1 Einleitung

Ausgehend von der Annahme, dass subjektive Einstellungen und Überzeugungen einen wesentlichen Prädiktor für konkretes Verhalten darstellen, sind Einstellungen in der Inklusionsforschung zu einem vielbeforschten Gegenstand geworden. Im Fokus stehen dabei insbesondere Einstellungen zu (schulischer) Inklusion (z. B. McElvany et al. 2018), aber auch Einstellungen zu Menschen mit Behinderung werden in diesem Zusammenhang als wichtiger Faktor angesehen (§ 8 UN-BRK; Zick 2017). Zu den empirischen Korrelaten von positiven behinderungsbezogenen Einstellungen gehören u. a. der Kontakt zu Menschen mit Behinderung und das Wissen über Behinderung (Wang et al. 2021).

Ein wichtiges Kontaktsetting bildet dabei das freiwillige soziale Engagement (McConkey et al. 2021). Eine in Deutschland etablierte Möglichkeit des sozialen Engagements ist das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ), in dem Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ein klassisches Betätigungsfeld sind und in dem die Freiwilligen während ihres Einsatzes, u. a. durch regelmäßige Bildungsseminare, pädagogisch begleitet werden. Ausgehend von der Kontakthypothese (Allport 1954) kann angenommen werden, dass durch den persönlichen, langfristigen Kontakt mit Menschen mit Behinderung Vorurteile abgebaut und emotionale Bindungen aufgebaut werden und sich dadurch behinderungsbezogene Einstellungen im Allgemeinen positiv entwickeln (Krahé 2020). Da auch die Reflexion eigener Kontakterfahrungen und der Erwerb von Wissen über andere soziale Gruppen zu Veränderungen von Einstellungen beitragen (Pettigrew 1998; Reinders 2019; Yorio und Ye 2012), ist zu erwarten, dass die pädagogische Begleitung im FSJ entsprechende Einstellungsentwicklungen initiieren und unterstützen kann.

Die Annahme, dass strukturierte (Jugend‑)Freiwilligendienste wie das FSJ zu positiveren Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung führen, wurde empirisch bislang nur in Ansätzen untersucht (Bußmann 2020; Huth et al. 2015; Meyer und Willems 2022, im Druck). Zwar liefern internationale Studien Evidenz für entsprechende Wirkungen didaktisch begleiteter Kontaktinterventionen (z. B. Lawson et al. 2017; Wozencroft et al. 2015), jedoch stellt das FSJ demgegenüber ein vergleichsweise heterogenes Kontaktsetting dar: Der Einsatz kann im Krankenhaus ebenso wie im heilpädagogischen Kindergarten oder einer Wohnstätte für Erwachsene mit Behinderung erfolgen und die Inhalte der Begleitseminare sind nicht im Sinne eines standardisierten Curriculums festgelegt (Huth et al. 2015). Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass nicht alle FSJ-Teilnehmenden auf gleiche Weise Einstellungsveränderungen durchlaufen.

Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag den Fragen nach, (i) welche (verschiedenen) Entwicklungsverläufe von behinderungsbezogenen Einstellungen im Verlauf eines FSJ auftreten und (ii) mit welchen personalen und kontextbezogenen Faktoren diese Entwicklungsverläufe assoziiert sind. Hierfür werden die Daten des Projekts EFBI (Einstellungen von FSJler*innen zu Behinderung und Inklusion), in dem N = 538 junge Freiwillige zu Beginn, in der Mitte und am Ende ihres FSJ (Jahrgang 2017/18) mit einem standardisierten Erhebungsinstrument befragt wurden, genutzt und mittels Latent Class Growth-Analysen (Jung und Wickrama 2008) ausgewertet. Im Folgenden werden zunächst Freiwilligendienste als Lernorte skizziert und theoretische Erklärungsansätze zum Einfluss von freiwilligem Engagement auf Einstellungen zu anderen sozialen Gruppen diskutiert. Anschließend werden empirische Befunde zu Einstellungen von Freiwilligen und deren Veränderungen dargestellt, bevor spezifisch auf Effekte von Kontaktinterventionen auf behinderungsbezogene Einstellungen eingegangen wird. Daraufhin werden die eigenen Analysen zu Entwicklungsverläufen von Einstellungen im Kontext eines FSJ vorgestellt, deren Ergebnisse abschließend mit Blick auf das Potenzial von Freiwilligendiensten für die Förderung positiver Einstellungen zu Menschen mit Behinderung diskutiert werden.

2 Theoretischer und empirischer Hintergrund

2.1 Freiwilligendienste als Lernort und Kontaktsetting

Aus lerntheoretischer Perspektive ist das freiwillige Engagement ein Kontext, der Prozesse informellen Lernens initiiert: Durch die Übernahme neuartiger, oftmals verantwortungsvoller Aufgaben erwerben die Freiwilligen personale, soziale und praktische Kompetenzen bzw. entwickeln diese weiter (Düx und Sass 2005). Strukturierte Freiwilligendienste wie das FSJ sind zudem explizit an Lernzielen orientiert, etwa dem Erwerb von „sozialen […] Kompetenzen“, „Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl“ (§ 3 JFDG, Abs. 2) und der „Persönlichkeitsbildung“ (§ 5 JFDG, Abs. 4), was in der Integration von Bildungsseminaren sowie der pädagogischen Begleitung der Freiwilligen (§ 5 JFDG) Ausdruck findet und Parallelen zum Service Learning (Reinders 2010) aufweist. Inzwischen absolvieren mehr als 8 % der jungen Erwachsenen einen staatlich geförderten Freiwilligendienst (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022).

Empirische Studien zu Effekten von Freiwilligendiensten nehmen bislang v. a. individuelle fachliche und soziale Kompetenzen in den Blick (z. B. Göring und Mutz 2016), aber auch Veränderungen von Einstellungen gegenüber anderen sozialen Gruppen werden als ein potenzieller Effekt von Lernprozessen im Rahmen freiwilligen Engagements diskutiert (Reinders 2019). Einstellungen lassen sich als eine evaluative Reaktion auf ein konkretes oder abstraktes Objekt beschreiben, die sich in Emotionen bzw. Überzeugungen diesem gegenüber ausdrückt (Maio und Haddock 2015). Auch wenn der Einfluss von (negativen) Einstellungen auf Verhalten theoretisch bislang nicht befriedigend geklärt ist, zeigen verschiedene Studien, dass Vorurteile zu diskriminierendem Verhalten führen können (Schütz und Six 1996). So wurde in einem Experiment z. B. älteren oder älter aussehenden Personen eine geringere Leistungsfähigkeit unterstellt, weshalb sie seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen wurden als jüngere Personen (Krings et al. 2011). Ähnliche Vorbehalte existieren auch gegenüber Menschen mit Behinderung, was Zick (2017) als Hindernis im Inklusionsprozess bewertet. Dass Prozesse sozialer Wahrnehmung dabei nicht bewusst erfolgen müssen, um verhaltenswirksam zu sein, verdeutlichen Studien zu Stereotypen (Schmid Mast und Krings 2020).

Theoretisch-konzeptuell werden Lernprozesse im Freiwilligendienst, die zu einer veränderten Wahrnehmung im interpersonalen Bereich führen, v. a. mit den dabei gemachten Kontakterfahrungen erklärt: Die Kontakthypothese (Allport 1954) postuliert, dass positiv erlebter Kontakt zu Angehörigen anderer sozialer Gruppen zu positiveren Einstellungen gegenüber der anderen Gruppe als Ganzes führt. Empirisch konnte dieser Effekt für verschiedene Kontexte belegt werden (Lemmer und Wagner 2015; Pettigrew und Tropp 2006), wobei die genauen Mechanismen und Bedingungen, unter denen er auftritt – etwa, welchen Beitrag De- oder Rekategorisierungsprozesse leisten –, nach wie vor nicht abschließend geklärt sind (Paluck et al. 2019). Anzunehmen ist, dass Einstellungsveränderungen insbesondere dann zu erwarten sind, wenn zuvor negative Einstellungen bzw. Vorurteile gegenüber der anderen Gruppe bestanden und neue Erfahrungen bzw. Informationen kognitive Dissonanz auslösen (Festinger 1957; siehe auch Hodson et al. 2013). Speziell für den Kontext gemeinnütziger Tätigkeit nimmt Reinders (2019) zudem an, dass Kontakt zur Reflexion von Stereotypen und zur Sensibilisierung für soziale Fragen beiträgt.

Bei der empirischen Untersuchung dieser Fragen sind insbesondere bei Stichproben von Freiwilligen Selektionseffekte zu berücksichtigen: Verschiedene Studien zeigen, dass Engagierte sich in einstellungsbezogenen Aspekten, z. B. ihrer Toleranz gegenüber Minderheiten (Götz 2017), von Nicht-Engagierten unterscheiden (Blinkert und Klie 2018; Meyer et al. 2019), wobei sich auch innerhalb von Freiwilligenstichproben Unterschiede je nach Inhalt der freiwilligen Tätigkeit finden (Reinders und Christoph 2012). Freiwilliges Engagement kann vorhandene Dispositionen aber durchaus verstärken und, ähnlich wie es sich in anderen Studien zur Kontakthypothese zeigt (Zhou et al. 2018), auch Effekte auf Dritte haben: So berichten Polak et al. (2017) infolge eines Auslandsfreiwilligendienstes u. a. von stärkerer Empathie mit den Menschen im Einsatzland – und dies nicht nur von den Freiwilligen selbst, sondern auch von Personen in deren direktem Freundeskreis (siehe auch Götz 2017).

Auch die Ergebnisse der Metaanalyse von Yorio und Ye (2012) sprechen für positive Effekte von freiwilligem Engagement auf soziale Einstellungen und verweisen darüber hinaus auf die Bedeutsamkeit von Diskussions- und Reflexionsmöglichkeiten für Freiwillige. Entsprechende Untersuchungen zum Einfluss der didaktisch-pädagogischen Begleitung des FSJ und ähnlichen Freiwilligendiensten stehen zwar noch aus, Befragungen zu Seminarinhalten und -evaluationen zeigen aber bereits, dass gesellschaftspolitische Themen und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven darin eine wichtige Rolle spielen (Huth et al. 2015; Nugel und Kreuzer 2018). Dass (Jugend‑)Freiwilligendienste biographisch gesehen zudem eine Zeit des Übergangs darstellen – meist zwischen Schule und Studium bzw. Ausbildung – könnte die Offenheit für und den Effekt von entsprechenden Lernprozessen verstärken (Hof und Bernhard 2022).

2.2 Einstellungen von Freiwilligen zu Menschen mit Behinderung

Basierend auf der Kontakthypothese (Allport 1954) lässt sich annehmen, dass Freiwilligendienste eine positive Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung fördern können – insbesondere dann, wenn Freiwillige in diesem Rahmen zum ersten Mal intensiven Kontakt zu Menschen mit Behinderung auf täglicher Basis erleben. Von der didaktisch-pädagogischen Begleitung im FSJ sollte dabei eine verstärkende Wirkung auf entsprechende Entwicklungsprozesse ausgehen, etwa durch die Anregung von Reflexion von Stereotypen (Reinders 2019; Yorio und Ye 2012). Auch bei denjenigen Freiwilligen, die in ihrer praktischen Tätigkeit weniger in Kontakt mit Menschen mit Behinderung kommen, könnten über den Austausch in den Seminaren Einstellungsveränderungen initiiert werden (Polak et al. 2017; Zhou et al. 2018).

Empirisch wurden diese Annahmen im deutschen Sprachraum bislang kaum systematisch untersucht; dass Kontakt zu Menschen mit Behinderung generell in Zusammenhang mit positiveren behinderungsbezogenen Einstellungen steht, ist jedoch bereits gut belegt (Wang et al. 2021; Yuker 1994) und Kontaktinterventionen werden überwiegend positive Effekte bescheinigt (Krahé 2020; siehe auch Paluck et al. 2019). Ergebnisse internationaler Studien sind aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen des Engagements zwar nur bedingt auf das FSJ übertragbar, liefern aber Evidenz dafür, dass auch Freiwilligenarbeit als Kontaktsetting entsprechende Einstellungsveränderungen induzieren kann: So berichten Fichten et al. (2005) eine verringerte soziale Distanz gegenüber Menschen mit Behinderung nach ehrenamtlichem Tutoring von Schülerinnen und Schülern mit physischer Behinderung. Ebenso konnten Kropp und Wolfe (2018) eine positivere Reaktion auf Menschen mit Behinderung nach einem einwöchigen Einsatz in einem Feriencamp für Erwachsene mit verschiedenen Behinderungen nachweisen. Hinweise darauf, dass in diesem Zusammenhang auch didaktische Begleitveranstaltungen von Bedeutung sein könnten, liefern Studien aus dem Bereich Service Learning, die für eine Kombination aus Kontakterfahrungen, etwa im inklusiven Community Service (Lawson et al. 2017; Miller et al. 2002) oder in der Ferienbetreuung Minderjähriger mit Behinderung (Wozencroft et al. 2015), und Seminaren zum Thema Behinderung Effekte auf Einstellungen zeigen. Tatsächlich können sogar Programme, die ohne Kontaktintervention für behinderungsbezogene Belange sensibilisieren, Einstellungen zu Menschen mit Behinderung verbessern (Rillotta und Nettelbeck 2007). Bogart et al. (2022) berichten in diesem Zusammenhang, dass die Verbesserung behinderungsbezogener Einstellungen von Studierenden, die von einer Lehrkraft mit (sichtbarer) Behinderung unterrichtet wurden, von Änderungen des eigenen Behinderungsverständnisses mediiert wurde und entsprechend bei denjenigen stärker ausfiel, deren Seminar Behinderung als soziale Konstruktion zum Thema hatte.

Daneben existieren jedoch auch Studien, die keine Einstellungsveränderungen infolge freiwilliger Arbeit mit Menschen mit Behinderung finden (Zychlinski et al. 2016). Dies gilt auch für die Ergebnisse erster empirischer Untersuchungen zum FSJ, die allerdings nur auf einer geringen Teilnehmendenzahl von n = 9 (Bußmann 2020) bzw. einem einzelnen Item (Huth et al. 2015) beruhen. Erste Analysen aus dem Projekt EFBI, das sich der Frage nach Einstellungsveränderungen im FSJ anhand einer größeren Stichprobe und eines umfangreichen standardisierten Fragebogens (Willems et al. 2021) widmet, deuten ebenfalls darauf hin, dass entsprechende Einstellungen überwiegend zeitstabil sind, verweisen aber gleichzeitig auf die Unterschiedlichkeit von Einstellungsentwicklungen und deren Zusammenhänge mit Personen- und Kontextmerkmalen (Meyer und Willems 2022, im Druck). Allerdings wurden im Projekt EFBI bislang keine latenten Längsschnittanalysen vorgenommen.

3 Fragestellungen

Die vorangegangenen Ausführungen verdeutlichen das Potenzial von (pädagogisch-didaktisch begleiteten) Freiwilligendiensten, die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung positiv zu verändern. Im Kontext eines FSJ sind die entsprechenden Einflussfaktoren auf Einstellungen dabei sehr heterogen ausgeprägt: Nicht nur unterscheiden sich die Vorerfahrungen und die motivationalen Ausgangsvoraussetzungen der Freiwilligen, auch die Vielfalt der Einsatzstellen ist hoch, sodass z. B. Freiwillige in einer Wohnstätte für Menschen mit Schwerbehinderung ein deutlich anderes Kontaktsetting erleben als Freiwillige in einer integrativen Kindertagesstätte. Zudem variieren auch die spezifischen Themen, mit denen die Freiwilligen sich in den Begleitseminaren auseinandersetzen. Es ist daher anzunehmen, dass die Richtung und Stärke von möglichen Einstellungsveränderungen im FSJ in Abhängigkeit von den personalen und kontextuellen Faktoren variieren. Darüber hinaus können mögliche Veränderungen auf verschiedene Aspekte von behinderungsbezogenen Einstellungen bezogen sein: Verändern sich die Einstellungen zum Positiven, sollten Menschen mit Behinderung stärker wertgeschätzt und als Bereicherung (anstelle etwa als Belastung) empfunden werden. Daneben kann sich auch das subjektive Behinderungsverständnis wandeln: Durch den persönlichen Kontakt, möglicherweise verstärkt durch die didaktische Begleitung, können Gemeinsamkeiten bewusster werden und Menschen mit und ohne Behinderung weniger als kategorial unterschiedlich bzw. weniger als „clearly defined groups“ (Pettigrew und Tropp 2006, S. 754) betrachtet werden, was stärker personalisierte denn stereotype Wahrnehmungsprozesse nahelegen würde (vgl. Schmid Mast und Krings 2020; Reinders 2019). Beides ist bislang nur in Ansätzen systematisch untersucht worden (Meyer und Willems 2022, im Druck), sodass wir in diesem Beitrag folgenden Fragestellungen nachgehen:

  1. 1.

    Welche latenten Entwicklungsverläufe von behinderungsbezogenen Einstellungen (Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung (i) als gleich bzw. (ii) als Bereicherung) lassen sich bei Teilnehmenden am FSJ empirisch unterscheiden?

  2. 2.

    Wie unterscheiden sich die latenten Entwicklungsverläufe von Einstellungen hinsichtlich

    1. a)

      individueller Eingangsvoraussetzungen und Arbeitsbereiche im FSJ (demographische Merkmale, Motivation, Einsatzstelle),

    2. b)

      kontaktbezogener Faktoren (Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung vor und im FSJ) und

    3. c)

      seminarbezogener Faktoren (Auseinandersetzung mit Behinderung und Inklusion in den Begleitseminaren)?

4 Methodik

4.1 Untersuchungsdesign und Stichprobe

Die Datengrundlage unserer Analysen bildet die längsschnittlich angelegte Studie EFBI (Einstellungen von FSJler*innen zu Behinderung und Inklusion), an der insgesamt N = 538 Jugendliche und junge Erwachsene während des FSJ-Zyklus 2017/18 teilnahmen. Die Daten wurden mittels eines standardisierten Fragebogens (Willems et al. 2021) zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Freiwilligendienstes im Rahmen der obligatorischen Begleitseminare zweier niedersächsischer Träger von Freiwilligendiensten erhoben.Footnote 1 Von den Befragten gaben 64 % ‚weiblich‘ als Geschlecht an und 35 % ‚männlich‘; das Durchschnittsalter betrug zu Beginn des Dienstes M = 18,79 (SD = 2,41) Jahre. Etwa zwei Drittel (68 %) haben die Schule mit Abitur abgeschlossen, 25 % verfügen über die Mittlere Reife.

Gut ein Drittel (36 %) der Freiwilligen verrichtete den Dienst in Wohnstätten, Tagespflege- bzw. Fördereinrichtungen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung, ein Viertel (24 %) arbeitete in Förderschulen, heilpädagogischen bzw. integrativen Kindertagesstätten oder begleitete Schüler*innen mit Behinderung in Regelschulen. Der verbleibende Teil der befragten Freiwilligen war überwiegend in Krankenhäusern und Kindertagesstätten ohne Inklusionsbezug eingesetzt. Etwa die Hälfte (52 %) gab an, ihre Einsatzstelle aus Interesse an dem Arbeitsbereich gewählt zu haben. Hinsichtlich der generellen Motivation für die Aufnahme eines FSJ wurde von 65 % Berufsorientierung als (ein) Grund genannt; darüber hinaus spielten bei jeweils etwa einem Drittel die Empfehlung anderer (37 %), verbesserte Chancen auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz (41 %) oder die Motivation, etwas Soziales zu tun (41 %), eine Rolle.

4.2 Erhebungsinstrumente

4.2.1 Behinderungsbezogene Einstellungen

In EFBI wurden verschiedene behinderungsbezogene Einstellungen erhoben. Für die vorliegenden Analysen wurden zwei Dimensionen berücksichtigt, für die auf Basis der theoretischen Überlegungen zu möglichen Einstellungsveränderungen und bezugnehmend auf mündliche Selbstberichte von FSJ-Absolvierenden (siehe Meyer et al. 2021) neue Skalen entwickelt wurden (Tab. 1; für eine vollständige Darstellung des Fragebogens und aller Items siehe Willems et al. 2021): (i) Die Skala Gleichheit erfasst, inwieweit Menschen mit und ohne Behinderung als gleich wahrgenommen werden und nimmt damit Bezug auf das subjektive Behinderungsverständnis. (ii) Die Skala Bereicherung misst die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als Bereicherung und bildet ein stärker evaluatives Moment von Einstellungen ab. In beiden Fällen werden höhere Ausprägungen inhaltlich als positivere Einstellungen interpretiert. Cronbachs Alpha liegt je nach Messzeitpunkt und Dimension bei Werten zwischen 0,66 und 0,82 (Tab. 1). Obgleich die Skalen (erwartungsgemäß) zu allen Messzeitpunkten miteinander korrelieren (0,63 ≤ r ≤ 0,81, jeweils p < 0,001), stützen die Befunde der konfirmatorischen Faktorenanalysen die konzeptuelle Unterscheidung der Wahrnehmung von Bereicherung und Gleichheit (Tab. A im Online-Zusatzmaterial). Als Grundlage für die längsschnittlichen Analysen (Putnick und Bornstein 2016) wurde für beide Konstrukte skalare Messinvarianz über die Zeit nachgewiesen (Tab. B im Online-Zusatzmaterial).

Tab. 1 Kennwerte der Skalen zur Erfassung von behinderungsbezogenen Einstellungen

4.2.2 Personale und kontextuale Faktoren

Um Zusammenhänge von Einstellungen bzw. Einstellungsveränderungen mit relevanten personalen und kontextuellen Faktoren zu prüfen, wurden im eingesetzten Fragebogen neben demographischen Angaben und der spezifischen Einsatzstelle im FSJ auch motivationale Eingangsvoraussetzungen, Bereiche von Kontakt mit Menschen mit Behinderung vor dem FSJ, Ausmaß und wahrgenommene Qualität von Kontakt vor und im FSJ sowie die Häufigkeit von behinderungsbezogenen Themen in den Begleitseminaren erfasst. Detaillierte Angaben zur Erhebung dieser Variablen finden sich in den jeweiligen Abschnitten im Ergebnisteil.

4.3 Analysemethoden

Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage, welche unterschiedlichen Entwicklungsverläufe behinderungsbezogener Einstellungen FSJ-Teilnehmende aufweisen und wie sich diese inhaltlich beschreiben lassen, berechnen wir Latent Class Growth Analyses (LCGA) zur datengeleiteten Bildung von latenten Subgruppen mit (i) ähnlichen Ausgangswerten und (ii) ähnlichen Entwicklungsverläufen (Jung und Wickrama 2008). Alle Modellparameter wurden in Mplus 8.4 (Muthén und Muthén 2021) mit einem Full-Information-Maximum-Likelihood-Verfahren geschätzt, um fehlende Werte adäquat zu berücksichtigen. Das Verfahren gilt als robust und ist grundsätzlich einem Ausschluss von Daten vorzuziehen (Graham 2009).

Durch die Ermittlung von Subgruppen, die bezüglich des Merkmals Einstellungen homogen sind, wird der Heterogenität der Stichprobe hinsichtlich verschiedener potenziell relevanter Einflussfaktoren auf Einstellungen, über deren Zusammenspiel bislang keine generalisierenden Annahmen getroffen werden können, Rechnung getragen. Auf diese Weise können Einstellungsveränderungen, die nicht auf Stichprobenebene, sondern innerhalb von Subgruppen auftreten, aufgedeckt werden (Van der Nest et al. 2020). Für jede Subgruppe werden dabei zum einen die mittlere Merkmalsausprägung zu Beginn (Intercept) und zu den weiteren Messzeitpunkten geschätzt. Zur Beschreibung der Veränderung über die Zeit wird zum anderen der jeweilige lineare Steigungsfaktor (Linear Slope) der Subgruppen ermittelt und auf Signifikanz geprüft. Dabei werden die Varianzen von Intercept und Slope innerhalb einer Klasse auf Null fixiert, sodass weniger Parameter als in vergleichbaren Growth Mixture Models (GMM) geschätzt werden und eine Anwendung auch bei kleineren Stichproben möglich ist (Jung und Wickrama 2008). Die Abstände zwischen Messzeitpunkt 1 und 2 bzw. 2 und 3 betragen jeweils etwa ein halbes Jahr und werden als äquidistant modelliert.

Zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage, wie die identifizierten Entwicklungsverläufe mit individuellen Eingangsvoraussetzungen, kontakt- und/oder seminarbezogenen Faktoren zusammenhängen, werden zum einen separate multinomiale logistische Regressionen (Classification-Error-Corrected/3‑Step-Methode; Vermunt 2010) für die jeweiligen Prädiktoren berechnet und so die relative Wahrscheinlichkeit ermittelt, bei Vorliegen eines bestimmten Kriteriums (z. B. Berufsorientierung als Motiv für ein FSJ) einer bestimmten Klasse zugeordnet zu werden. Zum anderen werden die mittleren Ausprägungen spezifischer Merkmale (z. B. Kontaktausmaß im FSJ) der einzelnen Klassen anhand des Measurement-Error-Weighted-Ansatzes (bch-Methode) von Bakk und Vermunt (2016) verglichen. Als signifikant werden im Folgenden Ergebnisse mit einem Wert von p ≤ 0,05 bezeichnet.

5 Ergebnisse

5.1 Behinderungsbezogene Einstellungen: Differenzielle Entwicklungsverläufe im FSJ

Die Ergebnisse der LCGA (Tab. 2) zur Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung (i) als gleich und (ii) als Bereicherung legen jeweils eine sparsame Zwei-Klassen-Lösung nahe (Jung und Wickrama 2008). Die Extraktion einer weiteren Klasse verbessert in keinem Fall die Modellpassung (siehe Ergebnisse des Lo-Mendell-Rubin-Tests (LMR)) noch erhöht sie die durchschnittliche Zuordnungswahrscheinlichkeit der einzelnen Fälle zu einer bestimmten Klasse (Hitrate).

Tab. 2 Kennwerte der Latent Class Growth Analyses (LCGA)

Inhaltlich lassen sich die Ergebnisse der Zwei-Klassen-Lösungen wie folgt beschreiben: In beiden Fällen ergibt sich eine Teilung der Stichprobe in eine größere Gruppe von 61 % (Gleichheit; G1) bzw. 67 % (Bereicherung; B1) und eine kleinere Gruppe von 39 % (G2) bzw. 33 % (B2) (Abb. 1). Zu allen drei Messzeitpunkten unterscheiden sich die Klassen jeweils deutlich im Niveau der Einstellungen, wobei es in keiner der Klassen zu signifikanten Einstellungsveränderungen über die Zeit kommt. Die G1 bzw. B1 zugeordneten Freiwilligen weisen bereits zu Beginn des FSJ sehr positive Einstellungen auf und behalten diese über das Jahr bei. Dagegen liegen die Durchschnittswerte der G2 bzw. B2 zugeordneten Freiwilligen durchgängig nahe dem bzw. leicht über dem theoretischen Skalenmittelwert von 3,5, was inhaltlich als neutrale bzw. eher positive Einstellung interpretiert werden kann.

Abb. 1
figure 1

LGCA zur Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als gleich (links) und als Bereicherung (rechts)

Erwartungsgemäß gehören die meisten Freiwilligen entweder ausschließlich den relativ gesehen positiver eingestellten Klassen G1 und B1 (50 %) an oder den weniger positiv eingestellten Klassen G2 und B2 (21 %); ein Anteil von 29 % gehört in einem Fall der positiver und im anderen Fall der weniger positiv eingestellten Klasse an.

5.2 Zusammenhänge der Entwicklungsverläufe mit personalen und kontextualen Variablen

5.2.1 Individuelle Eingangsvoraussetzungen und Arbeitsbereiche im FSJ

Neben Angaben zur Person und zur Einsatzstelle wurden die spezifischen Gründe für die Aufnahme des Freiwilligendienstes bzw. für die Wahl der konkreten Einsatzstelle erfragt (Multiple Choice). Die Ergebnisse (Tab. 3) zeigen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für weibliche Teilnehmende, den positiver eingestellten Klassen G1 bzw. B1 anstelle von G2 bzw. B2 anzugehören. Der Schulabschluss spielt hierbei keine Rolle. In ihren motivationalen Voraussetzungen zur Aufnahme eines FSJ unterscheiden sich die Klassen kaum. Lediglich die Wahrscheinlichkeit, G1 anstelle von G2 zugeordnet zu sein, ist signifikant erhöht, wenn als ein Motiv Berufsorientierung angegeben wird.

Tab. 3 Eingangsvoraussetzungen und Einsatzstellen im FSJ: Anteile und Ergebnisse der multinomialen logistischen Regressionen

Unterschiede bestehen zudem in der Verteilung auf die konkreten Einsatzbereiche: Freiwillige im behinderungs- oder inklusionsorientierten Bildungs- und Erziehungsbereich (z. B. in Förderschulen oder integrativen Kindertagesstätten) gehören mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit den positiver eingestellten Klassen G1 und B1 an. In behinderungsbezogenen Einrichtungen außerhalb dieses Bereichs (z. B. in Werkstätten oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderung) sind die Klassen entweder gleichmäßig vertreten (B1 und B2) oder die positiver eingestellte Klasse (G1) ist gegenüber der weniger positiv eingestellten Klasse (G2) auf deskriptivem Niveau unterrepräsentiert.

5.2.2 Kontaktbezogene Faktoren

Zum ersten Messzeitpunkt wurden die Freiwilligen einerseits gefragt, in welchen Lebensbereichen (Schule, Arbeit, persönliches Umfeld) sie vor dem FSJ Kontakt zu Menschen mit Behinderung hatten, und andererseits, wie viel Kontakt sie zuvor mit Menschen mit Behinderung insgesamt hatten und wie sie diesen bewerten. Zum dritten Messzeitpunkt wurden die Fragen nach Ausmaß und Bewertung bezogen auf den Kontakt während des FSJ gestellt. Während die Befunde hinsichtlich der Lebensbereiche von Vorkontakten keine Unterschiede zwischen den Klassen zeigen (Tab. 4), werden beim Kontaktausmaß unterschiedliche Entwicklungen je nach Einstellungsindikator deutlich (Abb. 2): Während die Freiwilligen der positiver eingestellten Klasse G1 vor dem FSJ, nicht aber im FSJ, signifikant mehr Kontakt mit Menschen mit Behinderung haben als diejenigen der Klasse G2 (χ2 = 14,85, p < 0,001 bzw. χ2 = 2,44, p = 0,119), verhält es sich bei den Klassen B1 und B2 umgekehrt. Hier geben diejenigen der positiver eingestellten Klasse B1 während des FSJ, nicht aber zuvor, signifikant mehr Kontakt an (χ2 = 14,50, p < 0,001 bzw. χ2 = 2,85, p = 0,090). Bei der Bewertung des Kontakts zeigen sich schließlich deutliche Niveauunterschiede: Die den positiver eingestellten Klassen G1 und B1 zugeordneten Freiwilligen bewerten ihren Kontakt zu Menschen mit Behinderung vor (χ2 = 6,18, p = 0,013 bzw. χ2 = 12,24, p < 0,001) und im FSJ (χ2 = 20,57, p < 0,001 bzw. χ2 = 36,71, p < 0,001) signifikant positiver als die Freiwilligen der weniger positiv eingestellten Klassen G2 bzw. B2.

Tab. 4 Kontaktbereiche mit Menschen mit Behinderung vor dem FSJ: Anteile und Ergebnisse der multinomialen logistischen Regressionen
Abb. 2
figure 2

Mittelwerte und Standardfehler des Ausmaßes und der Bewertung von Kontakt mit Menschen mit Behinderung je Klasse. Antwortskala von 1 (sehr wenig bzw. sehr negativ) bis 5 (sehr viel bzw. sehr positiv). Nicht signifikante Unterschiede (p > 0,05) sind mit n. s. markiert

5.2.3 Seminarbezogene Faktoren im FSJ

Zu jedem Messzeitpunkt wurden relevante Themen des aktuellen und der seit der letzten Erhebung absolvierten Begleitseminare per Multiple Choice Items erfasst. Aus den Ergebnissen (Abb. 3) wird ersichtlich, dass in den Seminaren derjenigen, die den positiver eingestellten Klassen G1 und B1 zugeordnet sind, das Thema Behinderung signifikant häufiger zum Gegenstand wird (χ2 = 4,43, p = 0,035 bzw. χ2 = 5,10, p = 0,024). Die B1 anstelle von B2 zugehörigen Freiwilligen beschäftigen sich darüber hinaus auch signifikant häufiger mit der Inklusion von Menschen mit Behinderung (χ2 = 4,81, p = 0,028; G1 vs. G2: χ2 = 1,95, p = 0,162). Bezüglich der Auseinandersetzung mit allgemeinen Fragen von Inklusion bestehen keine signifikanten Unterschiede zwischen den jeweiligen Klassen (G1 vs. G2: χ2 = 1,59, p = 0,207; B1 vs. B2: χ2 = 1,60, p = 0,205).

Abb. 3
figure 3

Mittlere Anzahl und Standardfehler themenspezifischer Seminare je Klasse. Dargestellt ist die Anzahl der Seminare (von insgesamt 5), in denen die jeweiligen Themen behandelt wurden. Nicht signifikante Unterschiede (p > 0,05) sind mit n.s. markiert

6 Diskussion

6.1 Zusammenfassung der Befunde

Anknüpfend an die Analysen von Meyer und Willems (2022, im Druck) war es Ziel des Beitrags, vor dem Hintergrund theoretischer Annahmen (Allport 1954; Reinders 2019) und empirischer Befunde zu Einstellungsveränderungen durch Kontaktinterventionen (z. B. Bogart et al. 2022) bzw. freiwilliges Engagement (z. B. Kropp und Wolfe 2018) zu untersuchen, wie sich Einstellungen von jungen Freiwilligen zu Menschen mit Behinderung im Verlauf eines FSJ entwickeln. Die Ergebnisse der hierfür durchgeführten LCGA zeigen, dass sowohl die Wahrnehmung von Gleichheit von Menschen mit und ohne Behinderung als auch die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als Bereicherung über das Jahr hinweg stabil bleiben und sich zwar empirisch (jeweils zwei) Subgruppen unterscheiden lassen, sich die Unterschiede zwischen den jeweiligen Subgruppen aber auf das Niveau bzw. die Ausprägung der Einstellungen beschränken (Forschungsfrage 1). Der größere Anteil der Freiwilligen weist dabei stabile sehr positive Einstellungen auf, während der kleinere Anteil über stabile mittelpositive Einstellungen verfügt. Die Wahrnehmung von Bereicherung ist jeweils stärker ausgeprägt als die Wahrnehmung von Gleichheit; zudem ist die Klasse derjenigen, die Bereicherung stärker wahrnehmen (B1), größer als die Klasse derjenigen, die Gleichheit stärker wahrnehmen (G1).

Die Zuordnung zur jeweils positiveren Einstellungsgruppe ist dabei jeweils mit ähnlichen personalen und kontextuellen Faktoren assoziiert: Hinsichtlich der Motivation zum Freiwilligendienst sind kaum Unterschiede je nach Klassenzugehörigkeit festzustellen, allerdings wählen anteilig signifikant mehr Freiwillige der sehr positiv eingestellten Klassen (G1 und B1) ein FSJ im behinderungs- oder inklusionsbezogenen Erziehungs- und Bildungsbereich (Forschungsfrage 2a). Zwar zeigen sich je nach Einstellungsindikator verschiedene Zusammenhänge der Kontakthäufigkeit mit der Klassenzugehörigkeit; den Freiwilligen, die den positiver eingestellten Klassen G1 und B1 zugeordnet sind, ist jedoch gemeinsam, dass sie sowohl den Kontakt mit Menschen mit Behinderung vor als auch den Kontakt im FSJ signifikant positiver bewerten als diejenigen der Klassen G2 bzw. B2 (Forschungsfrage 2b). Darüber hinaus zeigen sich Unterschiede in der pädagogisch-didaktischen Begleitung: In den Seminaren der sehr positiv Eingestellten (G1 und B1) werden insgesamt (signifikant) häufiger behinderungsbezogene Themen behandelt (Forschungsfrage 2c).

6.2 Interpretation der Befunde

Grundsätzlich bestätigen die Ergebnisse den angenommenen Zusammenhang von Kontakt, Kontaktbewertung und positiven Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung (z. B. Wang et al. 2021). Die deutliche Zeitstabilität der erfassten Einstellungen, die sich auch in den ersten Analysen aus dem Projekt EFBI andeutete (Meyer und Willems 2022, im Druck), steht dabei jedoch in einem gewissen Widerspruch zum zentralen Postulat der Kontakthypothese (Allport 1954), zu Annahmen über Wirkungen freiwilligen Engagements (Reinders 2019) sowie zu Studien, die entsprechende Einstellungsveränderungen durch didaktisch begleitete Kontaktinterventionen oder im Rahmen von freiwilligem Engagement nachweisen konnten (z. B. Wozencroft et al. 2015). Nicht auszuschließen ist, dass an dieser Stelle methodisch bedingte Limitationen eine Rolle spielen. Neben möglichen Selektionseffekten muss berücksichtigt werden, dass zur Erfassung von Einstellungen in EFBI Maße verwendet wurden, die auf explizite Einstellungen bzw. kognitive Überzeugungen der Freiwilligen fokussieren und entsprechend implizite, möglicherweise stärker affektive, Haltungsänderungen gegenüber Menschen mit Behinderung nicht abbilden können (Meyer et al. 2021).

Da zum einen trotz vielfältiger Forschung zu Effekten von Kontakt die spezifischen Bedingungen, unter denen (positive) Einstellungsveränderungen stattfinden, nicht abschließend geklärt sind (Tropp et al. 2017) und zum anderen eine kleinere Anzahl von Studien ebenfalls eine hohe Zeitstabilität von behinderungsbezogenen Einstellungen trotz intensiviertem (teilweise pädagogisch-didaktisch begleiteten) Kontakt findet (Bußmann 2020; Zychlinski et al. 2016; siehe auch Krahé 2020), sollten aber insbesondere inhaltliche Erklärungsmöglichkeiten für die berichteten Ergebnisse berücksichtigt werden: (i) Grundlegend dafür, dass Kontakt zu einzelnen Mitgliedern einer anderen sozialen Gruppe zu positiveren Einstellungen gegenüber der sozialen Gruppe als solcher führt, ist das Auftreten eines Generalisierungseffekts. Von der Salienz kategorialer Gruppenzugehörigkeit, die als ein notwendiger Faktor hierfür diskutiert wird (Christ und Kauff 2019), kann im Kontext eines FSJ zwar insofern ausgegangen werden, als dass die Freiwilligen in ihren Einsatzstellen eine andere Rolle einnehmen als die Menschen mit Behinderung, mit denen sie dort arbeiten. Ein Grund dafür, dass die individuellen Kontakterfahrungen möglicherweise dennoch nicht auf Menschen mit Behinderung allgemein übertragen wurden, könnte die Heterogenität des Attributs ‚Behinderung‘ sein, wenn etwa eine Freiwillige oder ein Freiwilliger, die*der mit Menschen mit ausschließlich körperlichen Behinderungen arbeitet, deren Beeinträchtigung nicht als repräsentativ für Behinderungen generell bewertet. Offenbar hätten in diesem Fall auch die Bildungsseminare nicht zu einer entsprechenden Verknüpfung individueller Erfahrungen mit allgemeinen behinderungsbezogenen Einstellungen geführt.

(ii) Neuartige Erfahrungen führen dann zu Veränderungen, wenn sie eine Korrektur oder Anpassung bisheriger Einstellungen nötig machen (Festinger 1957; Hodson et al. 2013). Möglicherweise ist dies bei keiner der in den Analysen differenzierten Gruppen von Freiwilligen der Fall. Zwar sind insbesondere bei denjenigen, die Menschen mit Behinderung stärker als gleich und als Bereicherung wahrnehmen (Klassen G1 und B1), die angenommenen Einflussfaktoren auf Einstellungsveränderungen – Kontaktzunahme, Verbesserung der Kontaktbewertung und Häufigkeit der (pädagogisch-didaktisch begleiteten) Auseinandersetzung mit Behinderung und Inklusion – insgesamt vergleichsweise stark ausgeprägt, da aber bereits zu Beginn des FSJ sehr positive Einstellungen vorliegen, ist möglicherweise kein Veränderungsdruck gegeben. Ähnlich könnten auch die anderen Freiwilligen keine Notwendigkeit zur Revision von Einstellungen empfunden haben: Im Schnitt haben auch die den Klassen G2 bzw. B2 zugeordneten Freiwilligen während des FSJ mehr Kontakt zu Menschen mit Behinderung als zuvor, die Bewertung des Kontakts ändert sich jedoch nur geringfügig, sodass mutmaßlich keine Dissonanz zu den bisherigen Einstellungen empfunden wird. Ob ein FSJ bei Freiwilligen mit anfänglich negativen Einstellungen zu Veränderungen führt, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten, da empirisch keine solche Subgruppe ermittelt werden konnte. Der Grund hierfür liegt vermutlich in dem für Freiwilligenstichproben beschriebenen Selektionseffekt (Meyer et al. 2019); zudem könnte der Kontext des Freiwilligendienstes die Tendenz zu sozial erwünschtem Antwortverhalten verstärkt haben. Möglicherweise könnten zusätzliche Erhebungen mit größerem zeitlichem Abstand vor und nach dem FSJ, die im Projekt EFBI nicht realisiert werden konnten, dieser Tendenz entgegenwirken.

6.3 Implikationen

Zu der Frage, unter welchen Bedingungen Kontakteffekte auftreten, tragen die berichteten Befunde die Erkenntnis bei, dass auch langfristiger, pädagogisch begleiteter Kontakt zu Menschen mit Behinderung auf (fast) täglicher Basis nicht in jedem Fall einen Effekt auf konkrete behinderungsbezogene Einstellungen hat, was die Notwendigkeit weiterer Forschung zu den (differenziellen) Folgen von Kontakt, der außerhalb kontrollierter Bedingungen in alltagsweltlichen Settings stattfindet, unterstreicht (Dixon et al. 2005).

Von besonderer praktischer Relevanz ist das Ergebnis, dass auch innerhalb von Freiwilligenstichproben Selektionseffekte (siehe z. B. Meyer et al. 2019) auftreten: Wer schon zu Beginn des FSJ über positivere Einstellungen zu Menschen mit Behinderung verfügt, arbeitet eher mit Menschen mit Behinderung im heil- und sonderpädagogischen bzw. inklusiven Erziehungs- und Bildungsbereich. Neben den spezifischen Arbeitsinhalten unterscheidet sich dieser Einsatzbereich insbesondere im Alter der Zielklientel von anderen behinderungsbezogenen Einrichtungen, in denen Freiwillige mit besonders positiven Einstellungen nicht überproportional vertreten sind. Dies wirft die Frage auf, ob sich hier zusätzlich zu einem mutmaßlichen Selbst- und Fremdselektionseffekt auch ein Einsatzstelleneffekt zeigt: Nehmen die Freiwilligen der Klassen B1 und G1 ihre Kontakte mit Menschen mit Behinderung im FSJ nur deshalb positiver wahr, weil sie von Anfang an positiver eingestellt sind – oder vermittelt ihr spezielles Arbeitsumfeld, das vom Umgang mit Kindern und Jugendlichen geprägt ist, auch vergleichsweise besonders positive Kontakterlebnisse, die dann stabilisierend auf ihre positiven Einstellungen wirken?

Für die pädagogisch-didaktische Begleitung des FSJ sind diese Fragen insofern von Bedeutung, als dass sie auf mögliche Wechselwirkungen von Eingangsvoraussetzungen der Freiwilligen und konkreten Einsatzstellen verweisen. Zwar sind für die Wahl der Einsatzstelle Interesse und Eignung der Freiwilligen maßgeblich, sodass gewisse Verteilungseffekte – ähnliche Freiwillige arbeiten in ähnlichen Einrichtungen – kaum vermeidbar sind. Um das Potenzial von Freiwilligendiensten für die aktive Auseinandersetzung mit eigenen Werthaltungen und sozialen Einstellungen auszuschöpfen, sprechen diese Überlegungen aber dafür, Austausch unter Peers mit verschiedenen Erfahrungshintergründen zu ermöglichen und eine entsprechende Vielfalt als Kriterium bei der Zusammensetzung der Seminargruppen zu berücksichtigen. Darüber hinaus würde die Implementierung von Service Learning in Schulen und weiterführenden Bildungseinrichtungen die Möglichkeit bieten, eine breitere Zielgruppe von jungen Menschen für pädagogisch begleitete Kontakte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu gewinnen. Festzuhalten ist dabei, dass für eine stärkere Evidenzorientierung in der Gestaltung von Angeboten freiwilliger Arbeit noch weitere Forschung notwendig ist, die die Wechselwirkung von Voraussetzungen der Freiwilligen, Wahl bzw. Zuteilung von Einsatzbereichen und Inhalten der pädagogisch-didaktischen Begleitung mit einstellungsbezogenen Entwicklungen der Freiwilligen untersucht.