Sprachkompetenz besitzt in unserer Kommunikationsgesellschaft eine hohe soziale Bedeutung. Auf der anderen Seite nimmt die Häufigkeit von Sprachentwicklungsstörungen offenbar zu. Früherkennung und Frühförderung sind für die Prognose von hoher Relevanz, um zu verhindern, dass aus einer zunächst einfachen Entwicklungsbeeinträchtigung eine weiterreichende Entwicklungsbehinderung wird.

Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen, das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Sie ist phylogenetisch und ontogenetisch eine seiner jüngsten und differenziertesten Leistungen. Der Erwerb der Sprachkompetenz ist ein komplexer Prozess, der vom Zusammenwirken zahlreicher Faktoren abhängt:

  • der genetischen Ausstattung,

  • der Reifung des Zentralnervensystems (ZNS),

  • der Intaktheit der Sinnesorgane,

  • der Ausbildung kognitiver Verarbeitungsstrukturen,

  • der kommunikativen Anregung durch die Umwelt u. a.

Ausfälle oder funktionelle Beschränkungen dieser Faktoren haben eine Auswirkung auf den Spracherwerb und führen zu klinisch manifesten Sprachentwicklungsstörungen (SES). Bereits die sensible Phase der Sprachentwicklung zwischen 9 Monaten und 4 Jahren, die eine hohe Variabilität aufweist, hat hierin große Bedeutung und ist für Störungen des Spracherwerbs anfällig.

Terminologie

In Anlehnung an die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) können Sprachentwicklungsstörungen als Zustandsbilder charakterisiert werden,

„bei denen die normalen Muster des Spracherwerbs von frühen Entwicklungsstadien an beeinträchtigt sind.“ (ICD-10; F80.-).

Sprachentwicklungsstörungen sind zeitliche und/oder inhaltliche Abweichungen vom normalen Spracherwerb. Die physiologische Sprachentwicklung verläuft jedoch nicht starr in Stadien, sondern fließend.

Somit kann erst von einer SES gesprochen werden, wenn die Eckdaten der normalen Sprachentwicklung nicht erreicht werden.

Eine Sprachentwicklungsstörung ist zumeist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Symptom verschiedener Grunderkrankungen, deren Erscheinungsformen und Entstehungsmechanismen vielfältig sind.

Der Terminus wird im klinischen Umfeld nicht einheitlich aufgefasst; im weiten Sinn werden darunter auch jene Auffälligkeiten subsumiert, die – bei enger Definition – eigentlich davon abgrenzbar sind:

  • die reinen Sprachentwicklungsverzögerungen, bei denen die Muster des Spracherwerbs nicht gestört, sondern nur zeitlich verschoben sind;

  • die Sprechablaufstörungen, bei welchen bei altersgemäßer Sprachkompetenz die Fähigkeit zum fluenten Artikulieren beeinträchtigt ist (Stottern, Poltern);

  • die Artikulationsstörungen (Dysglossien, Dysarthrien), bei welchen die korrekte Lautbildung aufgrund abnormer anatomischer, dentaler oder neurologischer Gegebenheiten behindert ist;

  • die Aphasien, bei welchen Teile der Sprachkompetenz aufgrund neurologischer Ausfälle verloren gehen (z. B. nach Insult, Trauma, Meningoenzephalitis, usw.).

Die Einteilung der SES ist nicht einheitlich. Je nach theoretischem Hintergrund erfolgt sie unter verschiedenen Gesichtspunkten (medizinisch, linguistisch/patholinguistisch, logopädisch, sprachheilpädagogisch, entwicklungspsychologisch). Die medizinische Klassifikation orientiert sich an der Ätiologie, andere Modelle sind vorwiegend auf die Manifestationsebene der Symptome ausgerichtet.

Isolierte Sprachentwicklungsstörungen gehören zu den primären Sprachentwicklungsstörungen

SES können isoliert oder kombiniert auftreten. Im ersteren Fall ist ausschließlich die Sprache betroffen; man bezeichnet diese Formen als „umschriebene“ bzw. „spezifische SES“ (SSES). Im 2. Fall liegen neben den sprachlichen Defiziten zusätzliche Auffälligkeiten vor, beispielsweise:

  • Störungen des Sozialverhaltens,

  • syndromale Fehlbildungen,

  • Teilleistungsstörungen,

  • zentralnervöse Erkrankungen oder

  • Sinnesdefekte.

Die Koinzidenz dieser Auffälligkeiten mit der SES muss nicht unbedingt ursächlich dafür sein, steht aber meist mit ihr im Zusammenhang.

SES werden weiterhin in primäre und sekundäre SES unterteilt. Zu den primären Sprachentwicklungsstörungen werden die SSES gezählt. Sekundäre Sprachentwicklungsstörungen treten entweder im Rahmen einer Komorbidität auf (z. B. Down-Syndrom) oder als Folge einer vorausliegenden Ursache (z. B. Hörstörung; s. „Ätiologie“).

Manifestationsebenen der Sprachentwicklungsstörung

Die Symptome einer SES manifestieren sich naturgemäß in Abhängigkeit vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes. In den frühen Entwicklungsstadien (bis zum 3. Lebensjahr) fallen der verzögerte Sprechbeginn und der verlangsamte Wortschatzerwerb auf [10]. In den späteren Stadien zeigen die Kinder mehr oder weniger auffällige Abweichungen vom alterstypischen Muster der Sprachbeherrschung. Diese betreffen sowohl die rezeptive als auch die produktive Kompetenz (Sprachverständnis und Sprachproduktion) und können auf mehreren linguistischen Ebenen vorkommen. Folgende Ebenen sind relevant:

Phonetisch-phonologische Ebene

Fähigkeit, bestimmte Laute bzw. Lautsequenzen zu erkennen und zu diskriminieren, und, darauf aufbauend, die Fähigkeit, diese Laute und Lautstrukturen korrekt zu produzieren

Morphologisch-syntaktische Ebene

Beherrschung der Morphologie von Worten (z. B. Plural, Flexion oder Konjugation) und Syntax der Sprache (Wortfolge, Satzstruktur)

Semantisch-lexikalische Ebene

Verfügbarkeit und Verständnis von Wörtern bzw. Ausdrücken und deren Bedeutung (aktiver und passiver Wortschatz)

Pragmatisch-kommunikative Ebene

Situationsgerechte Verwendung der Sprache bzw. Reaktion auf Sprache im Rahmen der alltäglichen Kommunikation

Ätiologie

Primäre SES – spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES)

Bei den primären SES liegt keine organische, mentale oder emotionale Störung als Ursache vor. Eine genetische Veranlagung wird als wesentlicher zugrunde liegende Faktor vermutet. Zum Beispiel finden sich in etwa 40% der Familien mit einem sprachgestörten Kind weitere Fälle von SES in der näheren Verwandtschaft [23]. In Zwillingsstudien wurden Sprachauffälligkeiten bei eineiigen Zwillingen doppelt so häufig wie bei zweieiigen [23] gefunden.

Die Erforschung der genetischen Grundlagen von SES steht allerdings erst am Anfang.

In den späten 1990er Jahren konnte eine Mutation im FOXP2-Gen als ursächlicher Faktor einer familiären Sprachstörung identifiziert werden [7]. Dieses Gen, das auf Chromosom 7 liegt und autosomal-dominant vererbt wird, wird v. a. im Kleinhirn, im Thalamus und in den Basalganglien exprimiert – also in motorisch relevanten Strukturen. Seine genaue Rolle für die Ausprägung der Sprachstörung ist noch nicht im Detail geklärt. Phänotypisch wiesen die von der Mutation betroffenen Familienmitglieder unspezifische Probleme mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache auf; ebenso mit der Artikulation komplexer Laute und der Feinmotorik der unteren Gesichtshälfte (myofaziale Dysfunktion).

Weitere Gene, die einen nachweislichen Einfluss auf die Sprachentwicklung nehmen, sind bisher nicht bekannt.

Sekundäre SES und ihre Ursachen bzw. Komorbiditäten

Sekundäre SES treten entweder im Zusammenhang mit anderen Störungsbildern auf (z. B. mit Autismus Typ Kanner, Down-Syndrom, Epilepsie, allgemeiner Entwicklungsretardierung) oder lassen sich auf Störungen bzw. Defizite zurückführen, die ihnen ursächlich zugrunde liegen (z. B. Hörstörungen, Sprachdeprivation, Intelligenzminderung) oder sie kommen als symptomatische Sprachentwicklungsstörungen bei vorübergehenden behandelbaren Krankheiten vor (z. B. Schallleitungsstörungen bei Hypertrophie der Tonsillen/Adenoide).

Unter den ursächlichen Faktoren von SES sind die Umwelteinflüsse ein wesentlicher Bestandteil.

Ausreichende sprachliche Anregung durch kompetente Sprecher ist ebenso wichtig wie die Erfordernis, selbst zu sprechen. Die Gefahr ungenügender Sprachanregung (Deprivation) besteht für Kinder von hör- oder sprachgestörten Eltern, ebenso im Fall von langen Heim- oder Krankenhausaufenthalten (Hospitalismus) oder bei schwierigen Familienverhältnissen. Kinder, die den Großteil ihrer Zeit vor dem Fernsehgerät oder vor Computerspielen verbringen, sind in ihrer Sprachproduktion häufig zu wenig gefordert [27].

Auch eine Überforderung kann zu sprachlichen Defiziten führen

Umgekehrt kann auch eine Überforderung zu sprachlichen Defiziten führen, z. B. bei nicht kindgerechter Kommunikation oder bei bilingualer Umgebung. Bilingualität ist zwar kein Risikofaktor für eine SES – normalbegabte Kinder können bei kompetenter Anregung 2 Sprachen simultan erlernen, doch kann die Anforderung, 2 Sprachen nebeneinander lernen zu müssen, die Kinder vor Probleme stellen, wenn zwischen den Sprachen nicht klar unterschieden wird oder wenn die Sprachvorbilder – meist die Eltern – in beiden Sprachen nicht kompetent sind (z. B. in Migrantenfamilien, wo die Eltern die eigene Muttersprache in Form eines Dialekts und die Zweitsprache nur bruchstückhaft beherrschen). In ungünstigen Fällen erlernt das bilingual aufwachsende Kind beide Sprachen nur unvollständig („doppelte Halbsprachigkeit“).

Bilaterale Hörstörungen im Frequenzbereich zwischen 500 und 4000 Hz führen bereits in geringgradiger Ausprägung (bis 40 dB des besseren Ohres) zu Lautbildungsstörungen; mittelgradige bilaterale Hörstörungen (40–60 dB) verursachen ausgeprägte (audiogene) Dyslalien.

Ab 60–70 dB Hörverlust ist ohne hörprothetische Versorgung keine Lautsprachentwicklung zu erwarten.

Eine einseitige Schwerhörigkeit hat prinzipiell keine relevante Auswirkung auf die Sprachentwicklung. Schallleitungsstörungen, die häufig im Kindesalter schon aufgrund der besonderen anatomischen Verhältnisse der Tuba auditiva auftreten, können auch bei temporärem Verlauf, wenn sie längere Zeit unerkannt bzw. unbehandelt bleiben, die Sprachentwicklung des Kindes verzögern.

Auch andere Sinnesdefekte wie Blindheit [5] oder taktil-kinästhetische Wahrnehmungsstörungen [15] können die Sprachentwicklung beeinträchtigen. Bei hochgradig sehbehinderten bzw. blinden Kindern nimmt diese einen verlangsamten Verlauf. Etwa die Hälfte dieser Kinder weist bei Schulbeginn Auffälligkeiten, hauptsächlich Sprachentwicklungsrückstände, auf. Ein Grund hierfür ist die unterstützende Rolle des visuellen Systems für die akustisch-verbale Kommunikation (Lippenbild, Mimik, Deutegesten, usw.). Bei taktil-kinästhetischen Störungen wird u. a. eine undeutliche Empfindung der Bewegungen im orofazialen Bereich (Lippen, Wangen, Zunge, Zähne, Gaumen) für eine beeinträchtigte Sprechmotorik verantwortlich gemacht. Eine ungenügend ausgebildete Händigkeit (Lateralität) bzw. Defizite der Feinmotorik sollen ebenfalls mit SES verbunden sein, wobei die Frage nach den ursächlichen Verhältnissen nicht endgültig beantwortet ist [16].

SES sind oft mit Syndromen vergesellschaftet, z. B.:

  • Down-Syndrom,

  • Williams-Beuren-Syndrom,

  • Prader-Willi-Syndrom,

  • Landau-Kleffner-Syndrom,

  • fragiles X-Syndrom,

  • Rett-Syndrom.

Verläufe von verzögertem, unvollständigem oder rückläufigem Spracherwerb sind hierbei störungsspezifisch. In diesen Fällen ist von einer tief greifenden Affektion neurologischer und sensorischer Strukturen auszugehen, sodass die kognitiven Voraussetzungen für einen regulären Erwerb der altersgemäßen Sprachkompetenz nicht mehr gegeben sind.

Prävalenz

SES zählen zu den häufigsten kindlichen Entwicklungsstörungen; die Häufigkeitsangaben in der Literatur sind jedoch uneinheitlich. Die Ergebnisse sind v. a. abhängig von:

  • der zulässigen Variationsbreite der Sprachentwicklung,

  • der Methodik (z. B. Elternbefragungen vs. Testung von Kindern),

  • der Stichprobe und

  • der Referenzpopulation (3-Jährige, Vorschul-, Schulkinder).

Die Prävalenzraten reichen von 3–25% [1, 11, 13, 20, 25] und werden nach neueren Untersuchungen mit zwischen 6% und 12% angegeben [6, 11, 20, 21]. Einen interessanten Aufschluss zur Häufigkeit von SES gibt die Analyse von Krankenkassendaten [4]: Demnach haben im Jahr 2006 in Deutschland 21% der 6-jährigen Knaben und 14% der 6-jährigen Mädchen eine Sprachtherapie erhalten, das Verhältnis Knaben zu Mädchen betrug 3:2. Diese Prozentzahlen steigen seit Jahren stetig. Ob sich damit eine Zunahme der SES in unserer Gesellschaft belegen lässt oder nur eine erhöhte Sensibilität für sprachliche Auffälligkeiten, lässt sich nicht definitiv festlegen.

Neben möglichen medizinischen Ursachen werden auch soziokulturelle Faktoren, wie geringer Sozialstatus oder Zugehörigkeit zu einer sprachlichen Minderheit, als Risikofaktoren einer SES diskutiert [17, 21].

Formen der SES

Sprachentwicklungsverzögerung

Sie ist keine „Störung“ der Sprachentwicklung mit Abweichungen vom regulären Muster des Spracherwerbs; sondern nur eine zeitliche Verschiebung. Allerdings lässt sich in der Frühphase der Sprachentwicklung schwer zwischen einer Verzögerung und einer Störung differenzieren, da sich beide praktisch gleich manifestieren:

  • im (altersgemäß) zu geringen aktiven und passiven Wortschatz,

  • im reduzierten Satzverständnis und

  • in der eingeschränkten verbalen Kommunikation.

Kinder mit isolierter Sprachentwicklungsverzögerung werden als „late talkers“ bezeichnet, wenn sie im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Worte beherrschen und/oder so gut wie keine Wortkombinationen in ihrer Spontansprache gebrauchen. Nach Rescorla [18] sind etwa 18% der 2-jährigen Kinder „late talkers“. Sie haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer SES. Dieses wurde von Grimm [9] auf 50% geschätzt; d. h. die Hälfte der Kinder, die mit 24 Monaten „late talkers“ sind, weisen mit 36 Monaten eine manifeste SES auf. Die übrigen 50% holen den Rückstand ohne zusätzliche Therapie wieder auf. Ob dieser Anteil – die so genannten „late bloomers“ – tatsächlich so hoch ist, wird kontrovers diskutiert [14].

Die Extremform der Sprachentwicklungsverzögerung ist die Alalie.

Bei ihr bleibt der Spracherwerb völlig aus. Das Kind beherrscht keine oder nur wenige Worte bzw. artikuliert nur undefinierte Laute. Die verbale Kommunikation mit dem Kind ist unmöglich.

Phonetisch-phonologische Entwicklungsstörung – Dyslalie

Es besteht eine Störung der sprachlichen Lautbildung und Lautverbindungen mit deutlicher Abweichung von den üblichen Lautbildungsmustern. Ihr liegt eine „falsche“ oder defizitäre Repräsentation eines Lautes im Kortex zugrunde, die zu einer fehlerhaften Koordination der Sprechwerkzeuge führt. Die Dyslalie ist von peripheren Artikulationsstörungen (Dysglossie) und zentralen Störungen der Sprechmotorik (Dysarthrophonie) abzugrenzen.

Nach der Quantität der betroffenen Laute unterscheidet man partielle und multiple Dyslalien. Bei Ersteren sind nur ein oder wenige Laute betroffen; die Sprache ist insgesamt aber verständlich (phonetische Entwicklungsstörung). Bei den multiplen Dyslalien kommt es zu vielfachen Lautfehlbildungen mit schwer bzw. teilweise unverständlicher Sprache (phonologische Lautbildungsstörung).

Phonetische Entwicklungsstörung

Sie werden nach dem fehlgebildeten Laut unterteilt:

Sigmatismus

Hierunter wird eine Vielzahl von normabweichenden Varianten der „s“-Bildung subsumiert, wobei auch die Buchstaben „x“ und „z“ betroffen sind, in denen das „s“ als Lautkomponente enthalten ist. Die einzelnen Varianten werden nach dem Ort der Lautpathogenese klassifiziert: Sigmatismus interdentalis, addentalis, lateralis, lateroflexus, palatalis, labialis u. a.

Der Sigmatismus ist die häufigste Form einer phonetischen Lautbildungsstörung.

Zur Bildung eines korrekt klingenden „s“ ist eine sehr präzise und komplexe Feinabstimmung der Sprechwerkzeuge erforderlich. Deshalb ist eine fehlerhafte „s“-Bildung in frühen Spracherwerbsphasen physiologisch. Bei Persistenz bis in das Vorschulalter sollte sie therapeutisch behoben werden; nicht nur um der korrekten Aussprache willen, sondern auch zur Vermeidung der sozio-emotionalen Konsequenzen (z. B. Hänseleien der Kinder).

Schetismus

Die Fehlbildung des „sch“ tritt wegen der ähnlichen Stellung der Sprechwerkzeuge und komplexen Feinabstimmung zur korrekten Lautbildung häufig kombiniert mit einem Sigmatismus auf (mediale Zungenrille, lateraler Zungenandruck). Analog zum Sigmatismus werden verschiedene Formen unterschieden: Schetismus lateralis, stridens, nasalis u. a.

Rhotazismus

Es handelt sich um die fehlerhafte Bildung des „r“, wiederum in verschiedenen Varianten: Rhotazismus bilabialis, interdentalis, linguopharyngealis u. a.

Weitere Formen

Hier sind z. B. Gammazismus („g“), Chitismus („ch“), Lambdazismus („l“) zu nennen. Diese Formen treten selten isoliert auf und sind meist Teil einer multiplen Dyslalie.

Phonologische Entwicklungsstörungen

Sie imponieren als ein „System“ normabweichender Lautbildung. Es kommt zu Auslassungen, Vertauschungen, Einfügungen, Ersetzungen oder Angleichungen, nicht nur einzelner Laute, sondern auch ganzer Lautgruppen. Dazu können untypische Silbenbetonungen und Aussprachefehler als phonetische Störungen (Sigmatismus, Rhotazismus usw.) treten. Nach dem Modell der „natürlichen Phonologie“ [19] liegen den Lautumbildungen definierte Mechanismen zugrunde, die

  1. 1.

    in allen Sprachen gleich wirksam sind (universal-sprachlich) und

  2. 2.

    nicht nur bei gestörtem, sondern auch bei nachlässigem Sprechstil kompetenter Sprecher beobachtet werden können [z. B. fällt bei schneller Aussprache von „Luftballon“ das „t“ weg: „Lufballon“ (Angleichung)].

Phonologische Vereinfachungsprozesse ohne Krankheitswert sind in regionalen Dialekten zu finden

Es handelt sich demnach um phonologische Vereinfachungsprozesse. Oft zeigen sich derartige Vereinfachungen in regionalen Dialekten. Demnach sind Kinder, die in dieser Sprachumgebung aufwachsen, trotz ihrer Abweichungen von der Hochsprache nicht als phonetisch oder phonologisch entwicklungsgestört zu betrachten. Im Regelfall haben sie keine Mühe, die korrekte Aussprache zu erlernen.

Dysgrammatismus

Dieses Störungsbild fällt vorwiegend durch die Sprachproduktion auf, die gekennzeichnet ist durch Fehler in der Morphologie (Wortgestalt bei Pluralbildung, Konjugation, Deklination) und Verstöße gegen die Syntax (Wortstellung im Satz, korrekte Satzgestalt). Der Wortschatz des Kindes ist oft eingeschränkt, gelegentlich aber auch altersgemäß. In rezeptiver Hinsicht äußert sich die Störung in der Schwierigkeit, komplexen Sätzen zu folgen: Das Kind hat Probleme, die Bedeutungsnuancierung zu verstehen, die z. B. ein Zeitwort durch die Konjugation oder ein Hauptwort durch die Deklination erhält.

Dem Dysgrammatismus liegt eine reduzierte Fähigkeit zugrunde, die Regeln der Wort- und Satzbildung zu erlernen.

Die Störung tritt selten isoliert auf; meist weist das Kind zusätzliche Sprachauffälligkeiten wie Spracherwerbsverzögerung oder eine phonetisch-phonologische Entwicklungsstörung auf.

Charakteristische Zeichen des Dysgrammatismus sind:

  • das Auslassen von Artikeln, Hilfsverben und Präpositionen („ich nicht Opa gehen“, „wir gestern Ausflug gemacht“),

  • falsche Pluralbildungen („wir haben zwei Vogeln“),

  • falsche Fallbildungen („ich will den Auto haben!“),

  • Unsicherheiten in der Konjugation, die umschrieben werden („Peter tut lügen“ statt „Peter lügt“),

  • falsche Konjugationen („Peter spiele mit Ball“) und

  • Umstellungen in der Wortfolge („ich heim noch nicht gehe!“).

Das Erlernen der Grammatik ist ein induktiver Prozess, bei dem die Kinder aus der Beobachtung kompetenter Sprecher die Regeln erkennen, nach denen die Deklination der Substantiva und die Konjugation der Verben erfolgt. Diese Regeln wenden sie dann in der Folge selbstständig auf alle geeigneten Worte an. In diesem Zusammenhang kommt es im 3. Lebensjahr zum „entwicklungsbedingten“ Dysgrammatismus: die Kinder begehen grammatische Fehler, weil sie die Regeln auch auf die Ausnahmen anwenden (so genannte Übergeneralisierung). Ein typisches Beispiel ist die Imperfektbildung. Die Bildungsregel: „Hänge ein -te an den Wortstamm“ (legen – legte, sagen – sagte, loben – lobte) führt zu Formulierungen wie: „der Vogel fliegte“. Spätestens im 4.–5. Lebensjahr erkennen die Kinder die Ausnahmen morphologischer Regeln und begehen diese Fehler nur noch bei ihnen unbekannten Worten.

Die dysgrammatische Störung kann in unterschiedlichen Schweregraden auftreten. Bei der schwersten Form, dem Agrammatismus, besteht die Spontansprache des Kindes aus 1-Wort-Sätzen bzw. flexionslos nebeneinander gestellten Worten („Telegrammstil“). Bei der mittelschweren Form spricht das Kind einfache Sätze ohne Wortbeugungen und „ich“; bei den Verben wird zumeist der Infinitiv verwendet. Bei der leichten Form sind nur längere Sätze gestört, die durch einen eigenwilligen bzw. unvollkommenen Satzbau auffallen. Dazu treten Fehler beim Deklinieren und Konjugieren auf, Verwechslungen der Geschlechter und Wortvertauschungen.

Sprachregression

Der Verlust bzw. die Rückbildung sprachlicher Fertigkeiten, die das Kind bereits erworben hat, kann vielfältige Ursachen haben und ist immer ein Alarmsignal. Zunächst ist an eine postnatale Hörstörung zu denken. Eine länger bestehende, unerkannte Schallleitungsschwerhörigkeit (bei Mittelohrproblemen) kommt hier ebenso in Betracht wie eine neu aufgetretene sensorineurale Hörstörung (z. B. genetischer Ursache oder „late-onset“). Letztere verläuft meist progressiv; bei ausgeprägtem Fortschreiten droht ohne Hörhilfe ein sukzessiver Verlust der Sprache, der bis zum sekundären Mutismus führen kann.

Eine Sprachregression kann organisch, aber auch psychogen bedingt sein

Bei einem akut auftretenden Sprachverlust ist an eine Aphasie als Folge einer zentralnervösen Störung (z. B. Insult, Tumor, Meningoenzephalitis) zu denken. Eine akute Sprachregression tritt gelegentlich auch bei Kindern mit Epilepsie bzw. im Rahmen eines Landau-Kleffner-Syndroms auf (progressive Sprachrückbildung von aphasischem Charakter, mit EEG-Auffälligkeiten und fallweise epileptischen Anfällen). Weiterhin können psychiatrische Zustandsbilder (Autismus, Schizophrenie) zum Sprachabbau führen; nicht zuletzt kann eine Sprachregression auch psychogen bedingt sein, z. B. nach belastenden Ereignissen.

Diagnostik

Bei Vorliegen einer Sprachentwicklungsstörung sollen folgende Fragen geklärt werden:

  • Welche Ursachen führten zur Sprachentwicklungsstörung?

  • Tritt die SES isoliert oder als Teil einer gesamten Entwicklungsretardierung auf?

  • Wie ist der sprachliche Entwicklungsstand des betreffenden Kindes und in welchem Ausmaß sind die verschiedenen linguistischen Ebenen betroffen?

Wegen der vielfältigen Ursachen und Bedingungen, die einer SES zugrunde liegen können, erfordert ihre Abklärung immer ein interdisziplinäres Vorgehen von Ärzten, Psychologen und Logopäden bzw. Sprachtherapeuten. Zugleich ist auf ärztlicher Seite die enge Kooperation verschiedener Fachdisziplinen (Pädiater, Phoniater-Pädaudiologe, HNO-Arzt, Augenarzt, ggf. Neurologe, Psychiater, Kieferorthopäde) unumgänglich.

Anamnese und klinische Untersuchung

Anamnese

Anamnestisch ist v. a. der Verlauf der Sprachentwicklung zu erheben:

  • Erfolgte die Sprachentwicklung phasengerecht oder verzögert?

  • Wann wurden erste Worte gesprochen?

  • Wann wurden erste 2-Wort-Sätze gebildet?

  • Wann erfolgte eine regelrechte Reaktion auf Ansprache?

  • Wie sind die Qualität und die Quantität der verbalen Interaktionen mit Eltern, Geschwistern, Spielkameraden zu beschreiben?

  • Erhält das Kind ausreichend verbale Stimulation?

  • Wie stellt sich das soziale Umfeld dar?

  • Um welche Art der SES handelt es sich?

Gezielte Fragen zur motorischen Entwicklung sind wesentlich. Die Anamnese muss auch die verbale Entwicklung der Geschwister einbeziehen sowie das Auftreten von Sprachauffälligkeiten in der Verwandtschaft (Hinweise auf genetische Veranlagung). Weiterhin sind Risikofaktoren einer SES bzw. lebensgeschichtliche Ereignisse zu erfragen, die mit ihr in Zusammenhang stehen könnten: Erkrankungen, Unfälle, epileptische Anfälle usw.

Klinik

Die klinische Untersuchung ist auf die Suche potenzieller Ursachen einer SES zu fokussieren. Der Körperstatus gibt mögliche Hinweise beispielsweise auf eine Entwicklungsretardierung, auf motorische Probleme (z. B. Spastik), skelettodentale Fehlbildungen oder syndromale Symptome. Bei Verdacht auf ein Syndrom ist die weitergehende Abklärung zu veranlassen (z. B. EEG, Labor, bildgebende Verfahren, Histologie, Genetik), ebenso bei Hinweisen auf systemische oder Stoffwechselerkrankungen.

Auch visuelle Störungen können ursächlich sein

Die entwicklungsneurologische Abklärung gibt Auskunft über den Entwicklungsstatus des ZNS, Aktivitätspathologien sowie die Hirnnervenfunktionen. Die phoniatrisch-pädaudiologische und HNO-ärztliche Untersuchung sucht mit spiegeltechnischen, ohrmikroskopischen und ggf. endoskopischen Verfahren nach ursächlichen Faktoren im HNO-Bereich (z.B. orofaziale Dysfunktionen, Spaltbildungen, Adenoide, Fehlbildungen im Kopf-Hals-Bereich). Weiterhin erfolgt die Überprüfung des Hörvermögens durch physiologische (subjektive) und physikalische (objektive) Verfahren einschließlich der Funktionalität des Mittelohres (Tympanometrie), und in gegebenen Fällen der zentralen Hörverarbeitung. Eine augenärztliche Untersuchung prüft die Intaktheit des Sehsinns und der zentralen Verarbeitung der visuellen Information.

Bei Hinweisen beispielsweise für eine Systemerkrankung, Stoffwechselstörung, syndromale Konstellation oder andere Auffälligkeiten ist eine differenzierte pädiatrische und/oder neuropädiatrische Untersuchung zwingend notwendig. Bei Verhaltensauffälligkeiten, die den Verdacht auf eine psychiatrische Erkrankung erwecken, ist das Kind zur Abklärung an den Psychiater zu überweisen. Weiterführende, ergänzende Maßnahmen sind u. a. in gezielten Fällen Laboruntersuchungen, bildgebende Verfahren mit beispielsweise Computertomographie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Ultraschall oder humangenetische Tests.

Psychologische Diagnostik

Sie erstreckt sich auf die kognitiven, psychomotorischen und sozialen Kompetenzen des Kindes, soweit sie für die Sprachentwicklung von Bedeutung sind. Gegebenenfalls sind dessen emotionale Befindlichkeit sowie sein familiäres Umfeld zu erfassen. Bei Hinweisen auf relevante Probleme im familiär-sozialen Bereich (Vernachlässigung, Bilingualität, schwierige Familienverhältnisse) müssen auch dieser Bereich analysiert und Eltern sowie Bezugspersonen des Kindes (z. B. Lehrer) in den diagnostischen Prozess einbezogen werden.

Die kognitive Entwicklung des Kindes wird primär anhand seiner Intelligenz beurteilt.

Dabei sind sowohl die sprachgebundene als auch die nichtsprachlichen Formen der Intelligenz zu prüfen. Dafür steht eine Vielzahl normierter Testverfahren zur Verfügung, die der Psychologe nach dem Gesichtspunkt der besten Eignung sowie der persönlichen Vertrautheit auswählt. Beispiele sind die Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC) für Kinder ab 2 1/2 Jahren; der Snijders-Oomen-nonverbale Intelligenztest (SON) für Kinder von 2 1/2–7 Jahren zur Messung der allgemeinen sprachfreien Intelligenz, der Hamburg-Wechlser-Intelligenztest (HAWIK, HAWIVA-III) zur Messung der verbalen und nichtsprachgebundenen bzw. allgemeinen und spezifischen Intelligenz. Der kognitive Fähigkeitstest – Kindergartenform (KFT-K) – zur Ermittlung kognitiver Fähigkeiten bei 5- bis 6-jährigen Kindern und die Raven-Matrizen („coloured progressive matrices“, CPM) sind Verfahren zur Messung der sprachunabhängigen Abstraktionsfähigkeit bei 4- bis 7-jährigen Kindern.

Der psychomotorische Entwicklungsstand des Kindes muss abgeklärt werden

Psychomotorische Auffälligkeiten von Kindern lassen sich oft schon in einfachen standardisierten Spiel- oder Leistungsszenen erkennen (z. B. Figuren zeichnen). Die Ausbildung der Händigkeit ist durch einfache Gesten überprüfbar (z. B. Gegenstände entgegennehmen). Bei unbestimmten Auffälligkeiten ist der psychomotorische Entwicklungsstand des Kindes durch normierte Tests abzuklären, z. B. durch den Motoriktest für 4- bis 6-jährige Kinder (MOT 4–6), die Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED) oder den Denver-Test. Auch die Lincoln-Oseretzky-Skala (LOS-KF 18) kommt hierfür in Frage, allerdings sind die Normwerte wegen des Alters der aktuellen Auflage (2. Aufl. der Kurzform: 1974!) kritisch zu hinterfragen. Gleiches gilt für den Körperkoordinationstest für Kinder (KTK), der sich hauptsächlich als ein Screeninginstrument versteht.

Eine Verhaltensbeobachtung muss in jedem Fall durchgeführt werden

Die soziale und interaktive Integration des Kindes, z. B. in der Familie, wird am besten durch ein strukturiertes Gespräch mit seinen Bezugspersonen (Eltern, Betreuer, Lehrer) erhoben. Projektive Verfahren (wie der „Kinder-Apperzeptionstest“ oder „Familie in Tieren“) sind abzulehnen, da sie nicht die wissenschaftlichen Gütekriterien erfüllen und bei der Interpretation der Ergebnisse keinen allgemein anerkannten Kriterien folgen. Die zuverlässigsten Informationen über die verbalen und interaktiven Leistungen des Kindes erhält man durch Verhaltensbeobachtung (z. B. in einer Spielsituation). Sie ist auf jeden Fall erforderlich, da eine Gesamtbeurteilung des kommunikativen Entwicklungsstatus des Kindes allein auf der Basis von Testergebnissen meist einseitig und unvollständig ist.

Überprüfung des sprachlichen Entwicklungsstands

Auch für die Überprüfung des Sprachstatus bietet sich zunächst die Beobachtung des Kindes in Alltags- oder inszenierten Spielsituationen an. Die dabei gewonnenen Eindrücke müssen in der Folge durch Sprachentwicklungstests objektiviert und quantifiziert werden. Hierfür stehen wiederum mehrere Verfahren zur Verfügung, von denen hier nur einige genannt seien:

  • der Sprachentwicklungstest für 3- bis 5-jährige (SETK 3–5) bzw. für 2-jährige Kinder (SETK-2);

  • der Aktive Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder (AST);

  • der Kindersprachtest für das Vorschulalter (KISTE);

  • der Heidelberger Sprachentwicklungstest (HSET) (für Kinder von 3–9 Jahren);

  • der Teddy-Test für Kinder von 3–6 Jahren.

Die Auswahl der Tests bzw. Subtests erfolgt häufig eklektisch nach dem zu untersuchenden Bereich: Wortschatz, Phonologie, Semantik, Morphologie, Syntax, Pragmatik. Auch werden gelegentlich „vorsprachliche Fähigkeiten“ getestet, z. B. die phonologische Bewusstheit und die phonematische Differenzierungsfähigkeit, da diese ebenfalls für den Spracherwerb – besonders den Schriftspracherwerb – als relevant betrachtet werden.

Ein Instrument für die Früherkennung von Risikokindern ist der Elternfragebogen ELFRA [12].

Er wird in seinen 2 Versionen (ELFRA-1, ELFRA-2) als Screeninginstrument für Kinder mit 12 bzw. 24 Monaten eingesetzt. Er erfasst neben dem aktiven Wortschatz und -verständnis auch „Vorläuferfähigkeiten“ für den Spracherwerb, sodass Kinder mit einem erhöhten Risiko einer SES bereits in einem frühen Stadium des Spracherwerbs erkannt werden können.

Weitere diagnostische Möglichkeiten

Bei Kindern, die zusätzlich zur SES emotionale, soziale oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen (z. B. Angststörungen, Nykturie, Hyperaktivität), wird eine (psycho)diagnostische Abklärung auch dieser Symptome erforderlich sein. Sie sind möglicherweise Anzeichen eines tiefer liegenden Problems, das zugleich als Störfaktor der Sprachentwicklung wirkt.

Wahrnehmungsstörungen müssen ebenfalls abgeklärt werden

Wahrnehmungsstörungen – oft ungenügend definiert, schwer abgrenzbar und damit schwierig zu diagnostizieren – müssen ebenfalls abgeklärt werden:

Bei einer auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung (AVWS) kann das Kind trotz normalen peripheren Gehörs die akustischen Informationen nur unvollständig aufnehmen, diskriminieren, speichern und verarbeiten. Es liegen funktionelle Defizite des zentral-auditiven Systems vor, die den Spracherwerb behindern können. Die betroffenen Kinder fallen auf durch:

  • schlechtes Sprachverstehen bei Störlärm,

  • Probleme bei der Lokalisation von Schallquellen,

  • verminderte auditive Merkfähigkeit,

  • häufiges Ver- oder Überhören akustischer Informationen.

Es stehen mehrere Tests zur Prüfung der zentral-auditiven Funktionen zur Verfügung (z. B. Überprüfung des Richtungshörens, Sprachverstehen im Störschall, Hör-Merk-Spanne, u. a). Abzugrenzen sind diese von Aufmerksamkeitsdefiziten [ADHS (mit Hyperaktivität)] und spezifischen Lernstörungen. Eine psychologische Untersuchung muss deshalb vor bzw. neben einer pädaudiologischen Überprüfung erfolgen.

Zur Beurteilung der taktil-kinästhetischen Funktionen bei Kindern zwischen 3 1/2 und 6 Jahren eignet sich der Göttinger Entwicklungstest der Taktil-Kinästhetischen Wahrnehmung (TAKIWA). Bei noch jüngeren Kindern (ab 1 1/2 Jahren) kann der Diagnostische Elternfragebogen zur Taktil-Kinästhetischen Responsivität im frühen Kindesalter (DEF-TK) zum Einsatz kommen.

Für den visuellen Bereich steht der Frostig-Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW) für Kinder zwischen 4 und 9 Jahren zur Verfügung. Er soll demnächst in einer überarbeiteten 2. Auflage (FEW-2) erscheinen.

Therapie der SES

Das therapeutische Vorgehen bei SES wird durch 2 Schwerpunkte bestimmt:

  • die Eliminierung oder Abschwächung von Faktoren, die die SES bedingen,

  • die Korrektur oder das Aufholen der sprachlichen Defizite des Kindes.

Ersteres ist nur in einem Teil der Fälle möglich, z. B. als Beseitigung der Schallleitungsschwerhörigkeit durch Adenotomie und Parazentese/Paukendränage oder durch prothetische Versorgung einer sensorineuralen Hörstörung. Diese Maßnahmen sollten frühzeitig erfolgen und konsequent indiziert werden. Das Anbieten eines sprachlich stimulierenden Umfeldes für das Kind oder die Behandlung einer Grunderkrankung sind weitere mögliche therapeutische Möglichkeiten. Bestimmte Trainingsprogramme vorsprachlicher Basisfertigkeiten (wie phonologische Bewusstheit, Feinmotorik, auditive Merkfähigkeit) gehören ggf. zur Förderung [24]. In vielen Fällen ist eine mehrdimensionale Therapie durch zusätzliche nonverbale Förderung aufgrund der Komplexität des Ursachengefüges und Störungsbildes notwendig. Ergo- oder Physiotherapie sind in bestimmten Fällen indiziert, als unterstützende Maßnahmen die Regulierung von Dysgnathien und die Behandlung von orofazialen Dysfunktionen.

Lernpsychologische Grundprinzipien sind leitender therapeutischer Grundsatz.

Die Sprachanregung muss phasenspezifisch erfolgen. Das Kind soll vom bestehenden Sprachentwicklungsstand ausgehend gefördert werden, um den regulären Spracherwerb nachzuvollziehen. Die Eltern werden als wichtige Bezugspersonen nach gezielter fachlicher Beratung aktiv in die Therapie einbezogen (verstärkte verbale Interaktion, „korrektives feedback“). Im Regelfall sind es Fachtherapeuten (Logopäden, Sprachtherapeuten), die den Spracherwerb durch gezielte Förderprogramme und mit spezifischen, auf das Kind abgestimmten Therapien anregen.

Früherkennung und Frühtherapie sind weitere wesentliche Prinzipien in der Behandlung von Sprachentwicklungsstörungen [3, 8, 22]. Die bisweilige Haltung, bei SES zuzuwarten, da sie sich in zahlreichen Fällen von allein „auswachsen“, ist nicht akzeptabel. Etwa 50% der Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen haben im Alter von 3 Jahren eine manifeste SES und damit ein erhöhtes Risiko für eine Lese-Rechtschreib-Störung im Schulalter.

Spätestens bei Schuleintritt sollte die altersgemäße Sprachkompetenz erreicht sein

Ziel der Therapie ist es, spätestens bei Schuleintritt den Rückstand aufgeholt und die altersgemäße Sprachkompetenz erreicht zu haben. In diesem Zusammenhang wird von der deutschen Krankenkasse das zu hohe Alter des Behandlungsbeginns kritisiert:

„Bei den sprachtherapeutischen Behandlungen erreichen die Sechsjährigen einen Höchstwert: 21% aller Jungen und 14% aller Mädchen in dieser Altergruppe haben 2006 eine Sprachtherapie erhalten. Das ist nach Einschätzung der Fachwelt zu spät: Die sprachtherapeutischen Behandlungen sollten nicht erst beim Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule stattfinden, sondern bereits bei drei- bis vierjährigen Kindern.“ (Pressemitteilung des wissenschaftlichen Instituts der AOK vom 25.02.2008)

Die Prognose hängt von der Art und Schwere sowie den Therapiemöglichkeiten der zugrunde liegenden Erkrankung ab. Neben anamnestischen Risikomerkmalen entscheiden offenbar neurophysiologische Faktoren über den Therapieerfolg.

Fazit für die Praxis

Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel des Menschen, somit beeinträchtigen Sprachentwicklungsstörungen, also zeitliche und/oder inhaltliche Abweichungen vom normalen Spracherwerb, die Betroffenen erheblich. Da die physiologische Sprachentwicklung fließend verläuft, kann erst von einer SES gesprochen werden, wenn die Eckdaten der normalen Sprachentwicklung nicht erreicht werden. Primären SES liegt im Gegensatz zu sekundären SES keine organische, mentale oder emotionale Störung als Ursache zugrunde. Es werden Sprachentwicklungsverzögerungen, phonetische oder phonologische Entwicklungsstörungen, Dysgrammatismus und Sprachregression unterschieden. Wegen der vielfältigen Ursachen einer SES erfordert ihre Abklärung immer ein interdisziplinäres Vorgehen. Schwerpunkte des therapeutischen Vorgehens sind die Eliminierung oder Abschwächung von Faktoren, die die SES bedingen, und die Korrektur oder das Aufholen der sprachlichen Defizite des Kindes. Lernpsychologische Grundprinzipien sind leitender therapeutischer Grundsatz, Früherkennung und Frühtherapie sind weitere wesentliche Prinzipien. Spätestens bei Schuleintritt sollten der Rückstand aufgeholt und die altersgemäße Sprachkompetenz erreicht sein.