationsleistung erbracht. Bei „gut durchschnittlicher“ Kompensation und durchschnittlicher Aburteilungslast hat Baden-Württemberg den geringsten Zuwachs an forensischen Behandlungsplätzen zu verzeichnen. Der Bestand nahm hier lediglich um 1,6 Patienten je 100.000 EW zu. Deutlich andere Entwicklungen zeigen z. B. das Saarland und Berlin, hier kamen im Zeitraum von 10 Jahren trotz guter Kompensation 7,5 bzw. 7,8 Behandlungsplätze auf 100.000 EW dazu. In diesen Ländern konnte der Zuweisungsdruck in Form vermehrter Aburteilungen wahrscheinlich nicht mehr durch eine Steigerung der Entlassungen kompensiert werden.

Betrachtet man die Kompensations-/Entlassrate im Längsschnitt, lassen sich Entwicklungstrends in den Entlassraten der einzelnen Länder bestimmen. Die Auswertung ergab, dass vier Länder (Bremen, Berlin, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz) im 10-Jahres-Zeitraum eine ansteigende, drei Länder (Baden-Württemberg, Saarland, Bayern) nahezu gleich bleibende und vier Länder (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg) rückläufige Kompensations-/Entlassraten zeigten.

Diskussion

Die Analyse der vorliegenden Daten ergab keinen Hinweis auf eine einheitliche Ursache der erhöhten Patientenbestände. Der Anstieg der Bestände verläuft im Beobachtungszeitraum relativ linear, ist aber in den Ländern höchst unterschiedlich ausgeprägt. Im Verlauf der Jahre bis 2003 nahmen die schon 1993 bestehenden Unterschiede zwischen den Ländern sogar noch weiter zu und zwar sowohl hinsichtlich der Entwicklung der Aburteilungs- als auch der Bestandsraten. Auch lässt sich der sehr unterschiedliche Bestandszuwachs in den einzelnen Ländern nicht auf nahe liegende Faktoren wie unterschiedliche Kriminalitäts- und Aburteilungsentwicklungen oder unterschiedliche Ausgangssituationen zurückführen. Diese Faktoren können in einzelnen Ländern durchaus bedeutsam sein, die Divergenz der Entwicklungen der Länder zeigt aber, dass die forensische Psychiatrie nicht nur „Opfer“ solcher externer Einwirkungen sein muss, sondern dass durchaus Steuerungspotenzial vorhanden ist. Offensichtlich existieren länderspezifische Besonderheiten, die dazu führen, dass sich in manchen Ländern die Situation der forensischen Versorgung noch relativ problemlos darstellt, während andernorts die Entwicklung kritisch erscheint. Die vorliegende Datenanalyse zeigt, dass es keine eindeutig ideale Entwicklung einzelner Ländern im Vergleich zu anderen („Benchmarking“) gibt, sondern dass es jeweils bestimmte Aspekte sind, die mehr oder weniger erfolgreich bewältigt werden.

Betrachtet man die Input-Seite der forensischen Versorgungssysteme, so ist zunächst bemerkenswert, dass trotz der einheitlichen Rechtsgrundlage des § 63 StGB erheblich unterschiedliche Aburteilungsraten in den Ländern zu beobachten sind. In der vorliegenden Datenanalyse konnte gezeigt werden, dass diese kaum mit unterschiedlichen Raten der Gewaltkriminalität zusammenhängen. Damit stellt sich die Frage, welche Faktoren dann dafür verantwortlich sind, dass manche Länder ihre Aburteilungsrate nahezu „halten“ konnten, während es in anderen zu erheblichen Steigerungen kam. Besonders aufschlussreich zur Aufklärung der möglichen Ursachen wären Vergleiche zwischen Ländern mit ursprünglich ähnlichen Aburteilungsraten (z. B. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein; s. Tab. 2). Während Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen geringe Zunahmen der Aburteilungen im Laufe der folgenden 10 Jahre hatten, nahmen die Aburteilungen in Niedersachsen (+102%) und Rheinland-Pfalz (+153%) erheblich zu. Auch zeigen Länder mit in sonstiger Hinsicht ähnlichem sozialpolitischem und sozialökonomischem Hintergrund (Baden-Württemberg und Bayern) sowohl unterschiedliche Ausgangsraten wie auch unterschiedliche Entwicklungen. So hatte Bayern im Jahre 2003 eine fast doppelt so hohe Aburteilungsrate als Baden-Württemberg. Eine weitere Aufschlüsselung der Ursachen solcher unterschiedlicher Entwicklungen erfordert weitere hypothesengeleitete Datenerhebungen in den Ländern. Beispielhaft seien einige mögliche Linien der Hypothesengenerierung genannt. Die tatsächliche Relevanz der im Folgenden skizzierten Faktoren muss offen bleiben. Sie sollen vor allem mögliche Ansatzpunkte einer weiterführenden vergleichenden forensischen Versorgungsforschung veranschaulichen.

So könnten epidemiologische Faktoren in Form unterschiedlicher Inzidenz und Prävalenz psychischer Störungen zu unterschiedlichen Aburteilungsraten beitragen. Da zumindest bei schizophrenen Störungen ein Zusammenhang zwischen Urbanität und der Inzidenz angenommen werden kann [12], könnten unterschiedliche „Urbanitätsdichten“ der Bundesländer auch mit unterschiedlicher Inzidenz psychischer Störungen einhergehen. Länderbezogene und regionale Inzidenz- und Prävalenzdaten zu psychischen Störungen liegen unseres Wissens leider nicht vor. Erste Aussagen dazu sind in unserer Analyse nur anhand der Stadtstaaten möglich. Erstaunlich sind auch hier die ganz unterschiedlichen Entwicklungen. In Bremen und Berlin ist eine erhebliche Steigerung der Aburteilungen zu verzeichnen, während Hamburg unter den drei Ländern mit den geringsten Zunahmen ist (Tab. 2). Dies lässt darauf schließen, dass die Rolle der Urbanität bei der Deliktinzidenz komplexer Natur ist.

Möglicherweise verbergen sich hinter den unterschiedlichen Aburteilungsraten auch unterschiedliche justizielle- bzw. gutachterliche Strategien. Beispielsweise könnten in einem Land persönlichkeitsgestörte Straftäter eher psychiatrisch begutachtet werden und eine Maßregel angeordnet werden, während in einem anderen Land solche Täter eher in den „normalen“ Strafvollzug überstellt werden. Eine auch regional differierende Verurteilungspraxis in der Forensischen Psychiatrie wurde bereits von Marneros [13] diskutiert. Im Bereich der Allgemeinen Psychiatrie behandelte eine Untersuchung von Melchinger und Spengler [14] regionale Netzwerke zwischen Justiz und Kliniken mit sehr unterschiedlichen Anordnungshäufigkeiten der Unterbringungen nach UBG in der Psychiatrie. Analoge Situationen sind auch im Bereich der Maßregelanordnung nach § 63 StGB denkbar. Die Unterschiede bezüglich Begutachtung und der Frage der Schuldfähigkeit müssten bei der Gruppe psychosekranker, organisch gestörter und intellektuell behinderter Patienten geringer ausfallen, da eine entsprechende Erkrankung oder Störung relativ eindeutig diagnostiziert werden kann und folglich die Anordnung einer Maßregel einheitlicher erfolgen sollte. Weitere Ländervergleiche müssten demnach auch Diagnoseverteilungen und Einschätzungen der Schuldfähigkeit innerhalb der Länder mit einbeziehen.

Auch die Struktur der jeweiligen allgemeinpsychiatrischen Versorgung in den Ländern könnte bei den differierenden Aburteilungsraten eine Rolle spielen, da eine „delikt- und gewaltsensible“ flächendeckende allgemeinpsychiatrische Betreuung möglicherweise kriminelle Delikte durch psychisch Kranke verhindern könnte. Auf die potenzielle deliktpräventive Verantwortung der Allgemeinpsychiatrie haben Hodgins und Müller-Isberner [15] hingewiesen. Insbesondere Patienten mit einer schizophrenen Grunderkrankung tragen ein erhöhtes Risiko für gewalttätige Handlungen [16, 17]. Gleiche Aburteilungsstrategien vorausgesetzt, könnte ein geringer Anteil dieser Patientengruppe im Maßregelvollzug darauf hinweisen, dass im jeweiligen Bundesland eine adäquate allgemeinpsychiatrische Versorgung mit deliktpräventivem Effekt vorgehalten wird. In der BRD liegen nur einzelne Angaben zur Diagnoseverteilung im Maßregelvollzug vor. Seifert und Leygraf [18] fanden für Nordrhein-Westfalen einen Anteil an schizophrenen Psychosen von 33,7%. In Baden-Württemberg [19] stieg der Anteil der wegen schizophrener Psychose untergebrachten Patienten von 51% (1997) auf 60% (2006) an. Ein Vergleich der Diagnosenverteilung im Maßregelvollzug der Bundesländer ist deshalb auch hinsichtlich möglicher Unterschiede in der allgemeinpsychiatrischen Versorgung sinnvoll.

Betrachtet man die Output-Seite des forensischen Systems, stellt sich analog zur Input-Seite die Frage, wodurch die unterschiedlichen Kompensations-/Entlassleistungen in den Ländern beeinflusst werden. Hinweise auf erfolgreiche Kompensationsstrategien können dabei aus dem Vergleich von Ländern gezogen werden, die auf ähnlichen „Aburteilungsdruck“ mit unterschiedlicher Kompensationsleistung reagieren, z. B. Niedersachsen und Baden-Württemberg (Abb. 3). Auch unabhängig vom unterschiedlichen „Aburteilungsdruck“ können Länder mit relativ erfolgreicher Kompensationsleistung (Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg) mit Ländern verglichen werden, die weniger kompensieren und die dementsprechend Bestandszuwächse aufweisen (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Berlin). Die Generierung von Hypothesen sollte sich auf Faktoren richten, von denen anzunehmen ist, dass sie auf die Entlassraten einwirken. Dabei wäre auch an die schwer erfassbare sicherheitspolitische „Philosophie“ der forensischen Einrichtungen und die der den Maßregelvollzug aussetzenden Gerichte zu denken. Um zu klären, ob eine hohe „Entlassleistung“ tatsächlich ein höheres Sicherheitsrisiko bedeutet, ist ein Vergleich der Rückfallraten (Widerruf der Aussetzung, erneute Delinquenz) der Länder ein erster Ansatzpunkt. Leider liegen auch hierzu keine längerfristig und systematisch erhobenen Daten, sondern nur Untersuchungen aus einzelnen Einrichtungen vor (z. B. [20, 21]).

Hinsichtlich der Entlassbarkeit dürften zudem diagnostische, deliktspezifische und soziale Merkmale der Untergebrachten relevant werden. Hierzu liegen erste Überlegungen und Daten von Leygraf [22] zu Patienten mit fehlenden Entlassungsperspektiven vor, auf die bei einem länderbezogenen Vergleich Bezug genommen werden kann.

Ein weiterer die Kompensationsmöglichkeiten beeinflussender Faktor dürfte in der Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der allgemeinpsychiatrischen und betreuenden Versorgungslandschaft liegen, die oftmals den „Empfangsraum“ für einen ehemaligen Maßregelpatienten bereitstellt. Ein Ländervergleich könnte darauf abzielen, die Auswirkungen einer eher zentralen oder dezentralen Struktur der forensischen Versorgung auf die räumliche und organisatorische Verzahnung mit allgemein- und gemeindepsychiatrischen Institutionen zu untersuchen, wodurch z. B. Beurlaubungen und (probeweise) Entlassungen eher erleichtert oder behindert werden. In diesem Zusammenhang wäre auch zu prüfen, zu welchen Anteilen es sich bei den jeweiligen Kompensationsleistungen um eigentliche „Entlassungen“ (Aussetzungen nach § 67d StGB) oder um Umplatzierungen (z. B. Verlegungen in die Allgemeinpsychiatrie) handelt.

Die genannten Beispiele zeigen u. E., dass eine genauere vergleichende Analyse der in den einzelnen Bundesländern anzutreffenden „Maßregelstrategien“ – mit jeweils bestimmten Auswirkungen auf die Bestandsentwicklungen – ein lohnenswerter Ansatzpunkt ist, falls die aktive Gestaltung der weiteren Entwicklung im Maßregelvollzug intendiert ist und die Steuerung auf empirischer Grundlage erfolgen soll. Die Analysen müssen dabei sowohl die Systeme der Justiz, der allgemeinen und der forensischen Psychiatrie wie auch die Schnittstellen dieser Systeme einbeziehen. Eine über die Bundesländer hinweg einheitliche Datenbasis zur Erfassung der Diagnose- und Straftatenprofile würde bereits die Präzisierung der oben skizzierten Hypothesen erleichtern.

Fazit

Die Zunahme von Behandlungsplätzen in der forensischen Psychiatrie der Bundesrepublik Deutschland ist keine einheitliche, unausweichliche Folge von Gesetzesänderungen neueren Datums. Zwar ist in allen Bundesländern ein Zuwachs zu verzeichnen, der Anstieg ist jedoch höchst unterschiedlich. Als ausschließliche Ursachen der divergierenden Bestandsentwicklungen konnten unterschiedliche Aburteilungs- und Kriminalitätsraten ausgeschlossen werden. Zusammen mit den ebenfalls unterschiedlichen Kompensationsleistungen der Länder deutet dies darauf hin, dass das Ausmaß des Bestandszuwachses steuerbar ist. Eine einheitliche Datenbasis wäre hilfreich, um die länderspezifischen Ursachen der unterschiedlichen Entwicklungen noch genauer aufzuklären und entsprechendes Steuerungspotenzial zu erschließen.