1 Einleitung

Die sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern sind nicht nur für die sozialen Interaktionen zentral, sondern wirken sich auch auf die schulischen Leistungen aus (Domitrovich et al. 2017; Hövel et al. 2019). Ungenügende und nicht altersangemessene sozial-emotionale Kompetenzen können das Lernen ungünstig beeinflussen und mit weitreichenden Folgen für die Schullaufbahn einhergehen (Ditton 2009). Zudem können sie das psychische und physische Wohlbefinden insbesondere von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten beeinträchtigen (Rademacher et al. 2016). Eine Stärkung der sozial-emotionalen Kompetenzen bereits im frühen Kindesalter ist daher für alle Kinder und vor allem für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten von zentraler Bedeutung (Wiedebusch und Petermann 2011).

In der Schweiz müssen Lehrpersonen die überfachlichen Kompetenzen beurteilen (Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz [D-EDK] 2016). Obwohl es viele Beobachtungs- und Fragebogenskalen zur Erfassung der sozial-emotionalen Kompetenzen gibt (Denham 2015), sind diese meistens nicht auf den schulischen Kontext ausgerichtet. Entsprechend sind Lehrpersonen bei der Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen oft unsicher (Neuenschwander et al. 2015). Die Urteile über die sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern weichen zwischen den Lehrpersonen und Eltern deutlich ab (Heilig und Pauen 2013; Hintermair et al. 2019). Lehrpersonen beurteilen beispielsweise das prosoziale Verhalten der Schüler:innen im Durchschnitt schlechter als Eltern (Schönmoser et al. 2018). Während Urteilsunterschiede zwischen Lehrpersonen und Eltern in vielen Studien belegt werden, wurden mögliche Erklärungen dafür, wie diese Unterschiede zustande kommen, bisher selten überprüft. Einerseits könnten systematische Verhaltensunterschiede der Kinder im schulischen und familiären Kontext der Grund für die unterschiedlichen Urteile über die sozial-emotionalen Kompetenzen der Eltern und der Lehrpersonen sein. Andererseits dürfte die unterschiedliche Art der Beziehung und Wahrnehmung des Kindes durch die Lehrperson eine Rolle spielen. Damit einhergehend könnte die Lehrperson-Schüler:in-Beziehung (LSB) auch einen Einfluss auf die Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen haben. Überdies beeinflussen die Empathie und das Verständnis der Eltern gegenüber dem eigenen Kind die sozial-emotionalen Kompetenzen (Russell et al. 2016). Entsprechend könnte sich die Empathie der Eltern auf die Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen auswirken.

Wissen über die Diskrepanz der Urteile zwischen Eltern und Lehrpersonen liefert Hinweise dazu, wie Urteile zu sozial-emotionalen Kompetenzen entstehen und welche Risiken mit Urteilsverzerrungen einhergehen, die sich in Konflikten in der Zusammenarbeit von Eltern und Lehrpersonen zeigen können. Zudem benötigt es, angesichts des Auftrags der Lehrpersonen, die sozial-emotionalen Kompetenzen von Schüler:innen zu fördern und zu beurteilen, mehr theoretische und empirische Grundlagen. Urteilssicherheit bei den sozial-emotionalen Kompetenzen ist vor allem bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten wichtig, weil diese Kinder in diesem Bereich meist einen spezifischen Förderbedarf aufweisen und ein koordiniertes Vorgehen hinsichtlich pädagogischer Maßnahmen zwischen Eltern und Lehrpersonen erfordern (Neuenschwander et al. 2022b). Zudem wurde die Beurteilung von sozial-emotionalen Kompetenzen bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten bisher selten untersucht, obwohl diese Kompetenzen in dieser Gruppe eine besonders hohe Bedeutung haben. Aus diesen Gründen werden im Folgenden die Fragen verfolgt, wie übereinstimmend Lehrpersonen und Eltern Aspekte der sozial-emotionalen Kompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Emotionsregulation, Einfühlungsvermögen sowie Kooperation von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten beurteilen und ob diese Urteilsunterschiede durch die LSB bzw. durch die Empathie der Eltern gegenüber ihrem Kind erklärt werden können.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Selbstwahrnehmung, Emotionsregulation, Einfühlungsvermögen und Kooperation

Sozial-emotionale Kompetenzen umfassen nicht nur soziale und emotionale Kompetenzen, sondern auch die Wechselwirkung von sozialen und emotionalen Kompetenzen. Sozial-emotionale Kompetenzen beziehen sich auf die Wahrnehmung und Regulation von Emotionen, auf die Wahrnehmung von sozialen Situationen inkl. Mitmenschen, auf die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen und auf das Treffen von verantwortlichen Entscheidungen. Ausprägte sozial-emotionale Kompetenzen unterstützen Menschen unter anderem beim Erwerb von Wissen sowie beim Erreichen von persönlichen Zielen. Auf dieser Basis gliedert das CASEL-Modell die sozial-emotionalen Kompetenzen in fünf Kompetenzbereiche (Durlak et al. 2015), Selbstwahrnehmung, Selbstmanagement, soziale Wahrnehmung, Pflege von Beziehungen und verantwortliche Entscheidungen treffen. Empirisch wurden hohe konzeptuelle Überlappungen zwischen dem Kompetenzbereich verantwortliche Entscheidungen treffen und den anderen Konzepten gefunden (Zhou und Ee 2012), weshalb dieser Kompetenzbereich im Folgenden nicht weiter thematisiert wird.

Die vier Konzepte eignen sich als Basis für Förderprogramme in Schulen. Nach Elliott et al. (2015) ist es im Klassenzimmer besonders wichtig, Anweisungen und Instruktionen zu folgen, die Emotionen im Umgang mit Peers und Erwachsenen zu regulieren sowie mit anderen gut zu kooperieren. Es erwies sich als besonders relevant, dass eine soziale Ordnung im Klassenzimmer besteht und die Schüler:innen im Unterricht effektiv lernen können. Um die Datenerhebung in einem machbaren Rahmen zu halten, konnte pro Kompetenzbereich nur eine Kompetenz untersucht werden. Weil die vorliegende Analyse in eine Studie zu aggressiven Verhaltensweisen eingebettet war, wurden Aspekte mit Bezug zu diesen Verhaltensausweisen ausgewählt. 1) Die Selbstwahrnehmung beschreibt die Fähigkeit, eigene Emotionen, Gedanken und Werte wahrzunehmen, diese zu verstehen sowie zu wissen, wie sich diese auf das eigene Verhalten auswirken. 2) Das Selbstmanagement schließt Emotionsregulation, Bedürfnisaufschub, Stressbewältigung, sich motivieren und Zielverfolgung ein. Die Emotionsregulation ist für die Steuerung von aggressiven Verhaltensweisen zentral und wurde daher ausgewählt (Neuenschwander et al. 2022a). 3) Die soziale Wahrnehmung inkludiert Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme sowie Erkennen und Mobilisieren von sozialer Unterstützung. Das Einfühlungsvermögen bildet die Fähigkeit, sein Gegenüber mit seinen Emotionen sowie Werten wahrzunehmen und sich wie das Gegenüber zu fühlen. Im Unterschied dazu bezeichnet die Perspektivenübernahme die Fähigkeit, ein Subjekt aus der Perspektive eines Mitmenschen zu betrachten (Selman 1984). Ausgeprägtes Einfühlungsvermögen kann aggressives Verhalten reduzieren, weshalb dieses Konzept in die vorliegende Studie aufgenommen wurde (Vachon et al. 2013). 4) Die Pflege von Beziehungen erfordert spezifische Beziehungsfähigkeiten wie das aufmerksame Zuhören, eine klare Kommunikation, konstruktive Konfliktbewältigung sowie die Fähigkeit zur Kooperation mit Mitmenschen (Elbertson et al. 2010). Von diesen Kompetenzen wird die Kooperationsfähigkeit von Lehrpersonen und Eltern als besonders wichtig bewertet (Frey et al. 2014), weil sie für das Lernen in Gruppen zentral ist und aggressiven Verhaltensweisen vorbeugen kann (Caprara et al. 2000).

2.2 Erfassung der sozial-emotionalen Kompetenzen

Sozial-emotionale Kompetenzen werden in empirischen Studien meistens auf Basis von Fragebogen (Selbstbeurteilung, Buhrmester und Furman 1988; Fremdbeurteilung durch Peers, Eltern oder Lehrpersonen, Siekkinen et al. 2013) oder Beobachtungen erfasst (Denham 2015). Standardisierte Testverfahren sind seltener (Grob et al. 2009; McKown et al. 2016). Der Vorteil von standardisierten Tests gegenüber Fragebogen wird darin gesehen, dass die objektiven Urteile unabhängig von der Beziehung der urteilenden und beurteilten Person gelten.

Deimann et al. (2005) verglichen die Urteile der Mütter von Kindern mit und ohne Verhaltensauffälligkeiten mit den Ergebnissen eines standardisierten Entwicklungstests. Die Ergebnisse zeigten, dass die Mütter die Kompetenzen ihrer Kinder im Vergleich zu den Ergebnissen des Entwicklungstest überschätzten. Pulsifer et al. (1994) kamen zum Schluss, dass die mütterlichen Einschätzungen des Entwicklungsstands von Kindern mit Verdacht auf Entwicklungsverzögerungen verglichen mit Entwicklungstests akkurat waren. Bei den Urteilen von Lehrpersonen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab wie bei den Eltern. Die Studien zeigen konsistente, aber schwache Korrelationen zwischen Urteilen und standardisierten Testergebnissen im Bereich der sozial-emotionalen Kompetenzen. Die aktuelle Befundlage dazu ist überschaubar. Studien zur Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen sollten standardisierte Testergebnisse einbeziehen, um die Validität der Urteile besser abschätzen zu können.

2.3 Übereinstimmung von Lehrpersonen- und Elternurteilen

Studien zeigen, dass die Urteile von Lehrpersonen und Eltern über die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder voneinander abweichen (Heilig und Pauen 2013; Hintermair et al. 2019). Entsprechend belegen Renk und Phares (2004) in ihrer Metastudie eine mäßige Übereinstimmung zwischen der Beurteilung von Eltern und Lehrpersonen hinsichtlich sozialer Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Nach Korsch und Petermann (2014) schätzten Eltern das Sozialverhalten ihrer Kinder, unter Berücksichtigung relevanter Kind- und Familienmerkmale wie beispielsweise das Geschlecht des Kindes und die schulische Ausbildung der Mutter, generell höher ein als Lehrpersonen. Die Übereinstimmung der Urteilenden ist sowohl in einer klinischen Stichprobe mit Kindern mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten als auch mit Kindern ohne Verhaltensauffälligkeiten jeweils gering. Schönmoser et al. (2018) replizierten die Urteilsunterschiede für Kindergartenkinder im Bereich des prosozialen Verhaltens, wobei die Übereinstimmung der Beurteilenden bei älteren Kindern höher als bei jüngeren und bei Mädchen höher als bei Jungen ausfiel.

2.4 LSB, Empathie der Eltern und Eltern‑/Lehrpersonenurteile

Die geringe Übereinstimmung der Beurteilung der Aspekte der sozial-emotionalen Kompetenzen zwischen Eltern und Lehrpersonen könnte auf das kontextabhängige Verhalten zurückgeführt werden. Schule (inkl. Kindergarten) und Familie unterscheiden sich in der Funktion, in der Zahl der beteiligten Personen, der Vertrautheit und in den konkreten Alltagshandlungen (Neuenschwander et al. 2005). Die Schulsituation erfordert typischerweise aufgrund der definierten Leistungsanforderungen und der vielfältigen Interaktionen der Kinder höhere sozial-emotionale Kompetenzen von den Kindern als die Familiensituation (Rademacher et al. 2016). Aufgrund der höheren Anforderungen wird das sozial-emotionale Verhalten der Kinder in der Schule demnach als weniger kompetent beurteilt als in der Familie.

Die Urteilsunterschiede zwischen Eltern und Lehrpersonen könnten auf Wahrnehmungseffekten basieren. Lehrpersonen haben eine professionelle Beziehung und beschränkte zeitliche Kapazitäten für Interaktionen mit den einzelnen Kindern. Folglich müsste die LSB die Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen beeinflussen. Endedijk et al. (2022) beschreiben die LSB mit Konzepten wie Freundlichkeit, Nähe, Unterstützung und Konflikt. Im Unterschied zu Wubbels und Brekelmans (2005) wird in der vorliegenden Untersuchung die Lehrpersonenperspektive und damit die Wahrnehmung der Lehrperson zum einzelnen Kind in den Vordergrund gerückt, weil diese das Verhalten der Lehrperson beeinflussen kann. Aus der Lehrpersonenperspektive zeigt sich eine gute LSB in Vertrautheit zum Kind und seinem Umfeld, empathischem, freundlichen Umgang und adaptivem Reagieren auf die individuellen Bedürfnisse (Endedijk et al. 2022; Punkt 2 im Anhang 1, im Folgenden LSB Vertrautheit, kurz: LSB-V). Wenn die LSB‑V ausgeprägt ist, werden die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder positiver beurteilt (Beurteilungsverzerrung: Milde-Effekt). Allerdings fehlen Studien zum Zusammenhang der LSB und der Beurteilung von sozial-emotionalen Kompetenzen. Erste Hinweise lieferten Garbacz et al. (2014), die ein Training entwickelten, welches die Lehrperson-Schüler:in-Interaktion und damit die LSB förderte. Nach dem Training fielen die Urteile der Lehrpersonen bezüglich der sozial-emotionalen Kompetenzen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe positiver aus als vor dem Training. Weil Eltern die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder tendenziell besser beurteilen als Lehrpersonen, dürften sich in Konsequenz die Urteile zwischen Eltern und Lehrpersonen bei einer guten LSB annähern.

Die Urteilsunterschiede zwischen Eltern und Lehrpersonen könnten auch mit der Wahrnehmung der Kinder durch ihre Eltern erklärt werden (Deimann et al. 2005). Die Eltern nehmen ihr Kind aufgrund der mehrjährigen intimen Beziehung und Interaktionsdichte empathischer sowie differenzierter wahr als Lehrpersonen (Koch et al. 2011). Zentral ist insbesondere die Empathie der Eltern gegenüber dem Kind. Im Unterschied dazu bezeichnet die Perspektivenübernahme die Fähigkeit, ein Subjekt aus der Perspektive eines Mitmenschen zu betrachten (Selman 1984). Wenn Eltern versuchen, die Emotionen und das Verhalten des Kindes zu verstehen, könnten die sozial-emotionalen Kompetenzen des Kindes höher eingeschätzt werden (Fung 2022). Eine ausgeprägte Empathie der Eltern könnte mit wohlwollenderen Urteilen bezüglich der sozial-emotionalen Kompetenzen zusammenhängen, was die Urteilsunterschiede zu den Lehrpersonen verstärkt (Schönmoser et al. 2018). Es wird daher vermutet, dass die Empathie der Eltern den Urteilsunterschied zwischen Eltern und Lehrperson bezüglich der sozial-emotionalen Kompetenzen moderiert.

2.5 Weitere Einflüsse

Allerdings könnten die Urteile über die sozial-emotionalen Kompetenzen der Schüler:innen auch vom Geschlecht der Schüler:innen abhängen. Gemäß dem Geschlechterstereotyp gelten Mädchen als sozial kompetenter, weshalb ihre sozial-emotionalen Kompetenzen von Lehrpersonen höher eingeschätzt werden als diejenigen der Jungen (Oberle et al. 2014). Überdies könnten Herkunftseffekte die Beurteilung der Aspekte der sozial-emotionalen Kompetenzen beeinflussen. Die Urteile von Eltern und Lehrpersonen über Verhaltensauffälligkeiten und prosoziales Verhalten von Kindern ist bei Eltern mit mittlerem Einkommen höher als bei Eltern mit tieferem Einkommen (Phillips und Lonigan 2010) sowie bei Müttern mit einem High School Abschluss höher als bei solchen ohne (Gagnon et al. 1992). Schließlich sind ebenfalls Alterseffekte denkbar. Ältere Kinder werden in ihren sozialen Kompetenzen besser beurteilt als jüngere, da sich das Emotionswissen bei Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren weiterentwickelt (Sarimski 2020; Schönmoser et al. 2018). Daher werden diese Variablen in den vorliegenden Analysen kontrolliert.

2.6 Hypothesen

Zusammenfassend wurden folgende Hypothesen formuliert:

H1

Eltern schätzen (H1a) die Selbstwahrnehmung, (H1b) die Emotionsregulation, (H1c) das Einfühlungsvermögen und (H1d) die Kooperation positiver ein als Lehrpersonen.

H2

Kinder mit höheren Ergebnissen eines Entwicklungstests zu sozial-kompetentem Handeln werden bezüglich (H2a) Selbstwahrnehmung, (H2b) Emotionsregulation, (H2c) Einfühlungsvermögen und (H2d) Kooperation positiver eingeschätzt als Kinder mit einem tieferen Ergebnis.

H3

Je besser die LSB‑V aus Lehrpersonensicht ist, desto positiver werden die (H3a) Selbstwahrnehmung, (H3b) Emotionsregulation, (H3c) Einfühlungsvermögen und (H3d) Kooperation der Kinder eingeschätzt.

H4

Je besser die LSB‑V aus Lehrpersonensicht ist, desto geringer ist der Urteilsunterschied zwischen Eltern und Lehrpersonen bezüglich (H4a) Selbstwahrnehmung, (H4b) Emotionsregulation, (H4c) Einfühlungsvermögen und (H4d) Kooperation (Moderationshypothese 1).

H5

Je empathischer Eltern ihr Kind wahrnehmen, desto positiver schätzen sie (H5a) Selbstwahrnehmung, (H5b) Emotionsregulation, (H5c) Einfühlungsvermögen und (H5d) Kooperation der Kinder ein.

H6

Je ausgeprägter die Empathie der Eltern gegenüber dem Kind ist, desto grösser ist der Urteilsunterschied zwischen Eltern und Lehrpersonen bezüglich (H6a) Selbstwahrnehmung, (H6b) Emotionsregulation, (H6c) Einfühlungsvermögen und (H6d) Kooperation (Moderationshypothese 2).

3 Methode

3.1 Datengrundlage und Stichprobe

Die Daten zur Überprüfung der Hypothesen stammen aus der Interventionsstudie FOSSA – Förderung der Selbstregulation in Schule und Familie. In diesem Projekt wurden schulische und familiäre Bedingungen untersucht, welche die sozial-emotionalen Kompetenzen fördern und aggressives Verhalten von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten im Kindergarten und in der 1.–3. Klasse der Grundschule vermindern. Überdies wurde die Wirksamkeit von Maßnahmen in Schule sowie Familie zur Förderung der Selbstregulation und zur Reduktion der Verhaltensauffälligkeiten von Kindern überprüft. Zur Bearbeitung der vorliegenden Fragen wurden die Daten aus dem Prätest verwendet. Schulen wurden zufällig ausgewählt und angefragt. Bei einer Zusage füllten die Lehrpersonen die fünf Items der Skala Verhaltensauffälligkeiten des SDQ (Lohbeck et al. 2015) und fünf Items zu den familiären Belastungen (Stadt Zürich 2014) für die ganze Klasse aus. Um die Befragungszeit der Lehrpersonen zu reduzieren, wurde nur die Skala aus dem SDQ vorgelegt, welche sich am spezifischsten auf Verhaltensauffälligkeiten bezieht. Pro Kind lagen in der Regel Aussagen von mehreren unterrichtenden Lehrpersonen bzw. Sonderpädagog:innen vor, um Effekte diskriminierender Etikettierung zu minimieren. Auf dieser Basis wurden Kinder mit einem SDQ-Wert über 3 (Werterange 0–10) in die Studie aufgenommen. Bei einem SDQ-Wert über 2 wurde mit zusätzlichen Informationen der Lehrperson individuell überprüft, ob die Schüler:innen in die Studie einbezogen werden konnten. Diese Maßnahme sollte dazu beitragen, dass alle Kinder mit einer Tendenz zu Verhaltensauffälligkeiten berücksichtigt wurden.

Die familiären Belastungsfaktoren (z. B. Suchtproblematik in der Familie) wurden auf einer Ratingskala von 1–4 bewertet. Familien, welche bei mindestens zwei Belastungsfaktoren als deutlich belastet (min. 3) eingestuft waren, wurden insgesamt als belastet eingestuft. Zusätzlich wurden Kinder einbezogen, bei welchen ein Item als stark belastet (= 4) beurteilt wurde. Wenn ein Kind beide Kriterien (Verhaltensauffälligkeiten, Belastung) erfüllte und wenn die Eltern ihr schriftliches Einverständnis gaben, wurde es in die Studie aufgenommen. Die Durchführung erfolgte in zwei Kohorten, da in der ersten Kohorte keine ausreichend große Stichprobe rekrutiert werden konnte. Die Kohorte 1 startete im Sommer 2019, die Kohorte 2 im Sommer 2020. Alle Daten wurden pseudonymisiert erfasst, Kontaktangaben wurden separat von den Umfragedaten aufbewahrt und der Datenschutz wurde eingehalten.

Die Stichprobe umfasst N = 158 Kinder, von welchen 85 zur Kohorte 1 und 73 zur Kohorte 2 gehörten. 108 Kinder besuchten die Grundschule und 50 Kinder den Kindergarten. Im Durchschnitt waren sie 7,1 Jahre alt (SD = 1,2, Range 5–10 Jahre). Es waren 31 Mädchen und 127 Jungen. Die Kinder verteilten sich auf 87 Schulklassen aus 69 Schulen, an denen pro Klasse jeweils 1–4 Kinder teilnahmen und 1–4 Lehrpersonen (inkl. Sonderpädagog:innen) unterrichteten. Insgesamt nahmen 128 Lehrpersonen teil. In 88 Fällen handelte es sich um Klassenlehrpersonen, in 22 Fällen um Sonderpädagog:innen und in 18 Fällen um Fachlehrpersonen. Die Lehrpersonen waren im Durchschnitt 40,2 Jahre alt (SD = 10,9, Range 23–63 Jahre) und hatten eine durchschnittliche Berufserfahrung von 13,0 Jahren (SD = 9,4, Range 1–39 Jahre). Pro Kind lagen Daten von bis zu vier Lehrpersonen vor. Um ein möglichst gutes Lehrpersonenurteil pro Kind zu erhalten, wurde bei Kindern mit mehreren teilnehmenden Lehrpersonen der Mittelwert der Einschätzungen berechnet. Daraus entstanden Mittelwertangaben zu 153 Kindern (8 missings). Aus den Familien der Kinder füllten 147 Bezugspersonen den Fragebogen aus (11 missings). Sie waren im Durchschnitt 38,1 Jahre alt (SD = 5,3, Range 27–50 Jahre). In 130 Fällen handelte es sich um die Mutter, in 17 Fällen um den Vater. Die Beschreibung der Homogenität der Stichprobe ist im Anhang 1 beschrieben.

3.2 Messinstrumente und Operationalisierung

Im Folgenden werden die in den Analysen verwendeten Merkmale beschrieben. Die deskriptiven Statistiken sind in der Tab. 1 dargestellt. Die Unterschiede in den Stichprobengrößen entstehen aufgrund von missings.

Tab. 1 Deskriptive Statistiken der Merkmale

Als abhängige Variablen wurden die sozial-emotionalen Kompetenzen anhand von vier Aspekten operationalisiert. Für die Einschätzung der Selbstwahrnehmung wurden aus der Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (LSL) unverändert vier Items (Beispielitem: Das Kind sieht bei Konflikten mit anderen eigene Fehler) beurteilt (Lehrpersonen: α= 0,83, N = 153, 5 missings, Eltern: α= 0,76, N = 147, 11 missings, Petermann und Petermann 2013). Die Emotionsregulation wurde mit vier Items aus dem Eltern-Belastungs-Inventar von Tröster (2010) operationalisiert (Beispielitem: Das Kind reagiert oft sehr heftig, wenn etwas passiert, das es nicht mag. Lehrpersonen: α= 0,88, N = 153, 5 missings, Eltern: α= 0,82, N = 147, 11 missings). Das Einfühlungsvermögen wurde unverändert aus der LSL übernommen und umfasste ebenfalls vier Items (Beispielitem: Das Kind erkennt, wenn andere Hilfe brauchen, Lehrpersonen: α= 0,91, N = 153, 5 missings, Eltern: α= 0,82, N = 147, 11 missings, Petermann und Petermann 2013). Für die Kooperation wurden aus der LSL unverändert vier Items entnommen (Beispielitem: Das Kind arbeitet mit anderen in einer Gruppe zusammen, Lehrpersonen: α= 0,82, N = 152, 6 missings, Eltern: α= 0,71, N = 147, 11 missings; Petermann und Petermann 2013). Die Selbstwahrnehmung, das Einfühlungsvermögen und die Kooperation wurden auf einer Skala von 1 ‚Verhalten tritt nie auf‘ bis 4 ‚Verhalten tritt häufig auf‘ beurteilt, die Emotionsregulation auf einer Skala von 1 ‚trifft überhaupt nicht zu‘ bis 6 ‚trifft voll und ganz zu‘.

Sozial kompetent Handeln

Es existieren keine standardisierten Testverfahren, welche die vier ausgewählten Aspekte der sozial-emotionalen Kompetenzen messen. Eine Annäherung liefert der Untertest sozial-kompetentes Handeln aus den Intelligence and Development Scales (IDS-1) von Grob et al. (2009), welcher von geschulten Mitarbeiter:innen mit den Kindern einzeln durchgeführt wurde. Dieser Test misst Fähigkeiten wie Konfliktlöse‑, Beziehungsfähigkeiten und prosoziale Fähigkeiten, welche in sozialen Interaktionen notwendig sind (Reliabilität α= 0,63). Aus Gründen der Sparsamkeit des statistischen Modells wurde nur ein Untertest verwendet. In diesem Test bekamen die Kinder sechs Karten mit verschiedenen sozialen Situationen vorgelegt und mussten jeweils erzählen, wie sie sich in ähnlichen Situationen verhalten würden. Bei jeder Karte verteilten die geschulten Kodierer:innen mit einer Punktetabelle 0 bis 2 Punkte. Die Punkte wurden anschließend mithilfe einer Normtabelle und dem Alter zu einem Entwicklungswert verrechnet.

LSB-V

Die LSB‑V wurde aus Lehrpersonenperspektive mit sieben Items erfasst (Beispielitem: Ich habe das Gefühl, ich kenne das Kind sehr gut, α = 0,80, 5 missings; angepasst nach Neuenschwander und Benini 2016). Die Items wurden auf einer Skala von 1 ‚trifft überhaupt nicht zu‘ bis 6 ‚trifft voll und ganz zu‘ eingeschätzt (konfirmatorische Faktorenanalyse und Korrelationen zu verwandten Merkmalen im Anhang 1).

Empathie der Eltern

Die Empathie wurde bei den Eltern mit vier Items erfasst (Beispielitem: Ich bemühe mich, mein Kind zu verstehen, α = 0,92, Hänggi et al. 2010). Die Items wurden auf einer Skala von 1 ‚trifft überhaupt nicht zu‘ bis 6 ‚trifft voll und ganz zu‘ beurteilt.

Alter

Mit Hilfe des Geburtsdatums der Kinder wurde das Alter berechnet. Der Stichtag zur Berechnung des Alters war der Tag, an welchem der standardisierte Entwicklungstest (IDS-1) mit den Kindern durchgeführt wurde.

Geschlecht

Das Geschlecht der Kinder wurde von den Lehrpersonen einer der zwei Kategorien ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ zugeordnet.

HISEI

Der sozioökonomische Status der Familie des Kindes wurde aufgrund des Berufes beider Elternteile erhoben. Jedem Beruf wurde der Wert des International Socio-Economic Index of Occupation Status (ISEI, Ganzeboom und Treiman 2010) zugeordnet (M = 46,56, SD = 21,42). Anschließend wurde der höchste ISEI der beiden Bezugspersonen verwendet.

3.3 Auswertungsstrategie

Für die Auswertung wurde ein Datensatz mit zwei Zeilen pro Kind erstellt (Verschachtelung, Anhang 2). In der jeweils ersten Zeile pro Kind waren die Elternangaben enthalten, in der zweiten Zeile die Lehrpersonenangaben zum gleichen Kind. Da pro Kind Urteile von Eltern und Lehrpersonen ausgewertet wurden, lagen bei der Kooperation N = 279 (37 missings), bei der Selbstwahrnehmung, beim Einfühlungsvermögen und bei der Emotionsregulation N = 280 (36 missings) kindbezogene Urteile vor. Es wurde keine Mehrebenenanalyse gerechnet, weil nur zwei Fälle pro Kind (Elternangaben und Lehrpersonenangaben) vorhanden waren. Vielmehr wurde der Effekt der beurteilenden Person als Prädiktor geprüft. Gemäß Kolmogorov-Smirnov Test war bis auf die Emotionsregulation keine Variable normalverteilt. Aufgrund der genügend großen Stichprobe sind die gewählten Analysen robust gegenüber Verletzungen der Normalitätsvoraussetzungen (Bianca et al. 2017). Der Levene-Test zeigte auf, dass bis auf das Alter alle Variablen das Kriterium der Varianzhomogenität erfüllten. Die metrischen Variablen Alter, HISEI, sozial kompetent Handeln, LSB‑V und Empathie der Eltern wurden z‑standardisiert. Zur Überprüfung der Hypothesen H1 bis H6 wurden Regressionsmodelle mit Einbezug von zwei Moderatoren und dem OLS-Schätzer mit Process in SPSS 28 (Hayes 2022) berechnet. Die Missings variierten zwischen den einzelnen Variablen auf Itemlevel zwischen 0–10,8 %. Die Analysen wurden nur mit den Fällen ohne Missings durchgeführt.

4 Ergebnisse

Die Korrelationen zwischen den einbezogenen Merkmalen sind in Tab. 1 des Anhangs 1 dargestellt. Die Ergebnisse der Regressionsanalysen (Tab. 2) zeigen, dass die Beurteilendenperspektive bei allen vier Merkmalen signifikant ist. Eltern schätzen die Merkmale höher ein als Lehrpersonen (Bestätigung H1a, H1b, H1c, H1d). Zusätzlich sind bei der Selbstwahrnehmung sowie beim Einfühlungsvermögen Alterseffekte vorhanden. Bei keinem der Merkmale wurde ein signifikanter Zusammenhang mit dem Geschlecht gefunden. Der sozioökonomische Status hängt negativ mit der Emotionsregulation zusammen. Die Ergebnisse des Subtests sozial kompetent Handeln belegen, dass die Urteile von Eltern und Lehrpersonen mit den Testergebnissen korrelieren. Je höher die Kinder im Test abschneiden, desto höher schätzen die Beurteilenden sowohl die Selbstwahrnehmung, die Emotionsregulation, das Einfühlungsvermögen als auch die Kooperation ein (H2a, H2b, H2c und H2d bestätigt).

Tab. 2 Regressionsanalysen

Die LSB‑V hängt signifikant mit der Selbstwahrnehmung, dem Einfühlungsvermögen und der Kooperation zusammen (H3a, H3c und H3d bestätigt), nicht aber mit der Emotionsregulation (H3b nicht bestätigt). Je positiver die LSB‑V aus Lehrpersonensicht beurteilt wird, desto höher fallen die Urteile aus. Die Empathie aus Elternsicht hängt nur mit dem Einfühlungsvermögen signifikant zusammen (H5c bestätigt, H5a, H5b, H5d nicht bestätigt).

Bei der Interaktion zwischen beurteilender Person und LSB‑V gibt es signifikante Effekte bei der Selbstwahrnehmung und der Kooperation (H4a und H4d bestätigt, H4b und H4c nicht bestätigt). Die Interaktion zwischen beurteilender Person und Empathie der Eltern sagt die Selbstwahrnehmung und Kooperation, aber nicht das Einfühlungsvermögen und die Emotionsregulation vorher (H6a, H6d bestätigt, H6b, H6c nicht bestätigt).

Gemäß Abb. 1 nähern sich die Urteile von Lehrpersonen und Eltern an, je besser die LSB‑V ist, d. h. der Unterschied zwischen Eltern und Lehrpersonenurteilen ist groß, wenn die LSB‑V eher schlecht ist. Mit Zunahme der Empathie der Eltern nimmt der Beurteilungsunterschied zwischen Eltern und Lehrpersonen zu.

Abb. 1
figure 1

Schüler:in-Selbstwahrnehmung im Eltern- und Lehrpersonenurteil, moderiert nach LSB‑V sowie Empathie der Eltern

Gemäß Abb. 2 ist das Ergebnis bei der Kooperation ähnlich: Je besser die LSB‑V ist, desto geringer ist die Urteilsdifferenz zwischen Eltern und Lehrpersonen. Wenn die Empathie der Eltern zunimmt, nimmt der Beurteilungsunterschied zwischen Eltern und Lehrpersonen bezüglich der Schüler:inkooperation zu.

Abb. 2
figure 2

Schüler:in-Kooperation im Eltern- und Lehrpersonenurteil, moderiert nach LSB‑V sowie Empathie der Eltern

Im Anhang 1 sind die Ergebnisse dieser Analysen getrennt für den Kindergarten und die Grundschule dargestellt. Die Ergebnisse zeigen für die Grundschule analoge Effekte, im Kindergarten sind die Moderationseffekte jedoch nicht signifikant, d. h. die berichteten Effekte lassen sich nur in der Grundschule finden.

5 Diskussion

Frühere Forschung legt dar, dass Eltern die sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern positiver beurteilen als Lehrpersonen (Heilig und Pauen 2013; Hintermair et al. 2019; Schönmoser et al. 2018). Allerdings fehlen Untersuchungen, welche Erklärungen für die Urteilsunterschiede geben. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass Eltern Aspekte der sozial-emotionalen Kompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Emotionsregulation, Einfühlungsvermögen und Kooperation von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten im Kindergarten sowie in der Grundschule positiver beurteilen als Lehrpersonen. Bei der Selbstwahrnehmung und der Kooperation können diese Unterschiede teilweise durch die LSB‑V sowie die Empathie der Eltern erklärt werden (Moderationen). Die LSB‑V hat einen Effekt auf die Selbstwahrnehmung im Urteil der Lehrperson, aber nicht auf die Selbstwahrnehmung im Urteil der Eltern. Je positiver die LSB‑V beurteilt wird, desto geringer ist der Urteilsunterschied zwischen Lehrpersonen und Eltern. Je ausgeprägter die Empathie der Eltern ist, desto grösser ist der Urteilsunterschied. Wenn Lehrpersonen bzw. Eltern die Situation von Kindern aufmerksam und wohlwollend wahrnehmen, werden den Kindern höhere Werte der Selbstwahrnehmung und Kooperation zugesprochen. Eltern schreiben den Kindern in der Familiensituation mit hoher Interaktionsdichte höhere Werte zu als Lehrpersonen im Klassensetting mit geringerer Interaktionsdichte mit den einzelnen Kindern. Folglich lassen sich Urteilsunterschiede zwischen Eltern und Lehrpersonen teilweise auf Wahrnehmungseffekte zurückführen.

Die Moderationseffekte wurden allerdings nur für die Grundschule gefunden, nicht für den Kindergarten. Die Kindergarten-Teilstichprobe war eher klein, was die Chance signifikanter Ergebnisse verkleinert. Zudem sind die Beziehungen der Kindergärtner:innen zu den Kindern in der Regel näher und vertrauter als in der Grundschule, was Urteilsunterschiede im Vergleich zu den Eltern reduziert. Zusätzlich stimmen sich Kindergärtner:innen in ihren Urteilen intensiver mit den Eltern ab als Grundschullehrpersonen, so dass die Urteile konsistenter ausfallen könnten (Wannack 2001).

Bei der Emotionsregulation und beim Einfühlungsvermögen wird kein Moderationseffekt gefunden. Die Items zur Emotionsregulation und zum Einfühlungsvermögen basieren hauptsächlich auf direkt beobachtbaren Verhaltensweisen. Bei den Items zur Selbstwahrnehmung und zur Kooperation ist hingegen eine Interpretation der Verhaltensweisen erforderlich. Beispielsweise wird bei der Kooperation bewertet, ob das Kind Freude an kooperativen Aufgaben hat. Möglicherweise hängen die LSB‑V sowie die Empathie der Eltern in geringerem Ausmaß mit der Beobachtung von Verhalten (Fakten) zusammen als mit der Interpretation von Verhalten. Weil solche Urteilseffekte bisher kaum erforscht wurden, sollte zukünftige Forschung den Einfluss von LSB‑V und Empathie der Eltern auf die Wahrnehmung von Verhaltensweisen von Kindern mit und ohne Verhaltensauffälligkeiten genauer untersuchen.

Die LSB‑V und die Empathie der Eltern können die Urteilsunterschiede jedoch nicht vollständig erklären. Ein Teil der Unterschiede könnte daher durch Verhaltensunterschiede des Kindes in Schule (inkl. Kindergarten) und Familie zustande kommen (Neuenschwander et al. 2005; Wild und Lorenz 2010). Möglicherweise fällt es Kindern in der Familie leichter als in der Schule, sich einfühlend zu verhalten und die eigenen Emotionen zu regulieren, da eine gewisse Vertrautheit in der Familie gegeben ist.

Die Korrelationsanalysen zeigen in Übereinstimmung mit früheren Studien signifikante Korrelationen zwischen den Urteilen von Eltern und Lehrpersonen. Die Ergebnisse von standardisierten Entwicklungstests korrelieren mit den Urteilen der Lehrpersonen über die vier Aspekte der sozial-emotionalen Kompetenzen signifikant, aber schwach. Bei den Elternurteilen korrelieren die standardisierten Testergebnisse nur mit der Selbstwahrnehmung und dem Einfühlungsvermögen. Der ausgewählte Untertest des IDS‑1 differenziert nicht zwischen verschiedenen Facetten der sozial-emotionalen Kompetenzen und bildet das Entwicklungsniveau der sozial-emotionalen Entwicklung nur in Ansätzen ab, was auf eine undifferenzierte, allgemeine Einschätzung der sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder hindeutet (Frischknecht et al. 2015; Koch et al. 2011). Offenbar ist eine globale Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen durch Eltern und Lehrpersonen möglich, eine präzise und differenzierte Beurteilung dieser Kompetenzen gelingt jedoch nicht (Frischknecht et al. 2015).

5.1 Limitationen

Die Studie unterliegt mehreren Limitationen. Die Analysen wurden mit querschnittlichen Daten durchgeführt. Der Zusammenhang zwischen der LSB‑V bzw. der Empathie der Eltern und der Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen darf nicht kausal interpretiert werden. Frühere Studien postulieren eine Wechselwirkung zwischen den sozial-emotionalen Kompetenzen und der LSB (Hajovsky et al. 2021). Zudem wurde die LSB‑V nur aus Lehrpersonensicht erfasst. Zukünftige Studien sollten zusätzlich die Schüler:innensicht bei der LSB‑V einbeziehen. Eine weitere Limitation besteht im Fehlen von akkuraten standardisierten Entwicklungstests zur Messung verschiedener Aspekte von sozial-emotionalen Kompetenzen. In der vorliegenden Studie wurde ein standardisierter Entwicklungstest (IDS-1) verwendet, welcher nur den allgemeinen Stand der sozial-emotionalen Entwicklung beschreibt. In zukünftiger Forschung sollten reliable, standardisierte Verfahren zur differenzierten Beschreibung der sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern entwickelt werden, die Lehrpersonen bei Schüler:innenbeurteilungen verwenden können. Solche Verfahren sollten nicht nur exakter die Kompetenzen von Kindern eruieren, sondern auch eine zielgerichtete Förderung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten ermöglichen.

5.2 Schlussfolgerungen für die Praxis und die zukünftige Forschung

Die präsentierten Ergebnisse zeigen Herausforderungen bei der Beurteilung der sozial-emotionalen Kompetenzen im Schulfeld, weil die Urteile nur teilweise mit den standardisierten Testergebnissen korrelieren sowie mit der LSB‑V und der Empathie der Eltern in Wechselwirkung stehen (Verzerrungseffekte). So unterscheiden sich die Urteile der sozial-emotionalen Kompetenzen zwischen Eltern und Lehrpersonen weniger, wenn Lehrpersonen aus ihrer Sicht eine positive Beziehung zu den Schüler:innen pflegen. Die Ergebnisse erlauben aber keine Aussagen darüber, ob Lehrpersonen die Kompetenzen unterschätzen oder ob Eltern sie überschätzen. Da die Urteile der sozial-emotionalen Kompetenzen mit der LSB‑V zusammenhängen, sollten Lehrpersonen ihre Urteile sorgfältig reflektieren und überprüfen. Urteilsunterschiede in den sozial-emotionalen Kompetenzen können zu Konflikten zwischen Eltern und Lehrpersonen führen, die jedoch durch eine ausführliche Erläuterung der jeweiligen Beurteilungen gelöst werden können. Es ist daher wichtig, in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen ein klares Konzept der sozial-emotionalen Kompetenzen und deren Beurteilung zu vermitteln und Fördermöglichkeiten zu thematisieren.

Für die Klärung der Konzepte der sozial-emotionalen Kompetenzen und ihre reliable sowie valide Beurteilung ist weitere Forschung erforderlich. Außerdem braucht es reliable, valide und differenzierte Messinstrumente zur Erfassung der sozial-emotionalen Kompetenzen (standardisierte Beurteilungsbogen, standardisierte Tests usw.), welche zur Absicherung der Lehrpersonenurteile beigezogen werden können.