1 Einleitung

Sprache ermöglicht den Austausch von Gedanken und Gefühlen und ist zentrales Mittel zur Aneignung und Weitergabe von Wissen, wodurch sie von besonderer Bedeutung für die kindliche Entwicklung ist (vgl. u. a. Schrader et al. 2008; von Suchodoletz 2013; Weinert und Ebert 2013). Störungen sprachlicher Fähigkeiten gehören zu den häufigsten Entwicklungsrisiken der Kindheit (von Suchodoletz 2003). Dieses besondere Entwicklungsrisiko wird im deutschen Bildungssystem durch die Anerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs mit dem Förderschwerpunkt Sprache berücksichtigt (z. B. Sonderpädagogische Förderverordnung Mecklenburg-Vorpommern 2009). Doch kann die sonderpädagogische Förderpraxis der deutschen Bundesländer als hinreichend betrachtet werden? Im integrativ geregelten Gemeinsamen Unterricht hat ein Kind erst dann Anspruch auf sonderpädagogische Fördermaßnahmen, wenn es bereits massive Lern- und Entwicklungsprobleme entwickelt hat (wait-to-fail-Prinzip). Eine frühe, präventiv ausgerichtete Förderung wird, nach Analysen von Huber und Grosche (2012), in der schulischen Praxis bisher nicht umgesetzt.

Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben jedoch im Bereich Schule einen gesetzlichen Anspruch auf Förderung, der ihnen ein erfolgreiches Lernen ermöglichen soll. Ziele dieser Förderung sind der Abbau der Sprachstörungssymptomatik und die Verhinderung von Sekundärsymptomen, z. B. im emotional-sozialen Bereich, und von einer sich verschlimmernden Primärsymptomatik.

In diesem Beitrag soll verglichen werden, wie sich die unterschiedlichen Settings (Unterricht mit integrierter Sprachförderung vs. Unterricht ohne integrierte Sprachförderung) auf die sprachliche Entwicklung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörung (SES) auswirken. Dazu wird der Entwicklungsverlauf von Kindern, die zum Schuleintritt eine unterdurchschnittliche sprachliche Leistungsfähigkeit zeigten, zu drei Erhebungszeitpunkten innerhalb der 1. Klasse verfolgt.

2 Grundlagen

2.1 Sprachentwicklungsstörungen

Kinder mit SES zeigen von frühen Entwicklungsstadien an Beeinträchtigungen im Spracherwerb. Dabei können die Sprachdefizite nicht durch Hörminderungen, neu-rologische Schädigungen, mundmotorische oder kognitive Beeinträchtigungen oder soziale bzw. Umweltfaktoren erklärt werden. Kennzeichnend für die Symptomatik der SES ist eine hohe Variabilität und Abhängigkeit vom Alter eines Kindes. Die Beeinträchtigungen können sich sowohl auf einzelnen als auch auf mehreren Spra-chebenen (Phonetik/Phonologie, Lexikon/Semantik, Syntax/Morphologie) manifestieren und jeweils unterschiedlich stark betroffen sein (Nation 2008; Zorowka 2008; AWMF 2011; von Suchodoletz 2013). Je nachdem, welche Sprachbereiche betroffen sind, werden in den gängigen Klassifikationssystemen verschiedene Subtypen der SES unterschieden (Conti-Ramsden und Durkin 2012). Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (10. Revision; engl. International Classifikation of Diseases and Releated Health Problems; kurz ICD-10) der WHO differenziert die umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80.) in Artikulationsstörungen (F80.0), expressive (F80.1) und rezeptive Sprachentwicklungsstörungen (F80.2) (Dilling et al. 2011). Die Artikulationsstörung (F80.0) ist durch eine fehlerhafte Aussprache des Kindes gekennzeichnet. Gerade im Vorschulalter treten Defizite auf der phonetisch-phonologischen Ebene häufig auf (Conti-Ramsden und Durkin 2012). Typische Fehler sind Auslassungen oder das Ersetzen von Lauten (AWMF 2011). Die sprachlichen Fähigkeiten in der Grammatik oder im Sprachverständnis liegen jedoch im Normbereich.

Bei expressiven Sprachentwicklungsstörungen (F80.1) ist die Sprachproduktion eines Kindes stärker beeinträchtig als sein Sprachverständnis (Conti-Ramsden und Durkin 2012). Die Sprache der Betroffenen ist durch ein eingeschränktes Vokabular, Schwierigkeiten bei der Auswahl passender Begriffe sowie durch eine kurze Äußerungslänge gekennzeichnet. Grammatikalische Fehler zeigen sich u. a. bei der Nutzung von Präpositionen, Pronomina und Artikeln, aber auch in der Beugung von Verben. Eine isolierte Beeinträchtigung der Sprachproduktion ist selten; häufiger treten Defizite in der Sprachproduktion und dem Sprachverständnis gemeinsam auf (Conti-Ramsden und Durkin 2012). Im Rahmen dieser rezeptiven Sprachstörung (F80.2) zeigen Betroffene Schwierigkeiten im Sprachverständnis, die oft von Störungen in der Sprachproduktion sowie in der Wort-Laut-Produktion begleitet werden. Die Äußerungslänge ist meist kurz und es zeigen sich Fehler in der Phonologie und in der Grammatik (Nation 2008). In der aktuellsten Ausgabe des Klassifikationssystems Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th edition; kurz DSM-5), das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird, werden expressive und gemischt expressiv-rezeptive Sprachdefizite nicht getrennt erfasst, sondern unter dem Störungsbild Language Disorder als ein gemeinsames Störungsbild mit unterschiedlichem Schweregrad verstanden (APA 2013). Sowohl expressive als auch rezeptive Fähigkeiten müssen im Rahmen der Diagnostik erfasst werden, um die jeweiligen Beeinträchtigungen abbilden zu können (APA 2013). Neben Beeinträchtigungen in der Artikulation sowie in Sprachverständnis und Sprachproduktion zeigen einige Kinder Probleme in den pragmatischen Fähigkeiten. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, das Ausmaß der Beeinträchtigung erfüllt jedoch nicht die Kriterien einer Störung des Autismusspektrums (Conti-Ramsden und Durkin 2012). Im DSM-5 werden diese Defizite in der verbalen und nonverbalen Kommunikation als Social (Pragmatic) Communication Disorder erfasst (APA 2013). Nach von Suchodoletz (2013) konnte sich bisher kein Klassifikationssystem interdisziplinär durchsetzen, was dazu führt, dass in der Praxis die Beeinträchtigungen eines Kindes oft über eine Beschreibung der Defizite auf den einzelnen Sprachebenen erfolgt. Eine wertvolle Ergänzung stellt hier die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (engl. International Classification of Functioning, Disability and Health. Children & Youth Version; kurz ICF-CY) dar. Das ICF-CY ermöglicht aufbauend auf den ICD-10 Diagnosen die Erfassung von Problemen mit Körperfunktionen und -strukturen, Einschränkungen der Aktivität und Teilhabe sowie relevanter Umweltfaktoren und ist speziell auf die Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters ausgerichtet (Hollenweger und Kraus de Camargo 2013). Zusätzlich zur ICD-10 Diagnose kann so die individuelle Problematik eines Kindes auf verschiedenen Ebenen abgebildet werden (z. B. auf mentaler, körperlicher oder sozialer Ebene). Dies ermöglicht es, SES aus einer breiteren Perspektive heraus zu erfassen und neben rein sprachlichen Defiziten auch andere, gleichzeitig auftretende Beeinträchtigungen und ihre kumulativen Effekte herauszustellen (Campbell und Skarakis-Doyle 2007; Dempsey und Skarakis-Doyle 2010).

Richtet man sich nach der Klassifikation der ICD-10, treten umschriebene SES bei 5 bis 8 % aller Kinder auf, wobei Jungen zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Mädchen (Tomblin et al. 1997; von Suchodoletz 2003). Nach von Suchodoletz (2013) gelten SES als multifaktoriell verursacht, wobei genetische Faktoren als Hauptkomponente angesehen und psychosoziale Faktoren und hirnorganische Defizite als moderierende Faktoren betrachtet werden. Dabei wird von einer komplexen genetischen Störung ausgegangen, bei der nicht ein einzelnes Gen als „Verursacher“, sondern mehrere Gene zusammenwirken (Newbury und Monaco 2010; Rosenfeld und Horn 2011; Conti-Ramsden und Durkin 2012; von Suchodoletz 2013). Im pädagogischen Kontext werden SES relevant, wenn durch die individuelle Ausprägung, den Schweregrad und durch die Dauer der Beeinträchtigung die Bildung und Erziehung beeinträchtigt oder gefährdet werden (Braun 2002).

2.2 Einfluss von Sprachentwicklungsstörungen auf die kindliche Entwicklung

SES beeinflussen sowohl die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes als auch das allgemeine Wohlbefinden und die gesundheitliche Entwicklung (vgl. Young et al. 2002; Arkkila et al. 2008; St. Clair et al. 2011).

Etwa die Hälfte der Betroffenen zeigt psychische Auffälligkeiten, die von den Eltern oft als belastender beschrieben werden, als die Sprachstörung selbst (Nation 2008; von Suchodoletz 2013). Die häufigsten Diagnosen stellen Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und emotionale Störungen dar, wobei Jungen vorwiegend als unruhig und oppositionell-aggressiv und Mädchen als sozial zurückgezogen beschrieben werden (Tomblin et al. 2000; von Suchodoletz 2003; AWMF 2011). Zudem werden sprachgestörte Kinder häufig Opfer von Mobbing (vgl. Knox und Conti-Ramsden 2003). Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen, werden oft als Folge der Kommunikationsbeeinträchtigungen des Kindes interpretiert. Von Suchodoletz (2013) führt aus, dass die Defizite in der Sprachproduktion zu wiederholten Misserfolgserlebnissen führen können, da es den Betroffenen nicht gelingt sich angemessen (hinsichtlich ihres Alters und ihrer Intelligenz) auszudrücken. Bei einer rezeptiven Sprachproblematik, so von Suchodoletz (2013), können die häufigen Missverständnisse zu einer zunehmenden Verunsicherung und Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion führen. Zudem werden rezeptive SES oft nicht erkannt, was dazu führen kann, dass das Verhalten des Kindes fehlinterpretiert wird und es als unaufmerksam oder oppositionell erlebt wird (von Suchodoletz 2003; vgl. auch Nation 2008).

Darüber hinaus stehen Defizite im Lautspracherwerb in enger Beziehung mit Schwierigkeiten in der schriftsprachlichen Entwicklung. Sprache ist von besonderer Bedeutung für das Bildungswesen und sowohl in geschriebener als auch in gesprochener Form ein zentrales Mittel der Wissensvermittlung (vgl. Schrader et al. 2008; Imai 2011). Eine gestörte Sprachentwicklung nimmt so Einfluss auf die schulische und später auch die berufliche Entwicklung (vgl. u. a. Snowling et al. 2000; Botting et al. 2006; Ricketts 2011). Umso bedeutsamer erscheint eine frühe, umfassende und effektive schulische Förderung, die neben den spezifischen Sprachstörungen auch komorbide Störungen, wie Probleme beim Erwerb der Schriftsprache und sozial-emotional Auffälligkeiten, berücksichtigt.

2.3 Schulische Sprachförderung

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beschreibt in Artikel 24 das Recht auf eine gemeinsame Beschulung aller Schüler in einer Regelschule (UN-Behindertenrechtskonvention 2012). Die Europäische Union hat die Konvention im Dezember 2010 ratifiziert. Sie wurde bis auf wenige Ausnahmen von allen europäischen Ländern unterzeichnet. Nach Angaben der European Agency for Special Needs and Inclusive Education (2013) kann innerhalb der Länder der Europäischen Union ein grundsätzliches Bestreben festgestellt werden, eine inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen umzusetzen. Dazu gehören administrative Vorgaben, welche Personengruppe mit welchem Förderbedarf oder welcher Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv beschult wird. So sollen in Dänemark bis 2015 mindestens 96 % der Schülerinnen und Schüler in Regelschulen unterrichtet werden. Auch die verstärkte Entwicklung spezieller Materialien und didaktischer Vorgehensweisen für die Beschulung von Schülern und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist zu beobachten. International orientieren sich Länder wie die USA, Australien, Neuseeland, Kanada, Norwegen oder Finnland an einem mehrstufigen, auf präventive Maßnahmen ausgerichteten, Unterrichts- und Förderkonzept, dem response-to-intervention-Ansatz (RTI), welches sich aus den Erfahrungen klinischer Forschungen (Huber und Grosche 2012) entwickelte. Auf der Grundlage des RTI-Ansatzes wurden, ausgehend vom ethischen Standpunkt, dass jedes Kind das Recht auf eine gemeinsame Beschulung und individuelle Förderung hat („No Child Left Behind“) im US-amerikanischen Bildungssystem Veränderungen impliziert, die insbesondere Kinder mit hohem Förderbedarf bzw. mit Risikokonstellationen für eine erfolgreiche Lernentwicklung unterstützen sollten.

Die Sprachförderung gehört in der BRD ebenfalls zum Bildungsauftrag der Schule. Dieser bezieht sich sowohl auf eine allgemeine sprachliche Förderung aller Schüler als auch auf die spezielle sprachliche Förderung von Kindern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Sprache. Als Grundlage der Ausgestaltung der schulischen Förderung sprachentwicklungsgestörter Kinder gelten bundesweit die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK-Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Sprache 1998). Die spezielle Förderung von Schülern mit SES wird in den deutschen Bundesländern jedoch, abhängig vom eingestellten Bildungsbudget des jeweiligen Bundeslandes, sehr unterschiedlich personell und materiell ausgestaltet. Unterschiede in der Vorgehensweise zeigen sich nicht nur zwischen den einzelnen Bundesländern, sondern teilweise auch zwischen den Schulämtern eines Bundeslandes. Daher sind verallgemeinerbare Aussagen zu den Fördermaßnahmen nicht angezeigt. Im Folgenden wird anhand der Situation in Mecklenburg-Vorpommern (M-V) beispielhaft die Vorgehensweise zur schulischen Sprachförderung erläutert, da die nachfolgend beschriebene Untersuchung in M-V unter den dort geltenden personellen, sächlichen und materiellen Bedingungen durchgeführt wurde.

Kinder mit einer SES werden in M-V auf unterschiedliche Weise beschult. Zum einen erhalten Kinder in Sprachheilklassen und in den Klassen, die inklusiv nach dem Rügener Inklusionsmodell (RIM) unterrichtet werden, von Schulbeginn an ein unterrichtsimmanentes sprachheilpädagogisches Förderangebot, das ihre sprachlichen Entwicklungsstörungen sowohl im Unterricht als auch in speziellen Förderstunden berücksichtigt. Zum anderen werden Kinder mit SES in Regelklassen eingeschult und erhalten erst eine sprachheilpädagogische Förderung, wenn ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Sprache diagnostiziert und bewilligt wurde. Nachteilig an dieser Beschulungsform ist das Fehlen einer frühen Erfassung und einer spezifischen Förderung. Es wird gemäß dem wait-to-fail-Prinzip (Huber und Grosche 2012; Hartke und Diehl 2013) erst gehandelt, wenn das Kind deutliche Entwicklungs- und Lernauffälligkeiten zeigt, die von der Grundschule nicht mehr verantwortet werden können (Sonderpädagogische Förderverordnung Mecklenburg-Vorpommern 2009; Schulgesetz Mecklenburg-Vorpommern 2010). Erst dann erfolgt ein Antrag auf Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs beim Diagnostischen Dienst des jeweiligen Staatlichen Schulamtes, der über eine Diagnostik zur Feststellung des Förderbedarfs führt. Die Zeitspannen zwischen ersten schulischen Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten bis hin zur Förderung eines Kindes sind oft sehr lang (Schöning et al. 2013). Dieses Vorgehen ist pädagogisch ungünstig, da auf die besonderen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der betroffenen Kinder nicht frühzeitig mit dem Beginn der 1. Klasse eingegangen werden kann, sondern die Förderung sehr viel später, oft erst in der 2. oder 3. Klasse, einsetzt.

Die Vorgehensweise in Sprachheilklassen und im RIM führt dagegen zu einer relativ frühen Erkennung betroffener Schüler. Im Vorfeld der Einschulung werden bereits im Vorschuljahr Kinder mit Auffälligkeiten im Bereich Sprache umfassend diagnostiziert und ggf. ein sonderpädagogischer Förderbedarf in diesem Bereich förmlich festgestellt. Die Feststellung eines solchen Förderbedarfs stellt die Voraussetzung für die Empfehlung einer Beschulung in einer Sprachheilklasse dar. Im RIM werden alle Kinder hinsichtlich ihrer sprachlichen Leistungsfähigkeit zu Schulbeginn mit einem Screening getestet. Diejenigen Kinder, deren Ergebnisse auf eine SES hindeuten, werden in Einzelsitzungen mit sprachspezifischen Verfahren genauer diagnostiziert, um so den individuellen Förderbedarf zu bestimmen (vgl. Mahlau 2012).

In Sprachheilklassen findet in der Regel ein sprachtherapeutischer Unterricht statt. Darunter versteht Braun (2005, S. 42) jede organisierte Lehr- und Lernsituation in der die curricularen Inhalte der allgemeinen Schule und gezielte sprachförderliche Maßnahmen umgesetzt werden. Weiter sind eine Förderdiagnostik und die Erarbeitung sprachlicher Fähigkeiten, die für das Erlernen curricularer Inhalte erforderlich sind, zentral.

Im RIM werden die Schüler mit Sprachentwicklungsproblemen inklusiv in einer Regelklasse beschult und von Schulbeginn an auf drei Förderebenen mit speziellen Unterrichtsmaterialien und Therapiekonzepten gefördert (vgl. Mahlau 2012). Auf den Förderebenen I und II setzt der Grundschulpädagoge im Klassen- und Kleingruppenunterricht unterrichtsimmanent Maßnahmen zur Sprachförderung um. Diese beinhalten Förderangebote, die sich auf die Lehrersprache, die Förderung metasprachlichen Wissens und das Prinzip des handlungsbegleitenden Sprechens beziehen (Reber und Schönauer-Schneider 2009). Der Sonderpädagoge berät den Grundschulpädagogen auf der Basis der erzielten diagnostischen Befunde bezüglich des Entwicklungsverlaufes im sprachlichen Bereich, aber auch in den Lernbereichen Deutsch und Mathematik, und besonderer Unterrichtsmaßnahmen, z. B. der Binnendifferenzierung (Mahlau et al. 2011a; Mahlau 2012).

Auf der Förderebene III erfolgt eine individuelle sprachtherapeutische Förderung durch einen ausgebildeten Sonderpädagogen. Es werden Therapieprogramme eingesetzt, die in der schulischen Förderpraxis umsetzbar sind und einen möglichst hohen wissenschaftlichen Evidenzgrad aufweisen. Dazu wurden im Vorfeld der Studie die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Therapieformate für die einzelnen sprachlichen Ebenen auf ihren Evidenzgrad geprüft und die Therapien mit der höchsten Evidenz ausgewählt. Es kamen auf phonetisch-phonologischer Ebene die P.O.P.T. (Fox 2009), auf syntaktisch-morphologischer Ebene die Kontextoptimierung (Motsch 2010) und auf semantisch-lexikalischer Ebene die Förderung auf Lexem- und Lemmaebene nach Reber und Schönauer-Schneider (2009) zum Einsatz. Es ist anzumerken, dass sich für die einzelnen Therapien teilweise nur geringe Evidenzen ermitteln lassen, da keine randomisierten bzw. verblindeten Studien, keine externe Evaluationen und lediglich Evaluationsstudien mit geringer Probandenzahl vorliegen. Ein wichtiger Baustein eines gelingenden Sprachförderkonzeptes ist die Evaluation der eingesetzten Fördermaßnahmen im Sinne einer Lernverlaufsdiagnostik. Ziel ist es, aussagekräftige Informationen von Kindern mit Lern- und Entwicklungsproblemen bereitzustellen und den langfristigen Entwicklungsverlauf abzubilden (u. a. Klauer 2011). So kann die Leistungsentwicklung betrachtet werden und damit der in inklusiven Settings bedeutsame Vergleich zur individuellen Bezugsnorm stattfinden. Darüber hinaus kann eingeschätzt werden, ob z. B. ein Förderansatz für ein Kind sinnvoll und effektiv ist. So ist es möglich, problematische Lernverläufe früh zu erkennen, die eingesetzte Methode kurzfristig zu verändern und größere Lernfortschritte zu erzielen. Dies ist besonders in Eingangsklassen wichtig, da sich persistierende Schulprobleme oft auf den Anfangsunterricht bzw. auf die Vorschulzeit zurückführen lassen (u. a. Helmke und Weinert 1997; Krajewski 2003).

3 Fragestellung

Die vorliegende Studie untersucht, ob durch eine frühe schulische Sprachförderung von Kindern mit SES der sprachliche Lernfortschritt verbessert werden kann. Die Ergebnisse der Kinder der Sprachfördergruppe (SFG) werden hierfür mit einer nicht geförderten Vergleichsgruppe (VG) verglichen.

4 Methode

Die Überprüfung der Fragestellung basiert auf einem Zweigruppenversuchsplan. Dazu wurden die Daten von Schulanfängern des Schuljahres 2010/11 einer Sprachfördergruppe (SFG) den Daten einer Vergleichsgruppe (VG) gegenübergestellt. Die Fördergruppe wurde aus einer Gruppe von nahezu allen Kindern der Insel Rügen, die im Schuljahr 2010/11 in eine 1. Klasse staatlicher Regelschulen eingeschult wurden, sowie aus den Sprachheilklassen der Sprachheil- bzw. Sonderpädagogischen Förderzentren Rostocks und Stralsunds (n = 465) ausgewählt. Die Zusammenfassung dieser in organisatorisch unterschiedlichen Strukturen sprachheilpädagogisch geförderter Kindergruppen zu einer Fördergruppe erlaubt es, den Datenverlust über die Messzeitpunkte gering zu halten. Zusätzliche Analysen zeigten, dass die Ausgangslage der im RIM und in Sprachheilklassen geförderten Kinder sowie deren Sprachentwicklungsverlauf keine signifikanten Unterschiede aufwiesen. Die Schüler der VG wurden aus insgesamt 385 Schulanfängern staatlicher Grundschulen der Hansestadt Stralsund bestimmt. Die Diagnostik erfolgte in zwei Stufen. In einem ersten Sprachscreening wurden innerhalb der ersten drei Schulwochen alle Schüler mit dem Marburger Sprachverständnistest (MSVK; Elben und Lohaus 2000) und dem Münsteraner Screening (MÜSC; Mannhaupt 2006) untersucht. Diejenigen Schüler, die im MSVK einen T-Wert < 40 oder im MSVK einen T-Wert < 43 und zusätzlich als Risikokind im MÜSC eingestuft wurden, wurden als „potentiell sprachentwicklungsauffällig“ eingeschätzt. Mit diesen Kindern erfolgte in einem zweiten Schritt eine differenzierte Untersuchung mit dem SET 5-10. Zur Aufnahme in die Untersuchungsgruppe mussten die Ergebnisse in mindestens zwei der Subtests des SET 5-10 einem T-Wert ≤ 43 oder in mindestens einem Subtest einem T-Wert ≤ 40 entsprechen. Zu Beginn des Projektes wurde mit allen Kindern der Intelligenztest CFT 1 (Weiß und Osterland 1997) durchgeführt und als Kriterium ein IQ > 70 festgelegt. Diesen Kriterien entsprachen 95 Kinder, welche im Rahmen des Projektes seit September 2010 in regelmäßigen Abständen hinsichtlich ihrer sprachlichen Fähigkeiten überprüft wurden. Bei 33 Kindern konnten – meist bedingt durch Krankheit zum Testzeitpunkt – nicht alle Daten vollständig erhoben werden. So nahmen 62 Kinder an bis zu drei Erhebungszeitpunkten (t1: September 2010, t2: Januar 2011 und t3: September 2011) teil. Um den Lernfortschritt im Bereich der Sprachförderung in den jeweiligen Gruppen abzubilden, wurde zu jedem Erhebungszeitpunkt die sprachlichen Untertests SET 5-10 eingesetzt. Auf die Überprüfung der auditiven Merkfähigkeit und der Verarbeitungsgeschwindigkeit wurde verzichtet. Der Untertest zur auditiven Merkfähigkeit enthielt nur Normen bis zum Alter von sechs Jahren und konnte daher bei einer großen Anzahl der Kinder bereits zum t2 nicht durchgeführt werden. Der Subtest zur Verarbeitungsgeschwindigkeit wurde nicht berücksichtigt, da er keine spezifisch linguistische Fähigkeit überprüft.

Alle Schüler nahmen freiwillig an der Studie teil. Die Erziehungsberechtigten der untersuchten Kinder wurden von der Universität Rostock in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Schulamt Greifswald über die Durchführung der Untersuchung per Informationsveranstaltung und Informationsbrief in Kenntnis gesetzt und um ihre Zustimmung zur Teilnahme gebeten. Alle Kinder wurden zu den angegebenen Erhebungszeitpunkten in Einzelsitzungen mit dem SET 5-10 untersucht. Die Sitzungen dauerten eine Unterrichtsstunde und fanden während der regulären Unterrichtszeit statt. Sie wurden von speziell geschulten StudentInnen oder SonderpädagogInnen durchgeführt.

4.1 Stichprobenbeschreibung

Für die Berechnungen wurden nur Kinder berücksichtigt, von denen zu allen Zeitpunkten vollständige Testergebnisse vorlagen. Von n = 62 Kindern lagen alle Testergebnisse vor (SFG: n = 37; VG: n = 25). In der SFG lernen 23 Kinder nach dem Prinzip der unterrichtsintegrierten Sprachförderung sowie 14 Kindern in Sprachheilklassen nach den Prinzipien des sprachtherapeutischen Unterrichts. Da sich die somit verbleibenden 62 Kinder ungleich auf die beiden Untersuchungsgruppen verteilten, wurde die Vergleichbarkeit durch das Ziehen einer Zufallsstichprobe von je n = 24 Kindern (10 Jungen, 14 Mädchen) gewährleistet. In der SFG lernen nunmehr 13 Kinder in Sprachheilklassen und 11 Kinder nach der Konzeption des RIM. Alle überprüften Kinder wiesen im CFT 1 einen IQ > 70 auf. Die Kinder der SFG waren zum ersten Zeitpunkt (t1) durchschnittlich 6,4 Jahre alt (SD = 0,49); der durchschnittliche IQ lag bei 93 (SD = 7,44; min. = 77, max. = 106). Die Kinder der VG waren durchschnittlich 6,2 Jahre alt (SD = 0,41) und wiesen einen durchschnittlichen IQ von 92 auf (SD = 12,32; min. = 79, max. = 124). Die Altersverteilung zu den jeweiligen Erhebungszeitpunkten ist Tab. 1 zu entnehmen.

Tab. 1 Durchschnittliches Alter der Kinder zu den drei Erhebungszeitpunkten

Bei den untersuchten Kindern handelt es sich um monolingual deutschsprachige Kinder. Ein Kind der VG hat ein russischsprachiges Elternteil, spricht jedoch sowohl zu Hause als auch in der Schule Deutsch. In der SFG erhielten 12 Kinder (50 %) eine logopädische Behandlung, in der VG sechs Kinder (25 %).

In der SFG erhielten die Kinder, abhängig von ihrem Störungsprofil, individuelle sprachheilpädagogische Förderangebote. Diese erfolgten ein bis drei Mal pro Woche von geschulten Sonderpädagogen (n = 8). Von den Sonderpädagogen hatten drei eine sprachheilpädagogische Ausbildung, weitere fünf Sonderpädagogen nahmen an den entsprechenden Fortbildungen zur Umsetzung des RIM in einem zeitlichen Umfang von 70 Seminarstunden teil. Bei den in Sprachheilklassen beschulten Kindern (n = 14) wurden unterschiedliche sprachtherapeutische Interventionsverfahren eingesetzt. Die drei involvierten Sprachheilpädagogen gaben in einem Fragebogen zur Erhebung der eingesetzten schulischen Sprachfördermaßnahmen keine explizit sprachtherapeutischen Verfahren an, sondern verwendeten allgemeinere Begrifflichkeiten, so u. a. myofunktionelle Übungen, Lautanbahnung, Wortschatzerweiterung und Förderung der Grammatik. Es kann davon ausgegangen werden, dass in den Sprachheilklassen das zum Einsatz kommt, was Theisel und Glück (2012) unter „sprachheilpädagogischer Expertise“ verstehen: Die Schaffung und Gestaltung eines kommunikativen Milieus, die Sicherung des Sprachverständnisses, ein gezielter Einsatz der Lehrersprache (Modellierungstechniken), Anpassung der Materialien an die Lernvoraussetzungen der Schüler und gezielte Planung und Umsetzung sprachtherapeutischer Angebote mit individuellem Fördercharakter (z. B. Lautanbildung, Anbahnung grammatischer Strukturen).

Die 23 Kinder im RIM lernen an fünf Schulen in neun Klassen. Sie wurden von additiv zum Regelunterricht eingesetzten Sonderpädagogen (n = 5), die eine Fortbildungsreihe zum Einsatz (möglichst) evidenzbasierter Therapien erhielten, mit den entsprechenden sprachheilpädagogischen Therapiemaßnahmen in ein bis zwei zusätzlichen Stunden gefördert. Im Klassenunterricht sowie in maximal drei curricular ausgerichteten Förderstunden werden von den Klassenlehrern ebenfalls sprachförderliche Unterrichtsinhalte und -methoden (u. a. phonematische Differenzierungsübungen bei der Graphemeinführung, Lautzeichen zur Visualisierung der Phoneme, Metasprache, Modellierungstechniken der Lehrersprache, handlungsbegleitendes Sprechen) berücksichtigt. Die KlassenlehrerInnen sind GrundschulpädagogInnen, die in einer entsprechenden Fortbildungsreihe weitergebildet wurden (Mahlau et al. 2011b; Mahlau et al. 2012). Am Ende des ersten Schuljahres wurde zur Treatmentkontrolle eine anonymisierte Lehrerbefragung durchgeführt. Die Teilnahme war vollständig (100 %). Die Antworten zeigen, dass im RIM sowohl im Regel- als auch im Förderunterricht sprachheilpädagogische Fördermaßnahmen umgesetzt wurden. Dabei wurde deutlich, dass eine stringente Umsetzung der evidenzbasierten Verfahren den SonderpädagogInnen nicht leicht fiel. Die Anteile der mit evidenzbasieren Verfahren geförderten Bereiche wurden folgendermaßen von den SonderpädagogInnen mit „sehr häufig“ bzw. „häufig“ angegeben: phonetisch-phonologische Ebene 26 %, semantisch-lexikalische Ebene 52,2 % und syntaktisch-morphologische Ebene 56,5 %.

In den Angaben der KlassenlehrerInnen überwiegen in jedem Item die Angaben einer sehr häufigen bis häufigen Umsetzung gezielter sprachförderlicher Maßnahmen. Darüber hinaus befinden sich die GrundschulpädagogInnen in ständigem Austausch mit den SonderpädagogInnen über die Förderziele der sprachentwicklungsauffälligen Kinder. Zum Ende der 1. Klasse war bei keinem Kind die Sprachförderung abgeschlossen.

In den Regelklassen in Stralsund (VG) erfolgte im Untersuchungszeitraum (1. Klasse) keine schulische unterrichtsintegrierte oder spezifische Sprachförderung. Somit unterscheiden sich die beiden Untersuchungsgruppen hinsichtlich der mit ihnen durchgeführten schulischen Sprachfördermaßnahmen innerhalb des ersten Schuljahres. Während in der SFG bereits mit Beginn der 1. Klasse sprachheilspezifische Interventionen eingeleitet wurden, erfolgten diese in der VG nicht.

4.2 Erhebungsinstrument

Der SET 5-10 (Petermann 2010) ist ein allgemeiner Sprachtest für Kinder zwischen 5;0 und 10;11 Jahren. Es liegen zehn, teils altersspezifische, Untertests vor, die eine Beurteilung der sprachlichen Fähigkeiten in den Bereichen Wortschatz, semantische Relationen, Sprachverständnis, Sprachproduktion, Grammatik und Morphologie ermöglichen. Ferner werden die Verarbeitungsgeschwindigkeit und die auditive Merkfähigkeit erfasst (vgl. Tab. 2). Die Überprüfung erfolgt im Einzelsetting und dauert etwa 45 Min.

Tab. 2 Aufbau des SET 5-10

5 Analyse

Die Überprüfung der Effekte im Langzeitverlauf (t1, t2 und t3) erfolgte mittels multivariater Varianzanalysen mit Messwiederholung nach dem Allgemeinen Linearen Modell (GLM) mit den Faktoren Zeit und Gruppe. Varianzhomogenität war gegeben (Levene-Test). Die Sphärizität der Kovarianzstruktur über die Messwiederholung wurde mit dem Mauchly-Test geprüft. Bei einer Verletzung dieser Annahme wurde die Greenhouse-Geisser-Korrektur der Freiheitsgrade angewendet (vgl. Tab. 3). Die Einzelvergleiche zwischen den Faktorstufen wurden nach Bonferroni gegen eine Inflation des alpha-Fehlers abgesichert; das Gesamtsignifikanzniveau wurde auf p = 0,05 festgelegt. Berichtet wird zudem die Effektstärke η². Alle Analysen wurden mit IBM-SPSS (V.20) durchgeführt.

Tab. 3 Ergebnisse der Varianzanalyse mit Messwiederholung (Rohwerte)

Die Untertests 5 Fragen zum Text und 9 Erkennen/Korrektur inkorrekter Sätze enthalten altersspezifische Aufgabenstellungen für Fünf- bis Sechsjährige und Sieben- bis Zehnjährige. Da die Mehrheit der Kinder zum ersten Erhebungszeitpunkt sechs Jahre alt war, konnten diese Untertests aufgrund des Wechsels in der Aufgabenstellung in den Berechnungen nicht berücksichtigt werden. Dies hätte durch die unterschiedliche Itemanzahl bzw. die veränderte Aufgabenstellung zu einer Verzerrung der Ergebnisse geführt. Da sich die beiden Gruppen zum ersten Messzeitpunkt im Untertest 6 Bildergeschichte signifikant unterschieden, wurde dieser Untertest in der weiteren Analyse nicht berücksichtigt. In den anderen Untertest lagen keine signifikanten Unterschiede vor.

6 Ergebnisse

Beim Vergleich der beiden Gruppen zeigt sich auf multivariater Ebene ein signifikanter Haupteffekt für den Faktor Zeit (F = 24.302, df = 10, p < 0,001, η² = 0,868). Ein Effekt für den Faktor Gruppe (F = 0.689, df = 5, p = 0,635, η² = 0,076) oder ein Interaktionseffekt zwischen den Faktoren Gruppe und Zeit (F = 1.781, df = 10, p = 0,099, η² = 0,325) konnte nicht beobachtet werden. Eine Übersicht über die Ergebnisse gibt Tab. 3.

Univariat ergibt sich für die Untertests des SET 5-10 in beiden Gruppen ein Leistungsanstieg über die Zeit. Von t1 zu t2 zeigt sich in beiden Gruppen für die Untertests Bildbenennung und Satzbildung ein signifikanter Leistungsanstieg. Auch von t2 zu t3 kann für die SFG ein signifikanter Leistungsanstieg über die verschiedenen Untertests hinweg beobachtet werden. Lediglich im Untertests Satzbildung fällt der Leistungsanstieg in der SFG nicht signifikant aus. In der VG zeigt sich von t2 zu t3 über die verschiedenen Untertests hinweg kein signifikanter Leistungsanstieg. Der Vergleich von t1 zu t3 verdeutlicht für beide Gruppen einen signifikanten Leistungsanstieg für alle Untertests.

Im Untertest Bildbenennung kann zusätzlich zum Effekt des Zeitfaktors (F = 35.059, df = 2, p < 0,001, η² = 0,433) ein Interaktionseffekt zwischen den Faktoren Zeit und Gruppe (F = 3.565, df = 2, p = 0,032, η² = 0,072) festgestellt werden. Während sich in diesem Untertest in der Vergleichsgruppe über die drei Erhebungszeitpunkte hinweg nur ein moderater Anstieg der durchschnittlich erzielten Ergebnisse abbilden lässt, kann sich die SFG deutlicher verbessern.

Eine ergänzende Analyse der Langzeiteffekte auf der Basis der T-Werte verdeutlicht ebenfalls einen Leistungsanstieg in den verschiedenen Untertests über die Zeit hinweg (vgl. Tab. 4). Wie auch auf Rohwertbasis zeigt sich auf multivariater Ebene ein signifikanter Haupteffekt über die Zeit (F = 5.992, df = 10, p < 0,001, η² = 0,618). Ein Effekt für den Faktor Gruppe (F = 0.646, df = 5, p = 0,666, η² = 0,071) oder ein Interaktionseffekt zwischen den Faktoren Gruppe und Zeit (F = 2.006 df = 10, p = 0,061 η² = 0,352) konnte nicht beobachtet werden.

Tab. 4 Ergebnisse der Varianzanalyse mit Messwiederholung (T-Werte)

Univariat zeigt sich auf T-Wertebene im Untertest Bildbenennung erneut neben dem Effekt des Zeitfaktors (F = 9.554, df = 2, p < 0,001, η² = 0,172) ein Interaktionseffekt zwischen den Faktoren Zeit und Gruppe (F = 5.053, df = 2, p = 0,008, η² = 0,099).

7 Diskussion und Ausblick

Ziel der vorliegenden Studie war es, den Lernfortschritt auf verschiedenen sprachlichen Ebenen bei Kindern mit SES zu untersuchen. Eine Gruppe wurde unterrichtsimmanent und in spezifischen Sprachheilklassen gefördert (SFG), die andere Gruppe (VG) erhielt keine spezifische schulische Sprachförderung.

Der Vergleich der Ergebnisse zeigt sowohl auf Rohwertbasis als auch auf Basis der T-Werte einen signifikanten Haupteffekt des Faktors Zeit. Beide Gruppen zeigen einen Leistungsanstieg in den Untertests des SET 5-10. Ein Effekt für die Interaktion der Faktoren Zeit und Gruppe lässt sich jedoch auf Rohwertbasis nur für den Untertest Bildbenennung abbilden. Die Kinder der SFG zeigen über die drei Erhebungszeitpunkte einen deutlicheren Wortschatzzuwachs als die Kinder der VG. In den anderen Untertests tritt kein signifikanter Interaktionseffekt auf. Beide Gruppen scheinen sich demnach auf den ersten Blick in den anderen Sprachbereichen gleich stark zu entwickeln, unabhängig davon, ob sie an einer integrierten schulischen Sprachförderung oder lediglich am Regelunterricht teilnahmen. Bei der Betrachtung der erzielten Rohwerte zu den einzelnen Zeitpunkten zeigt sich, dass (bis auf im Untertest Kategorienbildung) die Kinder der SFG im Vergleich zur VG zum ersten Erhebungszeitpunkt in allen Untertests geringere Ergebnisse erzielen. Zum zweiten Erhebungszeitpunkt können die Kinder der SFG den Rückstand zur VG schon verringern und zum dritten Erhebungszeitpunkt zu ihnen aufschließen oder sogar bessere Ergebnisse erzielen. Die positiven Ergebnisse auf Rohwertebene deuten somit einen stärken Leistungszuwachs für die Kinder der SFG an, der auf multivariater Ebene jedoch nicht signifikant wird. Bei der Betrachtung der Ergebnisse auf der Basis der T-Werte muss beachtet werden, dass die überprüften Kinder sehr unterschiedliche Ausprägungsformen der SES zeigten. Auf den ersten Blick scheinen die Kinder über durchschnittliche sprachliche Fähigkeiten zu verfügen. Dies ist jedoch nicht der Fall, sondern der Heterogenität des Störungsbildes geschuldet; was u. a. durch die hohen Standardabweichungen deutlich wird. So kann ein Kind mit einer SES erhebliche Wortschatzdefizite aufweisen, ein anderes jedoch über einen gut ausgeprägten Wortschatz verfügen. Die Heterogenität des Störungsbildes ist bekannt und stellt den Diagnostiker vor besondere Herausforderungen (vgl. Zorowka 2008; Dempsey und Skarakis-Doyle 2010; AWMF 2011; Conti-Ramsden und Durkin 2012; von Suchodoletz 2013).

Trotz der sprachlichen Fördermaßnahmen in der SFG zeigen sich keine Hinweise darauf, dass die so geförderten Kinder stärker profitieren als die VG.

So muss diskutiert werden, ob für den positiven Sprachentwicklungsfortschritt in der VG möglicherweise bereits der Kontext Schule sprachförderlich wirkt. Der Beginn des Schriftspracherwerbs ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Gelegenheiten, die sprachlernunterstützend wirken. So werden explizit phonologische Merkmale erarbeitet und an der bewussten Reflexion über phonologische Besonderheiten gearbeitet. Dies führt zu einer Ausdifferenzierung der phonologischen Bewusstheit, die als zentraler Bestandteil phonologischer Therapieformate (Howell und Dean 1994; Jahn 2000; Fox 2009) anerkannt ist. Auch die Erarbeitung semantischer Felder im Sachkundeunterricht, welche zu einer Erweiterung und Vernetzung des Wortschatzes führt, hat eine sprachförderliche Wirkung. Es werden Begrifflichkeiten neu erlernt (Erweiterung des Wortschatzkorpus), aber auch bekannte Wörter zueinander in Beziehung gesetzt (Erlernen von Ober- und Unterbegriffen, Antonymen) (Reber und Schönauer-Schneider 2009). Zudem verwenden die Grundschullehrer und -lehrerInnen in der Schuleingangsphase verstärkt visuelle Unterstützungsmaßnahmen (ikonische Elemente), um die Erfassung der Aufgabenstellung bei allen, in der Regel noch nicht alphabetisierten, Kindern, zu ermöglichen. Dies unterstützt elementar das Aufgaben- und somit das Sprachverständnis. Es kann folglich davon ausgegangen werden, dass v. a. die Schuleingangsphase umfassend sprachförderlich wirkt und dies eine Erklärung für den Leistungsanstieg bei Kindern mit SES ohne explizite schulische Sprachfördermaßnahmen sein könnte. Ein Grund für den gleichermaßen guten, aber nicht überlegenen, Anstieg des sprachlichen Lernverlaufs der SFG ließe sich ebenfalls in dieser unterrichtlichen Situation finden. So könnten die speziellen Fördereinheiten und unterrichtsimmanenten Maßnahmen inhaltlich auf die Erfordernisse des Curriculums fokussiert worden sein, mit dem Ziel, den Kindern mit SES ein erfolgreiches Lernen im Unterricht zu ermöglichen. Nicht unterrichtsbezogene, explizit individuell-therapeutisch wirkende Elemente, z. B. eine Lautanbahnung, wurden dagegen weniger berücksichtigt. Hinweise auf die Richtigkeit dieser Vermutung geben Fragebögen, die zur Kontrolle der umgesetzten Maßnahmen von den SonderpädagogInnen ausgefüllt wurden. So kann in den ein bis drei zusätzlichen Förderstunden zwar intensiver gearbeitet werden, tendenziell ersichtlich an den etwas größeren Anstiegen der Leistungskurven in der SFG, aber inhaltlich wurde verstärkt auf curriculare Erfordernisse fokussiert.

Bei der Interpretation der Ergebnisse muss sowohl ein erwarteter, altersbedingter Leistungsanstieg als auch die Spezifität von Kindergruppen mit SES berücksichtigt werden. So könnten weitere Entwicklungsbereiche einen wesentlichen Einfluss auf die Sprachentwicklung haben. Besonders die kognitive Entwicklung spielt für die Sprachentwicklung eine erhebliche Rolle. In der Fachwissenschaft besteht weitgehend Konsens darüber, dass zwischen Kognition und Sprache eine differenzierte Abhängigkeit besteht, die zu verschiedenen Zeitpunkten wirksam ist (Weinert 2000). Das Abhängigkeitsverhältnis könnte darin bestehen, dass die Entwicklung des einen Bereiches der des anderen vorausgeht, zu einem anderen Zeitpunkt könnten sie sich gegenseitig beeinflussen. Angenommen wird auch, dass beiden Bereichen gemeinsame Prinzipien zugrunde liegen, wie z. B. Vorausläuferfähigkeiten in der Wahrnehmung (Grimm 2003). Die intellektuellen Voraussetzungen der untersuchten Kinder liegen mit einem IQ = 93 in der SVG und mit einem IQ = 92 in der VG im Normbereich, aber unter dem mittleren Durchschnittswert von IQ = 100. Auch die auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsfähigkeit könnte einen spezifischen Einfluss auf die Sprachentwicklung haben (Merzenich et al. 1996). Verschiedene Studien zeigen, dass bei Kindern mit SES eine auditive Wahrnehmungsschwäche gehäuft vorliegt, die nicht durch periphere Hörstörungen verursacht ist. So beschrieben Tallal und Kollegen (1996) einen Zusammenhang zwischen gestörtem Spracherwerb und eingeschränkter seriell-auditiver Verarbeitung, da bei der Wahrnehmung von Sprache eine ausreichende zeitliche Auflösung die zentrale Grundlage ist. Es ist davon auszugehen, dass bei Kindern mit SES Defizite der Verarbeitung zeitlicher Informationen die Spracherwerbsstörung zumindest mit bedingen. In der vorliegenden Untersuchung konnte die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung leider nicht erhoben werden. Trotzdem ist es möglich, dass die kognitiven Fähigkeiten und möglicherweise vorliegende Einschränkungen im zentralauditiven Bereich den Sprachentwicklungsverlauf stärker beeinflussen als die in Sprachheilklassen und im RIM umgesetzten sprachheilpädagogischen Maßnahmen.

Weiterhin ist zu diskutieren, ob das in der Studie festgelegte Kriterium, Probanden mit Sprachentwicklungsleistungen, die in den Subtests des SET 5-10 (Petermann 2010) einem T < 43 bzw. T < 40 entsprechen, evtl. zu großzügig gewählt wurde. Dieses Kriterium hat zur Folge, dass die Untersuchungsgruppen Kinder mit sehr unterschiedlichen Symptomen und Schweregraden ihrer SES beinhalten. So ist es möglich, dass Kinder mit einer spezifischen Störungssymptomatik (z. B. Einschränkungen des Wortschatzes) und einem geringeren Ausprägungsgrad stärker von der schulischen Sprachförderung profitieren als Kinder, deren Auffälligkeiten in anderen Bereichen (Grammatik) liegen und einen erheblicheren Grad der Symptomatik aufweisen. Das vorliegende Kriterium wurde deshalb großzügig gewählt, um möglichst vielen Kindern mit unterdurchschnittlichen Sprachentwicklungsleistungen die entsprechende sprachheilpädagogische und schulische Unterstützung zukommen zu lassen. Damit soll verhindert werden, dass sich die Sprachstörungssymptomatik verstärkt bzw. dass sich Sekundärsymptome (z. B. Verhaltensauffälligkeiten) entwickeln.

Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich der Leistungsanstieg der beiden Gruppen im Vergleich zu Kindern mit altersgemäßer Sprachentwicklung verhält. So wäre in Zukunft der Einbezug einer dritten Gruppe mit sprachunauffälligen Kindern sinnvoll. Die Ergebnisse der Studie müssen zudem vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass in beiden Gruppen ein Teil der Kinder, zeitweise oder über die Dauer der gesamten Studie hinweg, in logopädischer Behandlung war. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Ergebnisse der Studie durch diese zusätzliche Therapie beeinflusst werden. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass drei Untertests (Untertest 5 Fragen zum Text, Untertest 6 Bildergeschichte und Untertest 9 Erkennen/Korrektur inkorrekter Sätze) aus der vorliegenden Studie aufgrund der altersspezifischen Aufgaben für Fünf- bis Sechsjährige sowie Sieben- bis Zehnjährige bzw. der signifikanten Unterscheidung der beiden untersuchten Gruppen zum ersten Messzeitpunkt ausgeschlossen wurden. Darüber, ob ein förderungsbedingter Lernfortschritt in diesen Untertests abgebildet werden kann, kann somit noch keine Aussage getroffen werden. Weiter beziehen sich die vorliegenden Analysen lediglich auf Schulanfänger. Zukünftige Studien müssen folgen, um die Lernfortschrittsdokumentation für andere Altersgruppen zu überprüfen und anhand größerer Stichproben zu untersuchen.

Aus praktischer Sicht erscheint die Verzahnung der Frühförderung sowie weiterer therapeutischer Dienste (Logopädie) und der Schule bedeutsam, um bei bereits vor Schuleintritt bekannten SES diagnostische oder therapeutische Maßnahmen planen zu können.

Um eine zunehmende Verbesserung der sprachlichen Förderung auch in Klassen mit unterrichtsintegrierter Sprachförderung zu erreichen, sollte ein verstärkter Einsatz evidenzbasierter Materialien und Lernverlaufsdokumentationen erfolgen.