1 Einleitung

Bei Europawahlen nimmt die Wahlbeteiligung in der Regel einen hohen Stellenwert bei der Interpretation des Wahlergebnisses ein. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass aus diesen Wahlen nicht unmittelbar eine „europäische Regierung“ hervorgeht. Daher haben Politiker und Medien das Niveau der Wahlbeteiligung häufig als Indikator für die Unterstützung der europäischen Idee, der europäischen Institutionen und des Integrationsprozesses insgesamt interpretiert. Die kontinuierliche Abnahme der Beteiligung bei Europawahlen seit der ersten Direktwahl 1979 ist in der öffentlichen Debatte wenig überraschend mit zunehmender europaspezifischer Unzufriedenheit, Euroskeptizismus oder sogar Europhobie auf Seiten der Bürger in Verbindung gebracht worden (The Economist 2009; Süddeutsche Zeitung 2010).

Auch die Wissenschaft hat sich in vielfältiger Weise mit diesen populären Annahmen auseinandergesetzt. Anstatt die Höhe der Wahlbeteiligung selbst als Indikator für die Europafreundlichkeit oder -skepsis der Bürger zu interpretieren, haben Wahlforscher sich besonders mit dem Einfluss europaspezifischer Einstellungen auf die Wahlbeteiligung bei Europawahlen beschäftigt. Die Analysen auf der Aggregat- wie auf der Individualebene liefern allerdings gemischte Ergebnisse. Eine Reihe von Studien kann zeigen, dass Bewertungen der EU und des Integrationsprozesses für die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen nicht von Bedeutung sind oder kommt zumindest nicht zu eindeutigen Ergebnissen (Blumler und Fox 1982; Evans und Ivaldi 2012; Oppenhuis 1995; Schmitt 2005; Schmitt und Mannheimer 1991; Schmitt und van der Eijk 2002, 2003; Steinbrecher und Rattinger 2012b). Diese Analysen zeigen in der Regel, dass die individuelle Nichtteilnahme an Europawahlen oder niedrige Beteiligungsraten auf Länderebene auf dieselben Faktoren zurückzuführen sind wie die individuelle Abstinenz oder eine niedrige Wahlbeteiligung bei nationalen Parlamentswahlen. Die Berücksichtigung europaspezifischer Einstellungen als Prädiktoren zur Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen oder eine europaspezifische Modifikation hergebrachter Erklärungsmodelle ist also nicht nötig (Steinbrecher und Rattinger 2012b, S. 183–186). Die Interpretation von Europawahlen (und der Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen) im Kontext der nationalen Parlamentswahlen ist ohnehin im Einklang mit der nach wie vor in der Europawahlforschung omnipräsenten Haupt- und Nebenwahltheorie von Reif und Schmitt (Reif 1997; Reif und Schmitt 1980; Schmitt 2005).

Im Gegensatz dazu stellt eine andere Gruppe empirischer Arbeiten einen positiven Zusammenhang zwischen europaspezifischen Einstellungen und der Wahlbeteiligung bei Europawahlen fest: Auf der Individualebene führt dabei eine Bejahung oder positive Bewertung der europäischen Integration zu einer höheren Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung bei Europawahlen, während auf der Aggregatebene Mitgliedsländer der EU mit einer integrationsfreundlicheren Bevölkerung höhere Wahlbeteiligungsraten aufweisen (Blondel et al. 1998; Frognier 2002; Inglehart und Rabier 1979; Mattila 2003; Rabier 1984; Rosema 2007; Roth 2004; Schmitt 1996, S. 146; Steinbrecher et al. 2007, S. 273–283, 285–287; Steinbrecher und Rattinger 2012a; Stockemer 2012). Diese positiven Befunde sind im Einklang mit den theoretischen Überlegungen von Easton (1965, 1975) sowie Almond und Verba (1965), die davon ausgehen, dass politische Systeme auf eine dauerhafte Unterstützung durch ihre Bürger angewiesen sind. Dies mag für die EU besonders relevant sein, weil sie ein relativ neues politisches System ist und trotz ihres immer größer werdenden Einflusses und Gestaltungsspielraums für viele Bürger nicht besonders wichtig erscheint.

Wegen dieser demokratietheoretischen Relevanz politischer Unterstützung für die europäische Integration ist es das Hauptziel des vorliegenden Beitrags, die Bedeutung europaspezifischer Einstellungen für die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen im Zeitraum zwischen 1979 und 2009 zu untersuchen. Dabei soll sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene analysiert werden, ob eine positive Bewertung des europäischen Integrationsprozesses selbst unter Kontrolle klassischer Prädiktoren eine Rolle für die Erklärung der Wahlbeteiligung spielt. Diese Frage ist normativ wichtig, weil politische Systeme dauerhaft auf ein Mindestmaß an politischer Unterstützung angewiesen sind. Wenn sich in einigen ost- und mitteleuropäischen Mitgliedsländern der EU bei Europawahlen Wahlbeteiligungsquoten zwischen 20 und 30 % zeigen, kann mit gutem Grund gefragt werden, ob dies noch ein ausreichendes Maß an politischer Unterstützung ist. Von besonderer Bedeutung ist es daher, zu ermitteln, ob die Wahlabstinenz bei Europawahlen Ausdruck von (politischer) Unzufriedenheit ist und die Bürger sich aufgrund ihrer Abneigung gegenüber der europäischen Integration oder einer negativen Bewertung der Mitgliedschaft des eigenen Landes nicht mehr auf den Weg ins Wahllokal begeben.

Zur Untersuchung dieser Fragestellung ist der Beitrag wie folgt aufgebaut. Der nächste Abschnitt (2.) konzentriert sich auf die Darstellung theoretischer Überlegungen zum Einfluss politischer Unterstützung auf politisches Verhalten im Rahmen von Europawahlen. Zusätzlich zu diesen theoretischen Überlegungen werden im 2. Abschnitt Befunde aus der Literatur zusammengefasst, die in den Analysen verwendeten Kontrollvariablen vorgestellt und ihr Effekt auf die Beteiligung bei Europawahlen kurz begründet. Auf dieser Basis werden die Hypothesen für die Analysen im 4. Abschnitt formuliert. Der 3. Abschnitt stellt die Datenbasis vor und gibt einen Überblick über die Operationalisierung der verwendeten Variablen. Der 4. Abschnitt konzentriert sich auf die empirischen Analysen und gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil werden Modelle für die Erklärung der Wahlbeteiligung auf der Aggregatebene (4.1) für alle Europawahlen zwischen 1979 und 2009 berechnet. Der zweite Teil konzentriert sich auf die Individualebene (4.2) und die Bedeutung europabezogener Bewertungen für die individuelle Wahlbeteiligung. Der 5. und letzte Abschnitt fasst die Analyseergebnisse zusammen und diskutiert sie in einem weiteren Kontext.

2 Theorie und Hypothesen

In diesem Abschnitt soll zunächst dargelegt werden, warum europaspezifische Einstellungen aus theoretischer Perspektive einen Effekt auf die Wahlbeteiligung bei Europawahlen haben sollten. In der Einleitung wurde bereits auf die Bedeutung hingewiesen, die Medien, Politiker und die Öffentlichkeit der Beteiligung bei Europawahlen an sich sowie europaspezifischen Einstellungen im Speziellen, als Prädiktoren für die Partizipation an Europawahlen, zusprechen. Im Hinblick auf das angestrebte Niveau der Wahlbeteiligung befindet sich die bisher vorgestellte Interpretation klar im Einklang mit input-orientierten Ansätzen, die eine Maximierung politischer Beteiligung anstreben (Scharpf 1975). Nur durch eine möglichst hohe Wahlbeteiligung könne der Volkswille zustande kommen und angemessen abgebildet werden. Eine niedrige oder sinkende Wahlbeteiligung wird hingegen als Problem oder Symptom für eine politische Krise angesehen. Im Gegensatz dazu stehen output-orientierte Ansätze, für die es nicht darauf ankommt, politische Beteiligung zu maximieren, sondern ein Optimum politischer Partizipation zu erreichen. Niedrige Wahlbeteiligung ist im Sinne dieses Ansatzes kein Problem, sondern kann Ausdruck der Zufriedenheit der Bürger mit dem politischen System und den Ergebnissen der politischen Prozesse sein. Eine höhere Wahlbeteiligung wäre ein Zeichen dafür, dass die Bürger mit dem Output des politischen Systems und den Ergebnissen politischer Prozesse nicht zufrieden sind (Scharpf 1975). Dasselbe Beteiligungsniveau kann also vollkommen unterschiedlich interpretiert werden, im Kontext der Wahlbeteiligung bei Europawahlen scheinen aber input-orientierte Erwägungen zu dominieren.

Die input-orientierte Betrachtung befindet sich im Einklang mit den theoretischen Annahmen von Easton (1965, 1975) sowie Almond und Verba (1965). Unabhängig voneinander stellen diese Autoren fest, dass die Stabilität und Performanz einer Demokratie von der grundsätzlichen Bereitschaft der Bürger abhängig sind, das politische System zu unterstützen. Das bedeutet nicht, dass alle Bürger die politischen Institutionen und Repräsentanten vollkommen und bedingungslos unterstützen müssen, aber ein Minimum an Unterstützung und positiven Einstellungen zu den Akteuren des politischen Systems sind für dessen Stabilität und langfristiges Überleben unabdingbar. Dementsprechend sollten diejenigen, die mit dem politischen System der EU und seinen Outputs nicht zufrieden sind, nicht an einer Europawahl teilnehmen, während die Zufriedenen sich an der Wahl beteiligen sollten.Footnote 1 Damit zusammen hängt auch die Frage, ob die kontinuierliche Abnahme der Wahlbeteiligung bei Europawahlen seit der ersten Direktwahl im Jahre 1979 (zumindest teilweise) durch eine wachsende anti-europäische Grundstimmung zu erklären ist.

Ein hohes Ausmaß politischer Unterstützung ist für das politische System der EU von größerer Bedeutung als für die nationalen politischen Systeme. Ein Grund dafür liegt in der Neuheit der europäischen Ebene, insbesondere in den Beitrittsländern von 2004 und 2007. Eingeschränkt gilt das aber selbst noch für die Gründungsmitglieder von 1957, wenn man bedenkt, dass die erste Direktwahl zum Europaparlament erst 1979 stattgefunden hat. Hinzu kommt, dass die EU, trotz der mit jeder weiteren Vertragsrunde immer weitergehenden Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten, im alltäglichen Leben der Bürger selten vorkommt und daher keine große Rolle spielt und als nicht wichtig bzw. unwichtiger als andere politische Ebenen wahrgenommen wird (Decker et al. 2013, S. 42). Niedrige Wahlbeteiligungsraten könnten daher nur eine Konsequenz der Ignoranz oder der niedrigen wahrgenommenen Wichtigkeit dieser Wahlebene auf Seiten der Bürger sein. Die Tatsache, dass bei Europawahlen „weniger auf dem Spiel steht“, ist auch eine der zentralen Annahmen des Haupt- und Nebenwahlmodells von Reif und Schmitt (Reif 1997; Reif und Schmitt 1980; Schmitt 2005).

Für die Relevanz europaspezifischer Einstellungen zur Erklärung der Wahlbeteiligung spricht ebenfalls der Parteienwettbewerb bei europabezogenen Fragen. In einigen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, gibt es einen parteiübergreifenden Konsens hinsichtlich der europäischen Einigung. Da alle Bundestagsparteien mit Ausnahme der Linken der europäischen Integration eindeutig positiv gegenüberstehen, gibt es für Europaskeptiker oder -gegner bei Europawahlen nur die Möglichkeit, diesen Wahlen fernzubleiben, um ihrer Anti-Europahaltung Ausdruck zu verleihen – wenn sie ihre Stimme nicht an eine Partei „verschenken“ wollen, die ohnehin an der 5-Prozenthürde scheitert (Schmitt und van der Eijk 2003, S. 281–282).Footnote 2 In anderen Ländern der EU, deren Parteiensysteme europaskeptische oder anti-europäische Parteien anbieten, könnte es allerdings sein, dass europaskeptische Bürger gerade einen Anreiz dafür haben, zur Wahl zu gehen. Denn hier können sie ihrem Europaskeptizismus eine Stimme geben.

Gleichermaßen ist damit zu rechnen, dass Europawahlen ganz im Sinne der im Haupt- und Nebenwahlmodell geschilderten Mechanismen dazu genutzt werden, den Regierungsparteien der nationalen Ebene einen Denkzettel zu verpassen (Marsh 2007; Reif 1997; Reif und Schmitt 1980; Schmitt 2005), so dass europaspezifische Erwägungen wie eine positive oder negative Bewertung der europäischen Integration also keine Rolle spielen. Diese Überlegungen zeigen, dass der Einfluss europaspezifischer Einstellungen auf die Wahlbeteiligung möglicherweise mit Umfragedaten unterschätzt wird, da die verschiedenen benannten europabezogenen Wahlmotive analytisch nicht voneinander getrennt werden können.

Wie in der Einleitung bereits angedeutet, sind die Befunde hinsichtlich des Einflusses europaspezifischer Einstellungen auf die Wahlbeteiligung bei Europawahlen widersprüchlich, auch wenn, gemessen an der Anzahl, die Mehrheit der Studien einen positiven Zusammenhang bestätigen kann.Footnote 3 Gründe für die variierenden Ergebnisse sind bedingt durch Unterschiede im zeitlichen Rahmen der Studien (eine, mehrere oder alle Europawahlen werden berücksichtigt), die Zahl, Art und Operationalisierung europaspezifischer Einstellungen sowie die berücksichtigten Kontrollvariablen. Weitere Ursachen liegen in der Messung der Wahlbeteiligung (Wahlabsicht oder Rückerinnerung, Wahlbeteiligung bei einer Wahl oder Differenz der Wahlbeteiligung bei aufeinanderfolgenden Wahlen), der Modellierung der Analysen (Individual- oder Aggregatebene, Mehrebenenmodell, Zeitreihenanalyse oder Querschnitt, Strukturgleichungsmodelle) und im geographischen Referenzrahmen (Analyse auf der EU-Ebene, nach Gruppen von Mitgliedsländern oder vollständig separat nach Mitgliedsländern) (Blondel et al. 1998; Blumler und Fox 1982; Evans und Ivaldi 2012; Frognier 2002; Inglehart und Rabier 1979; Mattila 2003; Oppenhuis 1995; Rabier 1984; Rosema 2007; Roth 2004; Schmitt 1996, 2005; Schmitt und Mannheimer 1991; Schmitt und van der Eijk 2002, 2003; Steinbrecher et al. 2007, S. 273–283, 285–287; Steinbrecher und Rattinger 2012a, b; Stockemer 2012). Insofern sind die berichteten Ergebnisse in diesem Forschungszweig sehr begrenzt vergleichbar und bieten nur wenige Anhaltspunkte für ein standardisiertes Vorgehen.

Dieser Beitrag verfolgt einen umfassenden Analyseansatz und analysiert die Bedeutung europaspezifischer Unterstützung sowohl auf der Individual- als auch auf der Aggregatebene für alle Europawahlen zwischen 1979 und 2009. Der Fokus richtet sich zunächst auf die Aggregatebene. Ähnlich aufgebaute und deswegen annähernd vergleichbare Analysen haben zu folgenden Ergebnissen geführt: Mattila (2003) zeigt für die Europawahlen zwischen 1979 und 1999 einen konsistenten und stets signifikanten Effekt der Unterstützung für die EU auf die Wahlbeteiligung in all seinen Analysen, unabhängig von der Art und Menge der verwendeten Kontrollvariablen. Zu demselben Ergebnis kommen Steinbrecher und Rattinger (2012a) für die Europawahlen 1979 bis 2009 sowohl für die Länder der EU-15 (vor der ost- und ostmitteleuropäischen Beitrittsrunde 2004/2007) als auch für alle EU-Länder insgesamt. Auch Stockemer (2012) erhält mit verschiedenen Modellierungen einen positiven und signifikanten Effekt der Unterstützung für die EU auf die Wahlbeteiligung auf Länderebene bei Europawahlen zwischen 1979 und 2009. Allerdings ist die Zahl der Kontrollvariablen in diesen Analysen gering, so dass von einer Überschätzung des Einflusses EU-spezifischer Variablen auszugehen ist. Flickinger und Studlar (2007) zeigen für die Europawahl 2004 einen signifikanten bivariaten Zusammenhang auf der Aggregatebene, multivariat haben Unterstützung für die EU und europäische Identität aber keinen Einfluss auf die Wahlbeteiligung auf Länderebene. Insgesamt ergeben sich also mehrheitlich positive Effekte von EU-Unterstützung auf die nationale Wahlbeteiligung bei Europawahlen. Daraus ergibt sich

Hypothese 1:

Auf der Aggregatebene weisen Länder mit einer europafreundlicheren Bevölkerung eine höhere Wahlbeteiligung bei Europawahlen auf.

Auch auf die Wirkungsweise der Kontrollvariablen soll der Vollständigkeit halber kurz eingegangen werden: Auf der Makroebene haben sich Charakteristika des politischen Systems wie die Wahlpflicht, der Termin der Wahl oder die Möglichkeit der Briefwahl (Blais 2000; Blondel et al. 1998; Fauvelle-Aymar und Stegmaier 2008; Flickinger und Studlar 2007; Franklin 1996, 2001; Geys 2006; Mattila 2003; Oppenhuis 1995; van der Eijk et al. 1996) als wichtige Prädiktoren des Wahlbeteiligungsniveaus (im internationalen Vergleich) erwiesen, genauso wie die Lage von Europawahlen im Zyklus der nationalen Parlamentswahlen (Reif und Schmitt 1980).

Die Wahlpflicht ist in der Regel einer der stärksten Prädiktoren der Wahlbeteiligung und hat eindeutig einen positiven Einfluss auf die Höhe des Wahlbeteiligungsniveaus. Genauso ist die Wahlbeteiligung in den Ländern höher, in denen an einem Sonntag gewählt wird. Am Wochenende haben die wahlberechtigten Bürger mehr Zeit als während der Woche, um den Weg ins Wahllokal auf sich zu nehmen. Gleichzeitige landesweite Wahlen auf anderen Wahlebenen haben ebenfalls einen beteiligungsfördernden Effekt. Dies gilt besonders für Europawahlen, wenn gleichzeitig nationale Parlamentswahlen oder landesweite regionale Wahlen stattfinden, die von den Bürgern in der Regel als deutlich wichtiger wahrgenommen werden als die Wahlen für das Parlament in Straßburg und Brüssel. Auch die Tatsache, dass eine Wahl zum ersten Mal stattfindet, treibt das Beteiligungsniveau durch einen sogenannten „First-time Boost“ nach oben, weil die Bürger neugierig sind bzw. ein größeres Interesse haben (Franklin 2001, S. 312; Reif 1984, S. 7; van der Eijk et al. 1996). Ebenso spielt die Terminierung der Europawahl im Vergleich zur nationalen Parlamentswahl eine Rolle für die Höhe der Beteiligung. Gemäß dem Nebenwahlmodell von Reif und Schmitt (Reif 1984; Reif und Schmitt 1980) ist die politische Mobilisierung geringer, wenn Europawahlen zeitlich in der Nähe der Mitte des nationalen Hauptwahlzyklus stattfinden. Finden sie dagegen nahe am Wahltermin der nationalen Parlamentswahl statt, hat das eine beteiligungsfördernde Wirkung.

Zu diesen klassischen institutionellen Prädiktoren der Wahlbeteiligung auf der Aggregatebene kommen in diesem Beitrag noch drei weitere Einflussfaktoren hinzu. „Kommunistische Vergangenheit“ soll die unterschiedlichen historischen Erfahrungen und die generell niedrigere Partizipation in den ost- und ostmitteleuropäischen Beitrittsländern von 2004 und 2007 im Vergleich zu den EU-15-Ländern abbilden. Die beiden weiteren Variablen sind nationale Aggregate politischer Einstellungen und somit Ausdruck der politischen Kultur eines Landes, nämlich die Zufriedenheit mit der Arbeit des nationalen demokratischen politischen Systems und die ideologische Polarisierung, basierend auf der Links-Rechts-Skala. Zahlreiche Analysen auf der Individualebene haben gezeigt, dass die Bürger ihre Unterstützung für das nationale politische System auf die europäische Ebene transferieren. Wer also mit der Arbeit der nationalen Demokratie zufrieden ist, ist auch mit der Demokratie in der EU zufrieden und umgekehrt (Rohrschneider 2002; Sanchez-Cuenca 2000; Schmitt 2003). Sollten sich diese Ergebnisse auf die Aggregatebene übertragen lassen, dann sollten Länder mit einer höheren Zufriedenheit auf der nationalen Ebene höhere Wahlbeteiligungsquoten bei Europawahlen aufweisen. Für die ideologische Polarisierung ist davon auszugehen, dass Länder mit einer stärker ideologisch polarisierten Bevölkerung höhere Wahlbeteiligungsquoten aufweisen, weil die Bürger hier größere Anreize zur Teilnahme an einer Wahl haben als in weniger polarisierten Ländern.

Der zweite, umfassendere Teil der Analysen konzentriert sich auf europaspezifische Einstellungen und die Wahlbeteiligung einzelner Bürger. Auch hier sind die Befunde vergleichbarer Analysen nicht konsistent: So ergeben die Individualdatenanalysen von Steinbrecher und Rattinger, dass europaspezifische Einstellungen keinen Effekt auf die individuelle Wahlbeteiligung haben (2012b). Allerdings stammen die in diesen Analysen verwendeten Daten aus einer Befragung, die genau zwischen zwei Europawahlen stattgefunden hat, insofern kann insbesondere wegen der Überschätzung der abhängigen Variable von einer deutlichen Verzerrung der Analyseergebnisse ausgegangen werden. In einer anderen Analyse kommen dieselben Autoren unter Verwendung von Eurobarometer- und EES-Daten zu gegensätzlichen Befunden (2012a). Sowohl auf der Aggregat- (siehe oben) wie auf der Individualebene haben europaspezifische Einstellungen einen signifikanten Effekt auf die Wahlbeteiligung. Separate Analysen für Befragte in einzelnen Ländern zeigen, dass europabezogene Variablen nicht in allen Mitgliedsländern die individuelle Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung beeinflussen. Zuletzt kann Stockemer (2012) auch auf der Individualebene einen positiven Einfluss pro-europäischer Einstellungen identifizieren. Allerdings gilt auch für diese Analysen des Verhaltens einzelner Wähler, dass aufgrund des Fehlens einiger Standardprädiktoren der Wahlbeteiligung der Effekt EU-bezogener Variablen überschätzt wird. Insgesamt liefern die präsentierten Arbeiten also keine konsistenten Ergebnisse, aber die Evidenz zugunsten signifikanter positiver Effekte der Unterstützungsindikatoren scheint zu überwiegen. Daher folgen die Hypothesen für den Effekt der EU-Unterstützung auf die Wahlbeteiligung den oben präsentierten theoretischen Überlegungen und der Mehrheit der empirischen Ergebnisse:

Hypothese 2:

Auf der Individualebene erhöht eine positive Bewertung der EU-Mitgliedschaft die Wahrscheinlichkeit der Beteiligung an einer Europawahl.

Hypothese 3:

Auf der Individualebene erhöht eine europafreundlichere Grundstimmung in einem Land die Wahrscheinlichkeit der Beteiligung an einer Europawahl.

Sozialstruktur, gesellschaftliche Werte und Normen, instrumentelle Erwägungen, politisches Interesse und andere nicht-EU-bezogene Einstellungen sind klassische Prädiktoren der individuellen Wahlbeteiligung (z. B. Smets und van Ham 2013; Steinbrecher et al. 2007). Im Einklang mit der Literatur ist von folgenden Effekten auszugehen (vgl. z. B. die Metaanalyse von Smets und van Ham 2013): Personen mit höherer Bildung und Ältere haben eine größere Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung. Wegen des bekannten U-förmigen Zusammenhangs (Rubenson et al. 2004; Verba und Nie 1972) wird für Alter aber auch noch zusätzlich ein quadratischer Term berücksichtigt, der die Abnahme der Beteiligungsbereitschaft im hohen Alter modelliert. Befragte, die in städtischen Gebieten wohnen, haben eine geringere Wahlbeteiligung, genauso wie Angehörige niedrigerer sozialer Klassen. Religiosität, gemessen über die Kirchgangshäufigkeit oder die Selbsteinschätzung, wird als Stellvertreter für Werte- und Normengebundenheit verwendet und sollte einen positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung haben. Für die Einstellungsvariablen ist davon auszugehen, dass Personen mit einer stärkeren Bindung an eine Partei, mit einem höheren politischen Interesse oder höherer interner sowie externer Efficacy eine höhere Beteiligungswahrscheinlichkeit haben. Bürger, die mit ihrer nationalen Demokratie zufriedener sind, übertragen diese positive Bewertung auf die europäische Ebene (Rohrschneider 2002; Sanchez-Cuenca 2000; Schmitt 2003) und sollten eine größere Bereitschaft zur Teilnahme an Wahlen haben, genauso wie ideologisch extremere Befragte.

3 Daten und Operationalisierung

Die Wahlbeteiligungsquoten für die EU insgesamt wie für die einzelnen Mitgliedsstaaten in den Analysen auf der Aggregatebene stammen von den statistischen Ämtern der EU wie der Mitgliedsländer, aus der Datenbank des Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA) sowie der Webseite „Parties and Elections in Europe“ (Parties and Elections 2013). Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Wahlbeteiligung im Zeitraum zwischen 1979 und 2009. Sieht man von Belgien und Luxemburg ab, wo bei allen Wahlen die Wahlpflicht galt, ergibt sich in vielen der älteren Mitgliedsländer im Zeitverlauf eine deutliche Abnahme, beispielhaft seien hier Deutschland (von 65,7 auf 43 %) und Frankreich (von 60,7 auf 40,6 %) genannt. In Dänemark, Irland und Großbritannien hingegen bleibt die Wahlbeteiligung auf einem relativ ähnlichen Niveau. In einigen der Beitrittsländer der Erweiterungsrunde 2004/2007 ist die Teilnahme an Europawahlen besonders schwach. In Polen, Tschechien, Slowenien und Rumänien geht weniger als jeder dritte Bürger zur Wahl, in der Slowakei nicht einmal jeder fünfte.

Tab. 1 Offizielle Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 1979 bis 2009. (Quelle: Statistische Ämter der EU und der Mitgliedsstaaten, IDEA, http://www.parties-and-elections.de/)

Die Individualdaten kommen aus den Eurobarometer-Studien (EB 12, 22, 31A, 41-1) und den Europäischen Wahlstudien (European Election Studies (EES)) 1999, 2004, 2009. Alle sieben Umfragedatensätze für die Europawahlen zwischen 1979 und 2009 sind Nachwahlstudien und enthalten daher die Rückerinnerung als Operationalisierung für die Wahlbeteiligung. Auch wenn die Rückerinnerung (im Vergleich zur Wahlabsicht) als der geeignetere und zuverlässigere Indikator für die individuelle Wahlbeteiligung anzusehen ist (Steinbrecher et al. 2007, S. 115–123), wird die reale Beteiligungsquote durch die Informationen aus Umfragen in der Regel überschätzt.Footnote 4 Dies zeigt Tabelle 2, in der die Differenz zwischen der Höhe der Wahlbeteiligung in den Ländern der EU aus offiziellen Quellen und in den verwendeten Umfragen für die Europawahlen zwischen 1979 und 2009 dargestellt wird. Für die Ursprungswerte sei auf die Tabellen 1 und 9 im Anhang verwiesen. Das Ausmaß der Überschätzung erreicht häufig zweistellige Prozentpunktwerte. Schweden und Österreich sind mit 33,6 bzw. 30,9 Prozentpunkten Differenz zwischen der realen und der aus der Umfrage geschätzten Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2009 die drastischsten Beispiele. Eine Unterschätzung der Wahlbeteiligung tritt nur in wenigen Fällen für Belgien und Luxemburg, also in Ländern mit Wahlpflicht, auf. Wegen dieser systematischen Verzerrung der abhängigen Variable für die Analysen auf der Individualebene ist davon auszugehen, dass die präsentierten Ergebnisse zu konservativen Schätzungen des Effektes der unabhängigen Variablen inklusive der Bewertung der Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU führen. Für die Analysen auf der Aggregatebene gibt es solche Verzerrungen nicht.

Tab. 2 Differenz zwischen offizieller Wahlbeteiligung und der in Umfragen gemessenen Wahlbeteiligung bei Europawahlen zwischen 1979 und 2009. (Quelle: Statistische Ämter der EU und der Mitgliedsstaaten, IDEA, http://www.parties-and-elections.de/)

„Europaspezifische“ Einstellungen umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Einstellungen zur EU, ihren Institutionen und Akteuren sowie zum Prozess der europäischen Integration. Dazu zählen zum Beispiel Zufriedenheit mit der Demokratie auf europäischer Ebene, die Bewertung von und Vertrauen in Institutionen wie dem Europaparlament oder der Europäischen Kommission, Einstellungen zur Geschwindigkeit oder Tiefe des Integrationsprozesses oder die Bewertung der Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU. Diese Gruppe von Einstellungen kann aber auch kurzfristige Einstellungen wie Kandidaten- und Themenorientierungen bei Europawahlen oder Wissen über die europäische Politik, europäische Institutionen oder Mitglieder der Europäischen Kommission umfassen. Diese Vielfalt an möglichen Kandidaten macht es notwendig, eine Auswahl geeigneter Indikatoren für die Analyse zu treffen.

Für die folgenden Analysen wird mit der Frage nach der Bewertung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes einer der Standardindikatoren aus den Eurobarometern und Europäischen Wahlstudien verwendet. Hier müssen die Befragten angeben, ob die Mitgliedschaft ihres Landes ihrer Meinung nach eine gute Sache (+ 1), eine schlechte Sache (− 1) oder keines von beiden ist (0). Dieser Indikator ist besonders geeignet, da nach Easton (1965) die spezifische Unterstützung eines politischen Systems von dessen Outputs abhängig sein sollte. Die Bürger sollten also ein sehr großes Augenmerk darauf richten, wie ihr Land von der Mitgliedschaft in der EU profitiert. Daneben spricht für die Wahl dieses Indikators auch eine methodische Überlegung: Dies ist die einzige EU-spezifische Unterstützungsvariable, die über die Zeitspanne von 1979 bis 2009 in den Eurobarometern und Europäischen Wahlstudien enthalten ist. Tabelle 3 zeigt den Mittelwert des Unterstützungsindikators in den Ländern der EU im Zeitraum zwischen 1979 und 2009. Es wird deutlich, dass es mit wenigen Ausnahmen (Großbritannien, Tschechien, Schweden, Lettland) in allen Ländern der EU in den hier berücksichtigten Jahren mit Wahlen zum Europaparlament eine im nationalen Mittel eher oder stark positive Einschätzung der Mitgliedschaft in der EU gibt. Das von Easton (1965, 1975) sowie Almond und Verba (1965) geforderte Mindestmaß an Unterstützung ist somit wohl in allen Mitgliedsländern gegeben. In einigen Ländern wie zum Beispiel Dänemark oder Portugal gibt es im Zeitverlauf teilweise sehr starke Veränderungen bzw. Schwankungen.Footnote 5 Trotz der im Mittel positiven Bewertungen kann man deutlich den „Post-Maastricht-Blues“ erkennen: In fast allen Ländern erreicht der Zustimmungsindikator 1994 seinen niedrigsten Wert. Für die Aggregatanalysen wird der nationale Mittelwert über alle Befragten als Indikator verwendet, auf der Individualebene die persönliche Einschätzung der Befragten.

Tab. 3 Mittlere Unterstützung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes 1979 bis 2009. (Quelle: EB 12, 22, 31A, 41-1, EES 1999, 2004, 2009)

Auf beiden Analyseebenen wird also nur ein Indikator europaspezifischer Unterstützung verwendet und dieser einem größeren Satz an Kontrollvariablen auf Individual- und Aggregatebene gegenübergestellt. Aufgrund der longitudinalen Herangehensweise dieses Artikels ist es unmöglich, auf der Individualebene alle Standardprädiktoren der Wahlbeteiligung zu berücksichtigen. Hauptziel der Eurobarometer- und EES-Studien war nicht die Erklärung der Teilnahme an Europawahlen. Konstrukte wie die Wahlnorm, interne und externe Efficacy sowie politisches Interesse sind also gar nicht oder nur in ausgewählten Studien abgefragt worden. Dementsprechend beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Wirkung einer Variablenauswahl auf die Wahlbeteiligung bei Europawahlen. Für diese Analysen wird folglich auch zwischen zwei Modellen unterschieden. Eines enthält vollkommen identische Prädiktoren und ist über alle Europawahlen hinweg vergleichbar. Das zweite Modell verfolgt einen maximalen Anspruch und berücksichtigt alle in den jeweiligen Umfragestudien vorhandenen Variablen, ist daher also nicht über die Wahlen hinweg vergleichbar. Zu den Variablen im Basismodell gehören sowohl sozialstrukturelle Eigenschaften (Geschlecht, Alter, Bildung und Urbanisierung) als auch politische Einstellungen (Stärke der Parteiidentifikation und Demokratiezufriedenheit auf nationaler Ebene). Für das erweiterte Modell kommen Religiosität und Klasse, interne und externe Efficacy sowie politisches Interesse hinzu. Das Fehlen von wichtigen Erklärungsvariablen wie der Wahlnorm führt dazu, dass die Bedeutung europaspezifischer Einstellungen für die Erklärung der Wahlbeteiligung in diesen Analysen überschätzt wird.Footnote 6

4 Analysen

4.1 Makroanalysen

Die Regressionsanalyse in Tabelle 4 enthält die in den vorangehenden Abschnitten vorgestellten und diskutierten Prädiktoren der Wahlbeteiligung auf der Länderebene. Die Analysen wurden für alle Europawahlen zwischen 1979 und 2009 berechnet. Die ersten beiden Spalten enthalten alle Länder der EU-27, das heißt alle Mitgliedsländer der EU zum jeweiligen Zeitpunkt, während die letzten beiden Spalten sich lediglich auf die Länder der EU-9 beziehen, also eine über den ganzen Zeitraum gleichbleibende Zahl von Ländern. Die abhängige Variable ist die Wahlbeteiligung bei Europawahlen auf nationaler Ebene. Die Güte der Modelle ist bei einem korrigierten R2 von 0,71 bzw. 0,84 als sehr hoch einzuschätzen. Unterstützung für die Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU hat in beiden Modellen einen signifikanten positiven Effekt. Unter Kontrolle anderer Makroprädiktoren der Wahlbeteiligung führt eine höhere Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft zu höherer Wahlbeteiligung. Dieser beteiligungsfördernde Effekt ist mit 17,88 (Prozentpunkten) stärker in dem Modell für die EU-9 als für die EU-27 (11,1 Prozentpunkte). Gemessen an den beta-Werten ist die Unterstützungsvariable die zweit- (EU-9) bzw. viertstärkste Erklärungsvariable (EU-27) in den beiden Regressionsmodellen. Ansonsten zeigen sich für die signifikanten Prädiktoren im Modell die zu erwartenden Effekte: Es gibt einen Beteiligungsbonus, wenn Europawahlen zum ersten Mal stattfinden. Und auch die Anwendung der Wahlpflicht führt zu einer deutlich höheren Wahlbeteiligung. Im Modell für alle EU-Mitglieder hat auch die kommunistische Vergangenheit eines Landes einen Effekt. Die Wahlbeteiligung ist in diesen Ländern deutlich niedriger. Im Modell für die neun „alten“ EU-Mitglieder zeigt sich, dass der Sonntag als Wahltag die Beteiligung bei Europawahlen erhöht. Insgesamt zeigt diese Analyse auf der Aggregatebene die Bedeutung europaspezifischer politischer Unterstützung für die Wahlbeteiligung: Länder mit einer höheren Zustimmung für die Mitgliedschaft in der EU weisen eine höhere Wahlbeteiligung auf. Hypothese 1 wird also bestätigt.

Tab. 4 Erklärung der Wahlbeteiligung auf der Aggregatebene bei den Europawahlen 1979–2009

4.2 Mikroanalysen

Die Analysen in diesem Abschnitt konzentrieren sich auf die Betrachtung des Effekts europaspezifischer Einstellungen auf die individuelle Wahlbeteiligung bei den Europawahlen zwischen 1979 und 2009. Wie in Abschn. 3 angesprochen, ist die Vergleichbarkeit der Eurobarometer und Europawahlstudien über diesen Zeitraum das größte Problem für eine longitudinale Analyse der Prädiktoren der Wahlbeteiligung. Wegen der begrenzten Verfügbarkeit der einschlägigen Prädiktoren ist eine Aufteilung der Analysen unerlässlich. In einem ersten Schritt wird ein für alle Wahlen identisches Modell gerechnet. Da in diesem Modell außer der Stärke der Parteiidentifikation keiner der Standardprädiktoren aus der Gruppe der politischen Einstellungen enthalten ist, kann man davon ausgehen, dass hier die Bedeutung der Unterstützung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes überschätzt wird. Im zweiten Schritt wird dann ein Modell berechnet, das alle verfügbaren Prädiktoren auf der Individualebene einschließt. Die Ergebnisse dieser Analysen sind über die sieben Europawahlen hinweg nicht vergleichbar, bieten aber eine bessere Kontrolle und somit konservativere Schätzung des Einflusses und der Bedeutung europaspezifischer Einstellungen für die Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament. Im dritten Schritt werden dann in dieses Modell noch Prädiktoren der Aggregatebene aus dem Modell in Abschn. 4.1 integriert, um länderspezifische Unterschiede besser erklären zu können.

Die Tabellen 5, 6 und 7 zeigen die unstandardisierten logistischen Regressionskoeffizienten für die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen in den einzelnen Wahljahren für das über alle Wahlen vergleichbare Modell (Tab. 5), das Modell mit allen verfügbaren Prädiktoren auf der Individualebene (Tab. 6) und dieses Modell inklusive Variablen auf der Aggregatebene (Tab. 7). Die Analysen berücksichtigen die Klumpung der Befragten auf der Länderebene und in der Analyse nicht explizit eingeschlossene länderspezifische Einflussfaktoren (geclusterte logistische Regression). Die Zweiebenenstruktur der Daten wird so adäquat abgebildet, eine explizite Mehrebenenanalyse ist aufgrund der geringen Zahl an Ländern nicht möglich (Maas und Hox 2005). Da mit den logistischen Regressionskoeffizienten nur Informationen über die Signifikanz und Richtung der Effekte der einzelnen Variablen gewonnen werden können, werden zusätzlich noch durchschnittliche marginale Effekte berechnet, mit denen sich auch die relative Bedeutung von Variablen im Vergleich zu anderen Prädiktoren feststellen lässt. Wegen des Fokus dieses Beitrags auf die Bedeutung europaspezifischer Einstellungen, wird auf eine vollständige Präsentation der durchschnittlichen marginalen Effekte für alle Variablen in den jeweiligen Modellen verzichtet. Tabelle 8 enthält daher lediglich Informationen zum Einfluss der EU-Unterstützungsvariable und zum Rangplatz des durchschnittlichen marginalen Effekts für diese Variable im Vergleich zu den anderen Prädiktoren.Footnote 7

Tab. 5 Erklärung der Wahlbeteiligung auf der Individualebene bei den Europawahlen 1979–2009, vergleichbares Modell (Basismodell) über alle Europawahlen. (Quelle: EB 12, 22, 31A, 41-1, EES 1999, 2004, 2009)
Tab. 6 Erklärung der Wahlbeteiligung auf der Individualebene bei den Europawahlen 1979–2009, Maximal-Modell. (Quelle: EB 12, 22, 31A, 41-1, EES 1999, 2004, 2009)
Tab. 7 Erklärung der Wahlbeteiligung auf der Individualebene bei den Europawahlen 1979–2009, Maximal-Modell und zusätzliche Prädiktoren der Aggregatebene. (Quelle: EB 12, 22, 31A, 41-1, EES 1999, 2004, 2009)
Tab. 8 Durchschnittliche marginale Effekte der EU-Unterstützungsvariable auf die individuelle Wahlbeteiligung bei Europawahlen und ihre relative Bedeutung. (Quelle: EB 12, 22, 31A, 41-1, EES 1999, 2004, 2009)

Die Ergebnisse für das Basismodell in Tabelle 4 zeigen für alle Europawahlen zwischen 1979 und 2009 einen positiven signifikanten Effekt des Unterstützungsindikators für die EU-Mitgliedschaft. Personen, welche die Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU positiv bewerten, zeigen also eine größere Bereitschaft, sich an der Europawahl zu beteiligen. Gemessen an den durchschnittlichen marginalen Effekten ist der Einfluss dieses Indikators bei den Wahlen 1979 (0,133) und 1984 (0,126) besonders stark (Tab. 8). Ab 1989 schwächt sich die Bedeutung der Zufriedenheit mit der Mitgliedschaft des eigenen Landes in der EU für die Erklärung der Wahlbeteiligung ab. Eine Verbesserung der Bewertung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes um einen Skalenpunkt erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung durchschnittlich zwischen 4,6 und 7,7 Prozentpunkten. Allerdings ist die europaspezifische Einstellung damit immer noch der zweit- oder drittstärkste Prädiktor im Basismodell. Aufgrund des Fehlens wichtiger Erklärungsvariablen der Wahlbeteiligung wird das Modell eindeutig von der Stärke der Parteiidentifikation dominiert. Erwartungsgemäß haben Befragte mit einer starken Parteibindung eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, an einer Europawahl teilzunehmen.

Für eine konservativere Schätzung der Bedeutung europaspezifischer Einstellungen für die Erklärung der Wahlbeteiligung auf Individualebene sei auf Tabelle 6 verwiesen. Hier werden zusätzliche politische Einstellungen und sozialstrukturelle Eigenschaften in der Analyse berücksichtigt, die allerdings dazu führen, dass die Modelle über die Wahlen hinweg nicht mehr vergleichbar sind. Auch in diesen umfassenderen Modellen zeigt sich stets ein positiver signifikanter Effekt des EU-Unterstützungsindikators. Europaskeptiker sind demnach weniger bereit zur Beteiligung an Europawahlen als Europabefürworter. Die relative Stärke und Bedeutung der hier verwendeten europaspezifischen Einstellung ist insbesondere bei den Wahlen ab 1989 relativ gering (Tab. 8): Die durchschnittlichen marginalen Effekte variieren zwischen 3,6 und 6 Prozentpunkten. Der Rangplatz der EU-Unterstützung in der Reihe der Prädiktoren der Beteiligung bei Europawahlen schwankt zwischen 3 und 6. Bei zusätzlicher Berücksichtigung einiger klassischer Erklärungsvariablen der Wahlbeteiligung nimmt also – wenig überraschend – die relative Bedeutung EU-spezifischer Unterstützung als Prädiktor des Urnengangs bei Europawahlen ab. Wesentlich wichtiger für die Vorhersage der Stimmabgabe sind andere, nicht-europabezogene politische Einstellungen wie die Stärke der Parteiidentifikation, das politische Interesse oder interne und externe Efficacy, die alle in der erwarteten Richtung auf die individuelle Bereitschaft zur Wahlteilnahme einwirken.

Die Erweiterung des Analysemodells um die Prädiktoren auf der Aggregatebene aus Abschn. 4.1 führt zu einem weiteren relativen Bedeutungsverlust der individuellen Unterstützung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes für die Erklärung der Wahlbeteiligung. Der Effekt dieser Variable ist für die einzelnen Wahljahre immer noch durchgängig positiv und stets statistisch signifikant (Tab. 7), aber die durchschnittlichen marginalen Effekte bewegen sich nur noch im Bereich zwischen 2,6 und 8,7 Prozentpunkten (Tab. 8). Wie für die weniger komplexen Modellierungen zeigt sich auch hier insbesondere ab der Europawahl 1989 ein vergleichsweise schwacher Erklärungsbeitrag des EU-Indikators für die Erklärung der Wahlbeteiligung. Im Vergleich zu den anderen Prädiktoren im Modell rangiert die Erklärungsleistung – mit Ausnahme der ersten Wahl 1979 – stets auf dem 7. Platz oder schlechter. Neben den allgemeinen politischen Einstellungen sind auch einige der Makrofaktoren wichtiger für die Vorhersage der individuellen Wahlbeteiligung als pro- oder antieuropäische Orientierungen.

Interessant ist zuletzt noch ein Blick auf den Einfluss der Unterstützung der EU auf Landesebene auf die individuelle Neigung, an Europawahlen teilzunehmen. Diese Variable hat mit Ausnahme der Wahl 2004 nie einen signifikanten Effekt. Bei dieser Wahl ist die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung in europafreundlicheren Ländern höher. Die generelle europapolitische Stimmung in einem Land hat also nur in ausgewählten Fällen eine Wirkung auf individuelle Wahlentscheidungen bei Europawahlen. Hypothese 3 kann also im Gegensatz zu den Hypothesen 1 und 2 nicht bestätigt werden.

Insgesamt zeigt sich, dass europaspezifische Einstellungen für die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen zwischen 1979 und 1984 deutlich wichtiger waren als bei den Wahlen seit 1989. Betrachtet man nur die Länder, die 1979 schon EU-Mitglied waren, über den gesamten Zeitraum, zeigt sich eine vollständig identische Entwicklung. Das Niveau der marginalen Effekte weicht (bis auf eine Ausnahme) für diese neun Länder lediglich um maximal einen Prozentpunkt von den Werten in Tabelle 8 ab (tabellarisch nicht ausgewiesen). Dieser Vergleich zeigt, dass Kompositionseffekte nicht die Ursache für den deutlich geringeren Erklärungsbeitrag des Unterstützungsindikators seit 1989 sein können, sondern dass es allgemeine Trends oder Periodeneffekte geben muss – genau ist das aber mit dem hier gewählten Analysedesign nicht zu identifizieren.

5 Zusammenfassung und Diskussion

Ziel dieses Beitrages war es, den Einfluss europaspezifischer Einstellungen auf die Wahlbeteiligung bei Europawahlen zwischen 1979 und 2009 zu analysieren. Die verschiedenen Analysen zeigen eindeutig, dass Unterstützung für Europa und positive Bewertungen der europäischen Integration von Bedeutung für die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen sind. Während auf der Aggregatebene europafreundlichere Länder ein höheres Beteiligungsniveau bei den Wahlen zum Brüsseler und Straßburger Parlament aufweisen, ergibt sich für die Individualebene, dass Befragte, welche die europäische Integration positiv bewerten, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, sich an Europawahlen zu beteiligen. Dieser Befund bestätigt sich auch, wenn man einen umfassenden Satz an Prädiktoren auf der Individual- und Aggregatebene als Kontrollvariablen mit in die Analysen einschließt. Damit sind die hier präsentierten Ergebnisse im Einklang mit der Mehrheit der Beiträge in diesem Forschungszweig (Blondel et al. 1998; Frognier 2002; Inglehart und Rabier 1979; Mattila 2003; Rabier 1984; Rosema 2007; Roth 2004; Schmitt 1996, S. 146; Steinbrecher et al. 2007, S. 273–283, 285–287; Steinbrecher und Rattinger 2012a; Stockemer 2012).

Unterstützung für die EU ist allerdings nur ein relevanter Prädiktor für die Wahlbeteiligung unter vielen und auch in der Regel nicht der erklärungsstärkste, d. h. weitgehend lässt sich die individuelle Abstinenz bei Europawahlen bzw. niedrigere nationale Beteiligungsraten durch dieselben Faktoren erklären wie die Wahlbeteiligung bei nationalen Parlamentswahlen. Dennoch erscheint es auf der Basis der hier präsentierten Ergebnisse ratsam, Modelle zur Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen um europaspezifische Einflussfaktoren zu ergänzen, also stärker ebenenspezifisch zu denken und zu modellieren.

Ein weiteres eindeutiges Ergebnis der Analysen ist, dass die Bedeutung des EU-Unterstützungsindikators, unabhängig von der Zahl und der Art der verwendeten Kontrollvariablen, seit der Europawahl 1989 deutlich geringer als bei den ersten beiden Wahlen 1979 und 1984 ist. Über Gründe für die Bedeutungsabnahme kann an dieser Stelle nur spekuliert werden: Zum einen wird die europäische Ebene von den Bürgern als unwichtiger wahrgenommen als die nationale oder die regionale Ebene (Decker et al. 2013, S. 42) und das trotz einer objektiv gestiegenen Wichtigkeit des Europäischen Parlaments im Untersuchungszeitraum. Möglicherweise scheinen die Bürger gelernt zu haben, dass Europawahlen im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen keine große Bedeutung haben und die Konsequenzen der Wahlergebnisse sich in sehr engen Grenzen halten. So haben weder Integrationsbefürworter noch -gegner einen großen Anreiz, an Europawahlen teilzunehmen. Zum anderen könnten Europaskeptiker in vielen europäischen Ländern bei den Europawahlen seit Ende der 1980er Jahre einen größeren Anreiz gehabt haben, ihre Stimme bei Europawahlen abzugeben, haben sich doch in vielen Ländern europaskeptische oder anti-europäische Parteien im Parteiensystem etabliert. Insofern könnte Gegnerschaft oder Skepsis gegenüber der europäischen Integration bei den zurückliegenden Wahlen zum Europäischen Parlament auch ein explizites Motiv für eine Stimmabgabe gewesen sein. Dies würde erklären, warum der Zustimmungsindikator in den hier präsentierten Analysen relativ gesehen unwichtiger für die Erklärung der Wahlbeteiligung wird.

Hier wäre ein Ansatzpunkt für weiterführende Analysen im Kontext der in diesem Artikel bearbeiteten Fragestellung. Wie in den vorangehenden Abschnitten mehrfach erwähnt, fehlen in den verwendeten Umfragestudien wichtige Prädiktoren der Wahlbeteiligung auf der Individualebene. Daher ist davon auszugehen, dass der Einfluss des hier genutzten europaspezifischen Indikators auf die Wahlbeteiligung überschätzt wird. Zukünftige Europawahlstudien sollten sich darum bemühen, alle Standardprädiktoren der Wahlbeteiligung einzubeziehen und so angemessenere Erklärungsmodelle möglich zu machen.

Hinzu kommt, dass bei der großen Zahl an Befragten in den verwendeten Individualdatensätzen (insbesondere nach der EU-Osterweiterung 2004/2007) jeder nur annähernd starke Effekt in einem globalen Modell für Befragte in allen EU-Ländern hergebrachte statistische Signifikanzkriterien nahezu automatisch erfüllt. Vergleichbare Analysen für die EU-9 (siehe 4.2) wie auf der Länderebene zeigen allerdings (Steinbrecher und Rattinger 2012a), dass auch bei disaggregierter bzw. länderspezifischer Betrachtung in einer Vielzahl von Ländern und Wahljahren signifikante positive Effekte europaspezifischer Einstellungen auf die individuelle Wahlbeteiligung festgestellt werden können. Hier wäre besonders eine langfristige Untersuchung auf der Länderebene gewinnbringend. Denn wie Tabelle 3 zeigt, bewerten die Europäer in allen Ländern über den ganzen Untersuchungszeitraum die Mitgliedschaft des eigenen Landes zwar positiv, allerdings auf sehr unterschiedlichem Niveau. Gegebenenfalls würden sich auf Länderebene wesentlich pointiertere Effekte zeigen, die sich auf europäischer Ebene gegenseitig neutralisieren.

Weiterhin hätten auf der Aggregatebene zusätzliche Prädiktoren in den Modellen berücksichtigt werden können. Verschiedene Beiträge haben die Relevanz ökonomischer Indikatoren für die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen bestätigen können (z. B. Fauvelle-Aymar und Stegmaier 2008; Flickinger und Studlar 2007; Stockemer 2012). Diese könnten als objektive Indikatoren des Nutzens der EU-Mitgliedschaft besonders gut als Kontrollvariablen des hier verwendeten Mitgliedschaftsindikators dienen.

Beleuchtet man die hier präsentierten Ergebnisse aus einer normativen Perspektive, so müssen sich Befürworter der europäischen Integration wie Vertreter der europäischen Institutionen trotz des niedrigen und über die Zeit gesunkenen Niveaus der Wahlbeteiligung bei Europawahlen zumindest keine Sorgen darüber machen, dass Europaskeptizismus eine wesentliche Ursache der Wahlabstinenz ist. Vielmehr ist dies nur ein Motiv unter vielen. Ob dies angesichts der weiter schwelenden Eurokrise auch weiterhin zutrifft, werden die Europawahl 2014 und weitere empirische Analysen zeigen müssen.