1 Einleitung

Prosoziales Verhalten entwickelt sich bereits im frühen Kindesalter und ist eng mit der emotionalen und kognitiven Entwicklung verknüpft (vgl. Reinders 2008; Denham et al. 2009, S. 37). Defizite in dem einen Bereich können Defizite in einem anderen Bereich hervorrufen. Werden Entwicklungsverzögerungen nicht entdeckt und wird ihnen dementsprechend auch nicht begegnet, kann dies negative Konsequenzen haben, die weit in das Jugendalter reichen und denen dann nicht mehr entgegengewirkt werden kann (Reinders 2008; Malti und Perren 2011, S. 332).

Da sich prosoziales Verhalten vor allem im Kindergartenalter ausbildet, ist es notwendig, das Sozialverhalten schon zu diesem Zeitpunkt zu beobachten und angemessene Strategien der Erfassung anzuwenden. Allerdings gibt es viele unterschiedliche Herangehensweisen, Ansichten und Definitionen dazu, was das prosoziale Verhalten ausmacht. Diese theoretische Uneinigkeit erschwert die Messung prosozialen Verhaltens. Alle Messungen sind dabei, selbst bei einheitlicher theoretischer Definition, von subjektiven Einschätzungen der Beurteiler abhängig (vgl. Kanning 2009, S. 72).

Aus diesem Grund hat sich in der Wissenschaft in Bezug auf die Erhebung von Persönlichkeits- und Verhaltenscharakteristika die Berücksichtigung der Multi-Informanten-Perspektive etabliert. Dabei werden nicht nur eine, sondern mehrere Personen aus unterschiedlichen Lebenskontexten der Untersuchungsperson zu nicht direkt beobachteten theoretischen Konstrukten wie dem prosozialen Verhalten befragt. Untersuchungen zu Beurteilerübereinstimmungen wurden bislang im entwicklungsrelevanten Vorschulbereich nur selten durchgeführt und Merkmale der einzuschätzenden Personen nicht ausreichend berücksichtigt.

Im vorliegenden Beitrag widmen wir uns deshalb der Frage, inwiefern Einschätzungen verschiedener Personen zum prosozialen Verhalten von fünfjährigen Kindergartenkindern übereinstimmen und wie diese Einschätzungen – getroffen in unterschiedlichen Kontexten – von zentralen Kind- und Familienmerkmalen (Alter, Geschlecht, Sprachkompetenz sowie der sozialen Herkunft des Kindes) moderiert werden.

2 Theorie und Forschungsstand

2.1 Prosoziales Verhalten

Das prosoziale Verhalten wird dem Konstrukt der sozialen Kompetenz zugeordnet, welche sich aus einem breiten Spektrum menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammensetzt. Sehr allgemein – jedoch Disziplinen übergreifend – wird soziale Kompetenz als die Möglichkeit angesehen, effektiv mit der Umwelt zu interagieren (White 1959), d. h. positive soziale Beziehungen aufzubauen und diese zu erhalten, während eigene Ziele erreicht werden (Malti und Perren 2011, S. 332). Prosozialität ist ein „intentionales und willentliches Handeln[, welches] potenziell oder tatsächlich zum Wohlergehen einer Empfängerperson beiträgt“ (Bierhoff 2010, S. 13). Es gehört nach Kanning (2002) zum motivational-emotionalen Bereich der sozialen Kompetenz und ist deren Dimension der Anpassungsfähigkeit zuzurechnen. Laut den Entwicklungsmeilensteinen von Denham et al. (2009) entwickelt sich prosoziales Verhalten vor allem in der Kindergartenphase und dabei parallel zur emotionalen Kompetenz und der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (Theory of mind). Kinder können erste soziale Emotionen ausdrücken und selbstständig regulieren. Grundlegende Normen und Verhaltensregeln werden verinnerlicht. Im Rollenspiel trainieren Kinder ihre Fähigkeit der Perspektivenübernahme, wie anhand einer Studie von Goldstein und Winner (2012) erneut veranschaulicht wurde, und tauschen sich mit anderen aus. Unabhängig von der Gefühlsansteckung im jüngeren Kleinkindalter erkennen Kinder nun, wie es dem Gegenüber ergeht und was er braucht (vgl. Denham et al. 2009, S. 39). Sie zeigen die Fähigkeit und Bereitschaft, mit anderen zu interagieren und Hilfe anzubieten (vgl. Bischof-Köhler 2011, S. 264).

Prosoziales Verhalten – als Schlüsselkompetenz der sozialen Kompetenz (vgl. Malti und Perren 2011, S. 336) – sorgt dafür, dass Menschen Freundschaften schließen und diese auch halten können. Es beeinflusst die Qualität späterer Paarbeziehungen und mindert soziale Ängste sowie die Wahrscheinlichkeit, straffällig zu werden. Der prädiktive Charakter der sozialen Kompetenz lässt darüber hinaus auch Aussagen über das akademische Fortkommen der Individuen zu (vgl. Denham et al. 2014). Kinder mit einem ausgeprägten sozialkompetenten Verhalten zeigen bessere Leistungen in der Schule und haben höhere Chancen auf beruflichen Erfolg (vgl. Reinders 2008, S. 27; Denham et al. 2009; Pfadenhauer 2009).

2.2 Die Messung prosozialen Verhaltens als Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmal

Persönlichkeits- und Verhaltenscharakteristika wissenschaftlich zu erfassen ist aus verschiedenen Gründen nicht trivial. Neben unterschiedlichen Herangehensweisen, Maßstäben, Ansichten und Definitionen dazu, was das jeweilige Konstrukt eigentlich ausmacht, können sie anders als z. B. kognitive Kompetenzen nicht ohne großen Aufwand objektiv gemessen werden, sondern werden stattdessen meist aus den Beobachtungen anderer Personen abgeleitet.

Zur Übereinstimmung von ErzieherFootnote 1-, Lehrer‑, Eltern‑, Peer- und Selbsteinschätzungen wurde seit Anfang der 1980er-Jahre eine Vielzahl von Studien, hauptsächlich zu auffälligem oder störendem Verhalten der Zielperson, durchgeführt (vgl. Döpfner et al. 1993; Kuschel et al. 2007; Koskelainen 2008; Janssens und Deboutte 2009; Elberling et al. 2010; Dinnebeil et al. 2013). Metastudien von Achenbach et al. (1987), von Renk und Phares (2004) (zu Einschätzungen von sozialer Kompetenz) sowie Stone et al. (2010) belegen im Allgemeinen geringe Übereinstimmungen zwischen den Urteilern – auch für den Teilbereich prosozialen Verhaltens (Pearsons r = 0,22 bis 0,48). Rescorla et al. (2014) bestätigen diese Ergebnisse anhand einer in 25 verschiedenen Ländern durchgeführten Studie. Ein zentraler Grund für die geringe Übereinstimmung von Beobachterurteilen ist die Kontextabhängigkeit des Sozialverhaltens. Werden Personen aus unterschiedlichen Lebenskontexten um eine Einschätzung gebeten (mit dem Ziel ein ganzheitliches Bild des Verhaltens der Zielperson zu erhalten), weichen diese häufig voneinander ab (vgl. Ulber und Imhof 2014, S. 54). Daher überrascht es nicht, dass Beurteilerpaare mit ähnlichen Rollen wie z. B. Vater/ Mutter oder zwei Erzieher derselben Kindergartengruppe höhere Übereinstimmungswerte haben als z. B. Mütter/Erzieher (vgl. Achenbach et al. 1987; Kuschel et al. 2007, S. 54; Korsch und Petermann 2013). Die Einschätzungen können dabei auch aus anderen Gründen als dem kontextspezifischen Verhalten der einzuschätzenden Person variieren. Stereotype z. B. können in der Einschätzung des Sozialverhaltens eine Rolle spielen. Sie beeinflussen unser Denken, Handeln und die Weise, auf die wir bestimmte Dinge interpretieren (vgl. Hilton und Hippel 1996, S. 240).

Darüber hinaus besitzen Beobachter unterschiedliche Interessen, Maßstäbe, Vergleichsmöglichkeiten und Kompetenzen (Erzieher besitzen anders als Eltern beispielsweise eine Fachausbildung und erleben Kinder täglich im Vergleich), wodurch ein und dasselbe Verhalten häufig anders eingestuft wird (vgl. Wirtz und Caspar 2002, S. 31; Ulber und Imhof 2014, S. 61 ff.). Darüber hinaus sind Eltern stärker emotional involviert, wenn sie das Sozialverhalten ihres Kindes einschätzen, als Erzieher, die mit professioneller emotionaler Distanz an die Einschätzung herangehen (vgl. Mohr und Glaser 2010, S. 138; Koch et al. 2011, S. 244). So berichten Korsch und Petermann (2013), dass Eltern ihre Kinder sowohl für positive als auch für negative Verhaltenscharakteristika (vgl. Rescorla et al. 2014, S. 11) systematisch höher einschätzen als Erzieher, wobei auch letztere die Fähigkeiten der Kinder eher über- als unterschätzen (vgl. Koch et al. 2011, S. 247). Dabei stimmen die Einschätzungen von beiden Beurteilergruppen höher bei externalisiertem als bei internalisiertem Problemverhalten überein. Kognitive Charakteristika werden besser eingeschätzt als emotional-soziale Eigenschaften (vgl. Miller und Davis 1992; Koch et al. 2011, S. 253). In einer weiteren Studie stellen Frischknecht et al. (2015, S. 76) elterliche Einschätzungen zur Entwicklung ihrer Kinder objektiven Testergebnissen gegenüber. Im Fokus standen die Bereiche Kognition, Allgemeine Entwicklung, Sozial-Emotionale Kompetenz, logisch-mathematisches Denken und Sprache, die jeweils mit nur einem Item erfasst wurden. Es zeigt sich, dass Eltern durch ihre Einschätzungen zwar die Rangposition ihres Kindes innerhalb einer Gruppe bestimmen können, jedoch nicht zur frühzeitigen Diagnostik von Entwicklungsdefiziten geeignet sind. Chung et al. (2011) attestieren der elterlichen Besorgnis um ihre Kinder hingegen einen hohen Stellenwert als reliable Informationsbasis um Entwicklungsstörungen aufzudecken.

Im Besonderen in Bezug auf das prosoziale Verhalten korrelieren die Einschätzungen verschiedener Beobachter nur gering miteinander. Untersuchungen zu Beurteilerübereinstimmungen sind im für die Entwicklung zentralen Vorschulbereich selten und berücksichtigen mögliche Zusammenhänge der Beobachterurteile mit sozialen Herkunftsmerkmalen der einzuschätzenden Kinder, wie z. B. der mütterlichen Bildung, dem Haushaltseinkommen sowie der Ethnie oder auch der Sprachkompetenz der Kinder (vgl. Gagnon et al. 1992; Döpfner et al. 1993; Phillips und Lonigan 2010; Dinnebeil et al. 2013) kaum. Inwiefern das Alter oder auch das Geschlecht des zu beurteilenden Kindes im Zusammenhang mit der Übereinstimmung der Einschätzungen steht, ist bereits eingehender untersucht worden (siehe Kap. 3) (vgl. Renk und Phares 2004). Studien, die die Sprachkompetenz von Kindern und ihren Zusammenhang mit der Übereinstimmung von Einschätzungen betrachten, liegen bislang nicht vor.

3 Untersuchungscharakteristika und Hypothesen

Im Fokus des vorliegenden Beitrags liegt die Übereinstimmung von Beurteilereinschätzungen zum prosozialen Verhalten von Kindergartenkindern unter der Berücksichtigung verschiedener Kind- und Familienmerkmale. Dazu leiten wir aus dem zuvor dargestellten Forschungsstand konkrete Hypothesen für unsere Fragestellung ab. Zum einen ist davon auszugehen, dass die Fähigkeit zum prosozialen Handeln vom sozialen Kontext, also von der sozialen Gruppe und Situation, abhängt (vgl. Renk und Phares 2004, S. 249; Malti und Perren, S. 334). Es werden somit von den beiden Beurteilern zwei unterschiedliche Aspekte der Prosozialität der Kinder beobachtet. Die durchgehend geringen Korrelationen könnten auch auf das zu erfassende Konstrukt des prosozialen Verhaltens zurückzuführen sein. Übereinstimmungen in den Einschätzungen zu anderen psychologischen Konstrukten, wie z. B. Verhaltensauffälligkeiten, sind von allen Beteiligten einfacher wahrzunehmen. Die Einschätzungen weisen hier eine höhere Übereinstimmung auf (vgl. Achenbach et al. 1987; Renk und Phares 2004). Unter Berücksichtigung des Forschungsstands zur Übereinstimmung von Beurteilereinschätzungen nehmen wir an, dass die Einschätzungen der Eltern und der Erzieher zum einen keine hohe Übereinstimmung aufweisen und zum anderen die Einschätzungen der Eltern systematisch über denen der Erzieher liegen.

Darüber hinaus wird untersucht, welche Faktoren sich auf das prosoziale Verhalten und dessen Einschätzung auswirken könnten. In Ergänzung zu bisher geleisteter Forschung integrieren wir folgende Kind- und Familiencharakteristika als relevante Untersuchungskriterien: Alter, Geschlecht, sprachliche Kompetenzen und soziale Herkunft. Bei der Betrachtung dieser Merkmale muss die Überlegung miteinbezogen werden, ob (1) von kontextunabhängigen Zusammenhängen zwischen berücksichtigtem Merkmal und dem Sozialverhalten der Kinder auszugehen ist (die Beurteiler sollten damit zu gleichen Einschätzungen gelangen) oder, (2) ob ein kontextabhängiges Verhalten der Kinder anzunehmen ist und sich die Einschätzungen deshalb unterscheiden. (3) Zudem muss erwägt werden, ob (bei bestimmten Merkmalen) die verschiedenen Fähigkeiten, Vergleichsmöglichkeiten und Maßstäbe der Beurteiler oder ob auch Stereotype zu unterschiedlichen Einschätzungen führen.

3.1 Alter des Kindes

Das prosoziale Verhalten entwickelt sich größtenteils zwischen dem dritten und dem fünften LebensjahrFootnote 2 (vgl. Kasten 2008; Bischof-Köhler 2011). In dieser ersten Zeit wächst das Vermögen der Kinder, andere zu verstehen, sich mit deren Ansichten auseinanderzusetzen und Hilfe anzubieten (vgl. Denham et al. 2009, S. 38). Santos et al. (2014) berichten hingegen beides, Stabilität und Wechsel in Bezug auf die Entwicklung sozialer Kompetenz im Kindergartenalter.

Bisher konnte in Metastudien nur gezeigt werden, dass die Übereinstimmung der Einschätzungen bei älteren Kindern und Jugendlichen höher ausfällt als bei Kindergartenkindern, so werden bei Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren die höchsten Korrelationen berichtet (vgl. Achenbach et al. 1987). Die im Rahmen des Nationalen Bildungspanels untersuchten Kinder sind zwei Jahre vor ihrer Einschulung hingegen noch vergleichsweise jung. Wir nehmen an, dass der Entwicklungsprozess sowohl im Familien- als auch im Kindergartenkontext deutlich sichtbar ist, sodass ältere Kinder von beiden Beurteilergruppen prosozialer eingeschätzt werden als jüngere Kinder.

3.2 Das Geschlecht des Kindes

Zwischen Mädchen und Jungen gibt es hinsichtlich ihres Sozialverhaltens Unterschiede. Die bisherige Forschung in diesem Bereich konnte belegen, dass Mädchen weniger aggressives Verhalten zeigen (vgl. Eagly und Steffen 1986; Pasterski et al. 2011, S. 285 ff.; Rescorla et al. 2014, S. 12), besser darin sind, nonverbale Signale zu dekodieren (vgl. Renk und Phares 2004, S. 242) und harmoniebedürftiger sind als Jungen. Diese sind hingegen hilfsbereiter Fremden (vgl. Eagly 1987, S. 68) gegenüber. Diese Geschlechtsunterschiede werden anhand Theorien verschiedenster Disziplinen untersucht. Der sozialpsychologische Erklärungsansatz stellt die Interaktion der Individuen in den Mittelpunkt der Ursachenforschung, wobei soziale Rollenzuschreibungen und damit auch Geschlechterstereotype eine wichtige Rolle spielen.

Empirisch wurde bislang kein Unterschied in der Höhe der Übereinstimmung der Einschätzungen aufgrund des Geschlechts der einzuschätzenden Person berichtet (vgl. Achenbach et al. 1987; Renk und Phares 2004). Studien zeigten jedoch, dass Mädchen tendenziell prosozialer eingeschätzt werden als Jungen (vgl. van Widenfelt et al. 2003, S. 286; Koglin et al. 2007, S. 179). Leider kann der Einfluss von Stereotype an dieser Stelle nicht untersucht werden. Wir nehmen folglich an, dass sowohl Eltern als auch Erzieher das Verhalten von Mädchen gegenüber dem Verhalten von Jungen als eher rücksichtsvoll, hilfsbereit und offen einschätzen – unabhängig davon, ob sich Mädchen prosozialer verhalten oder ihnen dieses Verhalten durch die Beurteiler nur unterstellt wird.

Darüber hinaus könnten im Kindergartenkontext häufiger Situationen entstehen, welche Geschlechtsstereotype aktivieren. So kann sich das geschlechterspezifische Verhalten beim Spielen innerhalb geschlechtshomogener Gruppen verstärken (vgl. Maccoby 2000) und Geschlechterunterschiede in heterogenen Gruppen stärker zu Tage treten. Es wird daher ergänzend ein stärkerer geschlechtsspezifischer Zusammenhang für die Einschätzungen der Erzieher als für die der Eltern erwartet.

3.3 Die Sprachkompetenz des Kindes

Die Sprachkompetenz entwickelt sich parallel und in Wechselwirkung mit anderen Entwicklungsbereichen. Eine verzögerte Sprachentwicklung ist daher meistens ein Symptom oder auch die Ursache für eine Verzögerung in der Entwicklung des Sozialverhaltens (vgl. Peter 2000, S. 51). Es kann daher ein genereller Zusammenhang zwischen dem Sozialverhalten und der Sprachkompetenz des Kindes angenommen werden: Kinder mit höheren sprachlichen Fähigkeiten weisen ein prosozialeres Verhalten auf.

In der Beobachtung dieser Unterschiede sollte der Kontext jedoch eine zentrale Rolle einnehmen. In der häuslichen Umwelt ist eine Kommunikation mittels Sprache nicht unbedingt nötig: Innerhalb der Familien wird schon vor dem ersten richtigen Wort des Kindes miteinander kommuniziert. Ritualisierte innerfamiliäre Abläufe vereinfachen dabei eine sprachfreie Kommunikation. Die Kinder sind daher durchaus fähig, sich mit den Familienmitgliedern zu verständigen, auch ohne den Gebrauch von Sprache. Eine etablierte nonverbale Kommunikation zwischen Eltern und Kind rückt Sprache als Kommunikationsmittel in den Hintergrund (vgl. Zollinger 2000; Papousek 2012). Im Kindergarten basiert Kommunikation hingegen hauptsächlich auf Sprache. Bei vorhandenen Sprachdefiziten gelingt die Kommunikation mit den anderen Kindern und den Erziehern nicht so gut wie in der Familie. In der Studie von Horowitz et al. (2007) wurden elf Jungen mit Sprachbeeinträchtigung unter 20 Jungen mit normaler Sprachentwicklung in einer Kindergartengruppe untersucht. Der Fokus lag auf unkooperativen Verhalten. Sie fanden heraus, dass die Jungen mit Sprachbeeinträchtigung häufiger Rückzugs- und Vermeidungsstrategien anwendeten und weniger häufig Aggressionsstrategien im Konfliktmanagement zeigten. Kindern mit Sprachdefiziten fällt es schwer, soziale Kontakte aufzubauen. Sie entwickeln ein auffälliges Verhalten, welches sich in extremen Rückzugsverhalten oder bisweilen auch durch Aggressivität zeigen kann (vgl. Mathieu 2000, S. 84; Zollinger 2000, S. 65; Horowitz et al. 2007). Wir nehmen für unsere Untersuchung an, dass Unterschiede im Sozialverhalten zwischen Kindern mit höheren sprachlichen Fähigkeiten und Kindern, deren sprachliche Kompetenzen weniger gut entwickelt sind, vom Erzieher stärker wahrgenommen werden, da diese die Unterschiede bei der Interaktion mit und zwischen den Kindern in der Kindergartengruppe beobachten können.

3.4 Die soziale Herkunft der Kinder

Studien belegten, dass Mütter mit einem geringeren sozioökonomischen Status weniger mit ihren Kindern reden (vgl. Hoff-Ginsberg und Tardif 1995), dass sie ihnen eher autoritär begegnen und sie öfter bestrafen (vgl. Hart und Risley 1995). Während sie ihnen weniger erklären, diskutieren Mütter mit höherem sozioökonomischen Status mit ihren Kindern, bieten ihnen Wahlmöglichkeiten und beeinflussen sie auf subtile Weise (vgl. Lareau 2003). Wir nehmen daher an, dass sich daraus ein herkunftsspezifisches Sozialverhalten entwickelt, welches sich sowohl im Kontext der Familie als auch im Kindergarten zeigen sollte.

Die soziale Herkunft des Kindes beeinflusst möglicherweise auch die Einschätzungen der beiden Beurteilergruppen. Beyer (2013) weist darauf hin, dass soziale Ungleichheit und Stereotype bereits im Kindergarten eine Rolle spielen. Bei den Erziehern könnten stereotype Ansichten greifen, wonach mögliche Unterschiede im Sozialverhalten der Kinder unter- bzw. überschätzt werden. Bei den Eltern variieren dagegen die Ansichten und Maßstäbe je nach sozialer Herkunft (vgl. Bremer 2007, S. 128; Bourdieu 2011, S. 282 f.), was sich in ihren Erwartungen an das Sozialverhalten ihrer Kinder widerspiegelt. Studien zur Beurteilerübereinstimmung zeigten diesbezüglich widersprüchliche Ergebnisse. Dinnebeil et al. (2013) haben die Übereinstimmung der Einschätzungen zu sozialer Kompetenz und Problemverhalten von Kindern im Hinblick auf die Bildung der Mutter und das jährliche Haushaltseinkommen untersucht. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die genannten Faktoren in keinem Zusammenhang zur Beurteilerübereinstimmung stehen (vgl. Dinnebeil et al. 2013, S. 148). Gagnon et al. (1992, S. 126) untersuchten den Zusammenhang der Übereinstimmung mit der Bildung der Mutter und dem Berufsprestige des Vaters und fanden ebenfalls keine Zusammenhänge. Lediglich bei der Einschätzung des Problemverhaltens von Jungen fanden sie höhere Korrelationen zwischen den Eltern- und Erziehereinschätzungen, wenn das Berufsprestige der Eltern höher war. Wir gehen daher davon aus, dass die Einschätzungen von Erzieher und Elternteil dann ähnlicher ausfallen, wenn die Eltern der Kinder aus höheren gesellschaftlichen Schichten stammen.

4 Methodisches Vorgehen

4.1 Daten und Operationalisierung

4.1.1 Das Nationale Bildungspanel (NEPS)

Als Datengrundlage für unsere Analysen verwenden wir die erste Erhebung der Startkohorte 2 des Nationalen Bildungspanels (vgl. NEPS; Blossfeld et al. 2011). Die Ausgangsstichprobe stellten im Jahr 2011 durchschnittlich 60 Monate alte Kindergartenkinder in ihrem vorletzten Kindergartenjahr dar. Mit den teilnehmenden Kindern dieser deutschlandweit repräsentativen Stichprobe wurden individuelle Kompetenztests in ihren Kindergärten durchgeführt. Darüber hinaus fanden telefonische Interviews mit einem Elternteil statt, welche u. a. die Einschätzung des prosozialen Verhaltens des Kindes und soziodemographische Angaben der Familie beinhaltete. Zudem füllten die Erzieher für jedes teilnehmende Kind einen Einschätzbogen aus. Nach Berücksichtigung sämtlicher Variablen liegen für 1946 Kinder aus 615 Kindergartengruppen je eine Eltern- und eine Erziehereinschätzung zum prosozialen Verhalten des Kindes vor.

4.1.2 Das prosoziale Verhalten der Kinder (SDQ) als abhängige Variable

Unsere abhängige Variable, das prosoziale Verhalten der Kinder, wurde über eine Unterskala des SDQFootnote 3 (Strenghts and Difficulties Questionnaire (vgl. Goodman 1997) – Skala für prosoziales Verhalten) operationalisiert. Der SDQ ist ein oft benutztes Instrument in der Sozialforschung und in der klinischen Psychologie. Es handelt sich dabei um einen Fragebogen zur Erfassung von Stärken und Schwächen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von vier bis 16 Jahren (vgl. Goodman 1997, S. 581; Woerner et al. 2002, S. 106). Zur Erfassung des prosozialen Verhaltens im NEPS beantworteten sowohl Erzieher als auch ein Elternteil folgende Frage: „Bitte beurteilen sie das Verhalten dieses Kindes auf Basis der letzten sechs Monate. Wie gut treffen die folgenden Beschreibungen auf das Kind zu?“ Die fünf Items zur Erfassung des prosozialen Verhaltens lauteten: „rücksichtsvoll“, „teilt gerne mit anderen Kindern (Süßigkeiten, Spielzeug, Buntstifte usw.)“, „hilfsbereit, wenn andere verletzt, krank oder betrübt sind“, „lieb zu jüngeren Kindern“ und „hilft anderen oft freiwillig (Eltern, Lehrern oder anderen Kindern)“. Die Beurteiler konnten zwischen den Antwortkategorien „nicht zutreffend“ (= 0), „teilweise zutreffend“ (= 1) und „eindeutig zutreffend“ (= 2) wählen. Aus den je fünf Items wurde ein Summenscore gebildet, der den Wertebereich von 0 (besonders antisoziales Verhalten) bis 10 (besonders prosoziales Verhalten) abdeckt.

4.1.3 Unabhängige Variablen

Die Variable Beurteiler (0 = Eltern; 1 = Erzieher) indiziert, welche Einschätzung zum prosozialen Verhalten eines Kindes von einem Elternteil oder einem Erzieher abgegeben wurde. Neben dem Alter (in Monaten) und dem Geschlecht (0 = Junge; 1 = Mädchen) dient die Sprachkompetenz der Kinder als unabhängige Variable. Diese wurde im NEPS auf zwei Arten erfasst: anhand des Hörverstehens auf Satzebene („Grammatikkompetenz“) und anhand des Hörverstehens auf Wortebene („Wortschatzkompetenz“). Das Hörverstehen auf Satzebene wird mittels des „Tests for Reception of Grammar“ (TROG) von Bishop (1989) getestet, der seit 2006 auch in einer deutschen Version (TROG-D) (vgl. Fox 2008) zur Verfügung steht. Der Test wurde im NEPS in einer gegenüber dem Original gekürzten Version mit 48 Items eingesetzt. Demnach konnten die Kinder hier maximal 48 Punkte erreichen. Das Hörverstehen auf Wortebene wurde in vielen Studien mittels des Peabody Picture Vocabulary Test (PPVT) erhoben. In seiner Originalversion kann dieser Test über einen großen Altersbereich hinweg eingesetzt werden. Der PPVT steht jedoch erst für Kinder ab dem Alter von 13 Jahren in einer deutschen Version zur Verfügung, weshalb im NEPS auf ein dem PPVT ähnliches Verfahren zurückgegriffen wurde. Es konnten maximal 77 Punkte erreicht werden (vgl. Otto-Friedrich-Universität, Nationales Bildungspanel 2011, S. 6).

Neben den genannten Merkmalen und Kompetenzen des Kindes wurde auch die soziale Herkunft der Familie in die Analyse aufgenommen. Sie wurde anhand des höchsten Bildungsabschlusses im Haushalt in Jahren (H-CASMIN: Highest Comparative Analysis of Social Mobility in Industrial Nations, König et al. 1988) und anhand des höchsten beruflichen Status im Haushalt (HISEI: Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status, Ganzeboom et al. 1992) operationalisiert. Tab. 1 gibt einen Überblick.

Tab. 1 Stichprobenmerkmale

4.2 Analytisches Vorgehen

Als analytisches Vorgehen wählen wir einen Mehrebenenansatz, da sich die Einschätzungen zum prosozialen Verhalten der Kinder sowohl in den Kindern selbst (jede Angabe entspricht einer einzelnen Zeile im Datensatz) als auch in den Kindergartengruppen nesten. Der Vorteil dieses Vorgehens gegenüber der Verwendung von Differenzenwerten besteht zum einen darin, dass ermittelt werden kann, ob und wie stark die mittleren Einschätzungen der Erzieher und der Eltern voneinander abweichen. Zum anderen erlaubt der gewählte Ansatz zu untersuchen, ob und inwiefern die Einschätzungen der Beurteiler jeweils mit den kindbezogenen Merkmalen variieren und ob sich diese Effekte je Beurteiler voneinander unterscheiden. Für den letztgenannten Punkt werden für alle theoretisch relevanten Variablen (Alter, Geschlecht, Sprachkompetenz, HCASMIN in Jahren, HISEI) Interaktionsterme mit der Variablen Beurteiler berechnet, um die relative Relevanz der einzelnen Indikatoren für die jeweilige Angabe (Eltern oder Erzieher) zum prosozialen Verhalten zu ermitteln. Die (quasi-)metrischen Variablen (Alter, Sprachkompetenz, HCASMIN, HISEI) werden dabei z‑standardisiert, um sowohl die Effekte der erklärenden Variablen innerhalb eines Modells als auch die Effekte dieser Variablen zwischen den Modellen miteinander vergleichen zu können.

Um dieser besonderen Struktur der Daten gerecht zu werden, muss ermittelt werden, ob Unterschiede der abhängigen Variablen auf den verschiedenen Ebenen, d. h. zum einen auf Unterschiede zwischen den Kindern und zum anderen auf Unterschiede aufgrund der Zugehörigkeit zu Kindergartengruppen bestehen. Überprüft werden kann dies mithilfe des ICCFootnote 4 (Intraklassenkorrelation; Intra-Class-Correlation) (vgl. Rabe-Hesketh und Skrondal 2008): Nimmt dieser den Wert null an, so sind keine systematischen Unterschiede zwischen den Kindern bzw. den Kindergartengruppen zu erkennen und die gesamte zu erklärende Varianz ist auf Ebene der Einschätzungen (unabhängig, ob diese aus Eltern- oder Erzieherperspektive erteilt wurde) an sich verortet. Ein Wert von eins indiziert das Gegenteil. Es zeigt sich anhand des Nullmodells, dass rund 12 % der Variabilität in den Einschätzungen durch Unterschiede zwischen den Kindern erklärt werden kann, durch die Zugehörigkeit zu einer Kindergartengruppe nur rund 6 %.

Die Analyse des prosozialen Verhaltens in Abhängigkeit von verschiedenen Merkmalen und je nach Beurteiler erfolgt als Konsequenz des hohen ICCs auf Kindebene mittels hierarchisch linearer Regression (vgl. Rabe-Hesketh und Skrondal 2008; Snijders und Bosken 2012). Mit dieser Herangehensweise wird letztlich für den nicht unerheblichen Unterschied zwischen den Kindern kontrolliert (random intercept). Aufgrund des geringen Erkenntnisgewinns auf Kindergartenebene wird darauf verzichtet, die Kindergartengruppe zusätzlichen als separate Ebene zu modellieren. Somit befinden sich auf erster Ebene die Einschätzungen zum prosozialen Verhalten eines Kindes und auf zweiter Ebene die verschiedenen Kinder. Die genestete Datenstruktur wird dennoch durch die Schätzung robuster Standardfehler berücksichtigt. Die Anforderung unabhängiger Beobachtungen wird aufgeweicht, indem diese lediglich zwischen den Kindergartengruppen unabhängig sein müssen, aber nicht notwendigerweise innerhalb der Gruppen. Um den im Datensatz vorkommenden Missingquoten angemessen zu begegnen, haben wir fehlende Werte durch die Methode der Multiple Imputation by Chained Equations (MICE, vgl. Royston 2004) ergänzt. Da sich die Ergebnisse und Signifikanzen mit imputierten Daten nicht änderten und nur geringfügige Unterschiede in der Höhe der Koeffizienten auftraten, werden in diesem Beitrag die Ergebnisse auf Grundlage der Originaldaten berichtet. Alle Analysen wurden mit Hilfe der Statistik-Software STATA 13 berechnet.

5 Ergebnisse

5.1 Deskriptive Befunde

Die Skalen zu beiden Einschätzungen zum prosozialen Verhalten weisen eine linksschiefe Verteilung auf, d. h., sowohl Eltern als auch die Erzieher berichten überdurchschnittlich häufig, dass das jeweilige Kind eher prosoziales als antisoziales Verhalten zeigt. Die Abweichungen von einer Normalverteilung stellen sich aufgrund ausreichender Varianz allerdings als relativ unproblematisch dar. Wie u. a. in Abb. 1 zu erkennen ist, variieren die Einschätzungen der Erzieher im Vergleich stärker als die der Eltern. Die Erzieher vergeben zudem niedrige Werte zwischen 0 und 2 Punkte auf der Skala für prosoziales Verhalten, während die Angaben der Eltern ausnahmslos bei mindestens 3 Punkte liegen.

Abb. 1
figure 1

Histogramm über die Eltern- und Erziehereinschätzung des prosozialen Verhaltens der Kinder

Mit einem Cronbachs Alpha von 0,81 weist die Skala der Erzieher eine hohe interne Konsistenz auf. Die Reliabilität der Skala basierend auf den Elterneinschätzungen ist mit α = 0,54 mangelhaft. Andere Studien fanden ähnlich geringe Alpha-Werte für die Elterneinschätzung des prosozialen Verhaltens (vgl. Becker et al. 2006; Janssens und Deboutte 2009, S. 694; Stone et al. 2010, S. 261; Klinkhammer 2013, S. 137). Beide Itemsets weisen Faktorladungen zwischen > 0,4 und < 0,7 (mit Ausnahme des Items „teilt gerne mit anderen Kindern“ der Eltern-Skala mit einer Ladung von 0,37Footnote 5) auf. Ein Vergleich der Einschätzungen (Tab. 2) zeigt, dass beide Beurteiler nicht nur durchweg hohe Werte berichten, sondern, dass die Eltern darüber hinaus durchschnittlich höhere Werte angeben als die Erzieher. Die Erziehereinschätzung ist in fast 57 % der Fälle niedriger als die Elterneinschätzung, in knapp 18 % der Fälle ist sie identisch. Eine niedrige Korrelation (Pearson) von r = 0,24 bestätigt ergänzend, dass Eltern und Erzieher unterschiedliche Einschätzungen des prosozialen Verhaltens des jeweiligen Kindes vornehmen.

Tab. 2 Deskriptive Ergebnisse der Einschätzungen

5.2 Multivariate Befunde

Mittels hierarchisch linearer Regressionen kann zunächst die erste Annahme und der deskriptive Befund signifikant höherer Einschätzungen zum prosozialen Verhalten durch die Eltern bestätigt werden (vgl. Tab. 3, Modell 1). Erzieher schätzen das prosoziale Verhalten der Kinder im Schnitt um 1,13 Punkte auf der zehnstufigen Skala geringer ein als Eltern, und das über alle betrachteten Merkmale hinweg.

Tab. 3 Vergleich der Eltern- und Erziehereinschätzungen des prosozialen Verhaltens unter Berücksichtigung spezifischer Merkmale

Weiterhin zeigt sich, dass die Einschätzungen mit steigendem Alter der Kinder höher ausfallen (vgl. Modell 1) – unabhängig davon, ob sie durch einen Elternteil oder einen Erzieher erfolgten (vgl. Modell 2; Abb. 2a). So werden die jüngsten Kinder mit etwas mehr als 50 Monaten (etwa 4 Jahren) von den Erziehern durchschnittlich einen guten halben Punkt weniger prosozial auf der 10er-Skala eingeschätzt als die ältesten Kinder mit etwa 72 Monaten (6 Jahre). Bei den Einschätzungen der Eltern lässt sich ein ähnlicher Trend erkennen.

Abb. 2a,b
figure 2

Eltern- und Erziehereinschätzungen des prosozialen Verhaltens nach dem Alter und dem Geschlecht der Kinder. Anmerkungen: Kontrolliert für jeweils Geschlecht oder Alter, Wortschatz- und Grammatikkompetenz, Bildungshintergrund und sozioökonomische Position der Eltern

Wie angenommen zeigt sich, dass das Geschlecht der Kinder bei der Einschätzung des prosozialen Verhaltens eine Rolle spielt: Das prosoziale Verhalten von Mädchen wird als höher entwickelt eingeschätzt als das der Jungen (vgl. Modell 1). Die Einschätzungen der Eltern und der Erzieher fallen bei Mädchen deutlich ähnlicher aus als bei Jungen (vgl. Modell 3; Abb. 2b).

Weiterhin berücksichtigen wir, inwiefern die Sprachkompetenz der Kinder einen Zusammenhang zur Einschätzung des prosozialen Verhaltens aufweist. Es zeigt sich ein eindeutiges Bild, welches mit unserer Annahme übereinstimmt. Je besser die sprachlichen Kompetenzen der Kinder, desto besser wird deren prosoziales Verhalten durch die Erzieher berichtet (vgl. Modell 4 & Modell 5; Abb. 3a, b). Die Punktevergabe auf der Skala für prosoziales Verhalten fällt mit circa 1,5 Punkten Unterschied zwischen den Kindern mit den höchsten Werten und denen mit den schlechtesten Werten deutlich besser für sprachkompetentere Kinder aus. Die Elterneinschätzung variiert hingegen nicht mit dem sprachlichen Entwicklungsstand der Kinder (vgl. Modell 4 & Modell 5).

Abb. 3a,b
figure 3

Eltern- und Erziehereinschätzungen des prosozialen Verhaltens nach Wortschatz- und Grammatikkompetenz der Kinder. Anmerkungen: Kontrolliert für Alter und Geschlecht, jeweils Wortschatz- oder Grammatikkompetenz, Bildungshintergrund und sozioökonomische Position der Eltern

Aus Tab. 3 (vgl. Modell 6 & 7; Abb. 4a, b) wird weiterhin ersichtlich, dass sowohl die Bildung als auch die sozioökonomische Position der Eltern einen kleinen, jedoch signifikant positiven Effekt auf die Erziehereinschätzung hat. Für die Einschätzung der Eltern zeigt sich ein gegenläufiger Trend: Je höher die sozioökonomische Position der Eltern ist, desto schlechter fällt die Einschätzung des prosozialen Verhaltens aus. Der Einfluss der Bildungszugehörigkeit auf die Elterneinschätzung ist statistisch nicht signifikant. Der mittlere Unterschied von 1,13 Punkten zwischen den Einschätzungen der Erzieher und der Eltern verringert sich bei Kindern, deren Eltern die höchste sozioökonomische Position besitzen.

Abb. 4a,b
figure 4

Eltern- und Erziehereinschätzungen des prosozialen Verhaltens nach Bildungshintergrund und sozioökonomischer Position der Eltern. Anmerkungen: Kontrolliert für Alter und Geschlecht, Wortschatz- und Grammatikkompetenz, jeweils Bildungshintergrund oder sozioökonomische Position der Eltern

6 Diskussion

In dieser Arbeit sind wir der Frage nachgegangen, inwiefern sich die Einschätzungen von Eltern und Erziehern zum Sozialverhalten von Kindergartenkindern unterscheiden und ob ein Zusammenhang mit Kind- und Familiencharakteristika besteht. In vielen Studien wird Beurteilerübereinstimmung thematisiert (vgl. u. a. Döpfner et al. 1993; Kuschel et al. 2007; Koskelainen 2008; Janssens und Deboutte 2009; Elberling et al. 2010; Dinnebeil et al. 2013), doch nur selten wurde versucht, den Ursachen für die Unterschiede auf den Grund zu gehen. Wir konnten in einem ersten Schritt die bisherigen Ergebnisse aus der Literatur bestätigen: Die Einschätzungen zum prosozialen Verhalten von Kindergartenkindern, eingeschätzt durch zwei Beurteiler – einen Elternteil und einen Erzieher – weichen statistisch bedeutsam voneinander ab (vgl. Achenbach et al. 1987; Renk und Phares 2004; Stone et al. 2010). Zu berücksichtigen sind bei diesem Vergleich verschiedene Faktoren, die die Beurteilungen erschweren: der unterschiedliche Beobachtungskontext (Familie vs. Kindergarten), das schwer zu fassende Konstrukt des prosozialen Verhaltens sowie das junge Alter der einzuschätzenden Personen (vgl. Kuschel et al. 2007, S. 57).

Vor diesem Hintergrund haben wir den Übereinstimmungsgrad der Einschätzungen mit der von uns gewählten methodischen Vorgehensweise erstmalig etwas genauer in Hinblick auf Kind- und Familienmerkmale untersucht. Dabei zeigt sich zunächst ein ähnliches Ergebnis wie schon bei Korsch und Petermann (2013), nämlich dass die Eltern das Sozialverhalten ihrer Kinder unter Berücksichtigung relevanter Kind- und Familienmerkmale generell höher einschätzen als die Erzieher. Die Eltern weisen dabei eine wesentlich geringere Variation in ihren Einschätzungen auf als die Erzieher. Anzunehmen ist, dass Eltern eher sozial erwünscht antworten, da sie jeweils ihr eigenes Kind einschätzen. Hinzu kommt, dass Eltern deutlich weniger Vergleichsmöglichkeiten haben als Erzieher, die im Rahmen ihrer täglichen Arbeit mehrere Kinder erleben und damit auch objektiver und auf Grundlage ihrer Fachkompetenz ein Urteil abgeben können.

Mit Bezug auf verschiedene Kind- bzw. Familienmerkmale können anhand unserer Befunde die Ergebnisse von van Widenfelt et al. (2003, S. 286) und Koglin et al. (2007, S. 179) bestätigt werden, wonach Mädchen von beiden Beurteilergruppen als prosozialer eingeschätzt werden. Jedoch zeigt sich dieser Effekt anders als von Koglin et al. (2007) berichtet auch bei älteren Kindern. Der geschlechtsspezifische Zusammenhang zum Geschlecht der Kinder ist dabei wie angenommen bei den Einschätzungen durch die Erzieher stärker ausgeprägt. Ob dies darauf zurückgeführt werden kann, dass Mädchen sich tatsächlich prosozialer verhalten (geschlechtsbezogenes Selbstwissen), oder sich in den Einschätzungen Geschlechterstereotype, nach denen Mädchen ein prosozialeres Verhalten an den Tag legen als Jungen, widerspiegeln, kann durch unsere Analyse nicht abschließend geklärt werden. Anzunehmen ist, dass beide Erklärungsansätze zutreffend sind.

Darüber hinaus schätzen die Erzieher sprachlich begabte Kinder prosozialer ein, während die Einschätzungen der Eltern nicht mit der Sprachkompetenz der Kinder variieren. Dieser Befund stimmt mit dem bisherigen Wissen über die soziale Entwicklung bei Kindern überein und bestätigt die theoretische Annahme, dass Kinder mit Sprachdefiziten eher Schwierigkeiten haben, mit anderen Kindern und den Erziehern zu kommunizieren und sich in der Konsequenz weniger prosozial verhalten (siehe auch Horowitz et al. 2007). Die Schlussfolgerung, dass Kinder mit sprachlichen Defiziten eine geringere soziale Kompetenz besitzen und sich dies vor allem im Kindergartenkontext manifestiert, liegt somit nahe.

Dass sich die Einschätzungen der Eltern und der Erzieher mit höherer sozioökonomischer Position der Eltern annähern, mag an schichtspezifischen Maßstäben und Ansichten der bessergestellten Eltern liegen, welche denen der Erzieher ähnlicher sind. Die Einschätzungen wären damit zumindest zum Teil lediglich Ausdruck bestehender Meinungen und Ansichten. Auch für den Bildungshintergrund der Eltern zeigt sich diese Annäherung tendenziell. Die soziale Herkunft spielt aber eine eher untergeordnete Rolle bei der Erklärung von Unterschieden in den Einschätzungen, was sich bereits in den o. g. Studien von Dinnebeil et al. (2013) sowie Gagnon et al. (1992) gezeigt hat. Das Geschlecht der Kinder sowie deren Sprachkompetenz weisen wesentlich höhere Zusammenhänge mit dem Sozialverhalten auf, was insbesondere auch vor dem Hintergrund sozial ungleicher Bildungsverläufe interessant ist. Während sich soziale Disparitäten in Kompetenzbereichen wie Sprache oder mathematische Fähigkeiten bereits im Vorschulalter zeigen (vgl. Lorenz et al. 2016), scheint das prosoziale Verhalten als Teilaspekt sozialer Kompetenz davon nicht im gleichen Ausmaß betroffen zu sein.

Wie einleitend erwähnt, umfassen die von uns genutzten NEPS-Daten keine objektive Messung des Sozialverhaltens der Kinder, sondern beruhen auf Einschätzungen. Somit besteht eine wesentliche Einschränkung der vorliegenden Arbeit darin, dass wir nicht objektiv feststellen können, wie das Sozialverhalten wirklich ausgeprägt ist und ob Eltern oder Erzieher die realistischeren Einschätzungen vornehmen. Wir können nur aufgrund der theoretischen Überlegungen annehmen, dass in den Erziehereinschätzungen mehr Aussagekraft liegt als in denen der Eltern. Mit der gewählten Analysestrategie konnten wir zeigen, dass in den Elterneinschätzungen wenig bis keine Varianz aufgrund der beobachteten Merkmale vorhanden ist. Womöglich ist dies auch eine Konsequenz fehlender Messinvarianz der SDQ-Skalen.

Leider konnten aufgrund des begrenzten Ausmaßes der Studie nicht alle relevanten Faktoren integriert werden. Ahnert und Lamb (2000) weisen darauf hin, dass die Erzieher-Kind-Interaktion bei Krippenkindern von großer Bedeutung für das Wohlbefinden und die (soziale) Entwicklung des Kindes ist. Darüber hinaus kann die Betreuungsdauer (z. B. ein Krippenbesuch) ebenfalls eine wichtige Rolle bei der sozialen Integration in eine Kindergartengruppe spielen. Eine Berücksichtigung dieser Faktoren ist für kommende Forschungsarbeiten vorgesehen. Der SDQ wird in der Startkohorte 2 des NEPS im dritten Grundschuljahr erneut erhoben. Eltern und Lehrer (nicht die Erzieher) schätzen dann das Sozialverhalten derselben Kinder ein weiteres Mal ein. Daher wird es in absehbarer Zeit möglich sein, die Einschätzungen der Eltern und der Lehrer unter einem neuen, der Entwicklung der Kinder angepassten Fokus sowie im Längsschnitt zu betrachten.