1 Einleitung

Die sozialwissenschaftliche Erforschung aktueller gesellschaftlicher Probleme und Prozesse ist seit jeher zwei spezifischen Anforderungen ausgesetzt. 1) Medien, Politik und Öffentlichkeit verlangen nach schnellen, verständlichen und praktisch umsetzbaren Antworten, aber die Forschung benötigt Zeit und führt oft zu komplexen und nicht unmittelbar anwendbaren Befundmustern. 2) Medien, Politik und Öffentlichkeit haben oft Vorannahmen oder spezifische Interessen, was sozialwissenschaftliche Befunde angeht. Mitunter werden wissenschaftliche Ergebnisse und Modelle mit Bezug auf „den gesunden Menschenverstand“ oder anekdotisches Alltagswissen relativiert, diskreditiert oder − was weitaus problematischer ist − von Akteuren instrumentalisiert, die gegenüber dem Forschungsergebnis nicht neutral sind, sondern hoffen, dass die Befunde ihrer öffentlich vertretenen Position nutzen (z. B. Kepplinger 1989).

Ein gutes Beispiel für das beschriebene Spannungsfeld ist die so genannte „Killerspiele“-Debatte. Bildschirmspiele haben sich spätestens seit Ende der 1990er Jahre zu einem populären Massenmedium auch in Deutschland entwickelt. Spiele mit Gewaltdarstellungen gibt es seit den 1970ern, und die Sorge um negative Wirkungen wurde seitdem immer wieder öffentlich artikuliert. Insbesondere im Kontext extremer Gewaltereignisse (wie etwa 2002 in Erfurt, 2006 in Emsdetten oder 2009 in Winnenden) wurde das exzessive Spielen gewalthaltiger Bildschirmspiele mehr oder weniger explizit für das Verhalten der Täter verantwortlich gemacht (z. B. Fischer 2006). Die Jugendschutzbestimmungen sind in der Folge bereits verschärft worden. Weitergehende Maßnahmen (z. B. Indizierung, Verkaufsverbote, Werbeverbote) werden bis heute diskutiert; dabei wird sowohl von den Befürwortern als auch von den Gegnern solcher Maßnahmen auf die Befunde sozialwissenschaftlicher Forschung verwiesen.

Angesichts des hohen öffentlichen Interesses wurde und wird in den Massenmedien auch über die empirische Forschungslage zur Wirkung gewalthaltiger Bildschirmspiele berichtet und diskutiert. In Zeitungen, Zeitschriften, TV-Magazinen, Radiosendungen und Online-Portalen finden sich zahlreiche Beiträge zu dieser Thematik. Erstaunlich ist indes, wie groß die Unterschiede zwischen diesen Beiträgen im Hinblick darauf sind, was als „sozialwissenschaftlich gesichertes Wissen“ betrachtet wird. Die Bandbreite der Aussagen reicht von Sätzen wie „Pädagogen konnten dementsprechend in diversen Untersuchungen belegen, dass Kinder, die gewalthaltig wirkende Spiele ausüben durften, anschließend zu weniger aggressivem Verhalten und höherer sozialer Kompetenz neigen.“ (Hartmann 2007) über „Der Nachweis für konkrete Auswirkungen von Gewaltdarstellung in Filmen oder Computerspielen ist bis heute nicht erbracht“ (Lüke 2006) bis hin zu „Jüngere und vor allem sehr umfassende Studien besagen, dass mit zunehmendem Konsum von Gewaltspielen auch zunehmend aus virtueller wirkliche Gewalt wird“ (Fromm 2007). Eine solche Heterogenität der Befunde bzw. der Befundinterpretationen kann in den Augen einer Laienöffentlichkeit leicht verwirrend wirken oder als ein Zeichen für die Unerforschbarkeit des Gegenstands oder gar für die Inkompetenz der beteiligten Forscher interpretiert werden (siehe z. B. Scharrer et al. 2013). Dies wiederum birgt die Gefahr der Abwertung oder der Instrumentalisierung einzelner wissenschaftlicher Befunde. So wird der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein in einem Interview mit den Worten zitiert „Dass solche Killerspiele die Hemmschwelle gegen Gewalt herabsetzen, ist für mich eindeutig, auch wenn wissenschaftliche Belege hierfür noch umstritten sind“ (siehe Bangel 2005). Wie kommt es dazu, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnis so häufig als heterogen und unsicher wahrgenommen wird? Und ist es gerade die Fragilität und Vorläufigkeit der Forschungslage, die den Umstand begünstigt, dass diese leicht für politische und andere Ziele instrumentalisiert werden kann?

Der vorliegende Beitrag thematisiert die Kommunikation und Rezeption sozialwissenschaftlicher Forschungsbefunde im Kontext aktueller und emotionalisierter gesellschaftlicher Diskurse. Wir werden hier zunächst erörtern, wieso sozialwissenschaftliche Programme und Befunde Gefahr laufen, in einem gesellschaftlichen Diskurs instrumentalisiert zu werden. Instrumentalisierung bedeutet dabei, eine eigene Position argumentativ zu untermauern und entsprechende Konsequenzen aus dieser Position mit Verweis auf die „wissenschaftlichen Belege“ zu rechtfertigen. Wir argumentieren, dass eine solche Instrumentalisierung nicht nur bei politischen Entscheidungsträgern, sondern auch in der journalistischen Darstellung sozialwissenschaftlicher Forschungsbefunde häufig anzutreffen ist. Ob die Instrumentalisierung dabei absichtlich erfolgt (im Sinne einer Täuschung) oder unabsichtlich (etwa im Sinne eines motivierten Strebens nach argumentativer Konsistenz), ist schwierig zu beantworten und soll im vorliegenden Beitrag nicht näher thematisiert werden. Die instrumentelle Aktualisierung einer bestimmten Position nutzt dabei die Tatsache aus, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Bewertungen eines Gegenstands häufig nicht einig sind bzw. sich explizit widersprechen. Diese Widersprüchlichkeit stellt ein Grundmerkmal wissenschaftlichen Arbeitens dar und ist ein Motor für die quantitative und qualitative Vermehrung von Wissen. Dennoch wird diese Widersprüchlichkeit speziell in den Medien zum Problem stilisiert („die Wissenschaftler sind sich nicht einig“) oder dazu genutzt, ausgewählte Positionen gezielt argumentativ zu stützen. Diese Darstellung erhöht die Gefahr, dass wissenschaftliche Befundlagen in der Öffentlichkeit verzerrt repräsentiert werden und die interne Funktionsweise wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung falsch verstanden wird.

Im Anschluss an diese Erörterung, in welcher die mediale Berichterstattung über Forschung im Vordergrund steht, werden wir uns der Frage widmen, wie wissenschaftliche Laien Forschungsprogramme und -befunde bewerten und wie diese Bewertung durch bestimmte Voreinstellungen und Überzeugungen beeinflusst sein kann. Wir werden uns konkret damit befassen, unter welchen Umständen wissenschaftliche Laien (die „Öffentlichkeit“) dazu neigen, Forschungsbefunde so zu suchen und zu gewichten, dass persönliche Einstellungen und Überzeugungen aufrechterhalten werden können. Dabei zeigen wir anhand eigener Untersuchungen, dass eine verzerrte Rezeption und Bewertung von Forschung das Resultat zweier subjektiver Bedrohungswahrnehmungen sein kann: zum einen handelt es sich dabei um die wahrgenommene Bedrohung moralischer Überzeugungen, zum anderen um die wahrgenommene Bedrohung der sozialen Identität. Beides werden wir am Beispiel der „Killerspiele-Debatte“ illustrieren. Unsere Argumente sind aber durchaus nicht auf diesen einen gesellschaftlichen Diskurs beschränkt: Gegen Ende dieses Beitrags werden wir zeigen, wie sich unsere Argumente und Befunde auf andere Diskurse, beispielsweise die Debatte um eine Reform des Bildungssystems in Deutschland, übertragen lassen.

2 Die Instrumentalisierung von Forschung in den Medien

Widersprüchliche Meinungen, Methoden, Befunde und Interpretationen sind ein Wesensmerkmal guter Wissenschaft (Weingart 2001). Nur triviale Sachverhalte bewirken eine perfekte Replikationsquote und unwidersprochene Einigkeit unter den Experten. Je komplexer ein Sachverhalt, desto eher ändern sich die Befunde (und die möglichen Interpretationen dieser Befunde) in Abhängigkeit vom gewählten methodischen Vorgehen. Gerade die Pluralität von Methoden, die Divergenz von Expertenmeinungen und die Widersprüchlichkeit von Befunden - verkürzt gesagt: der wissenschaftliche Diskurs im Sinne Karl Poppers - ist auf dem Weg zu einem vertieften Verständnis für einen komplexen Sachverhalt unabdingbar.

In den Sozialwissenschaften kommt - vermutlich stärker als in den „harten“ NaturwissenschaftenFootnote 1- das Problem dazu, dass ihre empirischen Erkenntnisse probabilistischer Natur sind, während naturwissenschaftliche Aussagen häufiger deterministisch sind (Manski 1999; Ragin 2000). Dies ist unter anderem auf eine größere Fehlerbehaftetheit sozialwissenschaftlicher Messungen zurückzuführen. Probabilistische Zusammenhänge sind dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte Ursachen im Einzelfall nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit wirksam werden. Wenn also der Freundeskreis eines Jugendlichen hauptsächlich aus Kriminellen besteht, so führt dies nicht notwendigerweise (deterministisch) dazu, dass sich seine Aggressionsbereitschaft erhöht.

Die mit probabilistischen Aussagen verbundene Komplexität und Unschärfe kann bei Laien leicht dazu führen, dass das entsprechende Wissen als unsicher und fragil wahrgenommen wird. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Wahrnehmung der Forschung zum Klimawandel wurde beispielsweise gezeigt, dass wissenschaftliche Unsicherheit bei Laien ohne ein Verständnis für die Funktionsweise wissenschaftlicher Forschung zu einer erhöhten Skepsis gegenüber dem Phänomen Klimawandel und zu einer verminderten Bereitschaft zum Umweltschutz führen kann (Corner et al. 2012; Ding et al. 2011; Rabinovich und Morton 2012).

Dass die Fragilität und Unsicherheit sozialwissenschaftlichen Wissens Instrumentalisierungen begünstigt, liegt auf der Hand. Eine zentrale Kontrollfunktion wird dabei häufig den Medien zugeschrieben, die über wissenschaftliche Befunde und Forschungsprogramme berichten. Es muss jedoch beachtet werden, dass eine ausgewogene Berichterstattung über sozialwissenschaftliche Befunde gerade in Anbetracht der Komplexität und der Alltagsnähe des Forschungsgegenstandes, aber auch vor dem Hintergrund struktureller Eigenschaften des „journalistischen Systems“ (Zeitdruck, wirtschaftliche Zwänge, Nachrichtenwertigkeit, die Notwendigkeit zur Komplexitätsreduktion etc.) eine Herausforderung selbst für gut ausgebildete und erfahrene Wissenschaftsjournalisten darstellt (Friedman 1986; Friedman et al. 1999; Weßler 1995). Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass sozialwissenschaftliche Forschungsprogramme und -befunde auch in der journalistischen Berichterstattung häufig verzerrt dargestellt werden. Zu solchen systematischen Verzerrungen bei der medialen Darstellung von Forschung gehören (für eine ausführliche Darstellung siehe Klimmt et al. 2013):

  • die mangelnde Aktualität referierter Forschungsarbeiten

  • das Verschweigen oder Herunterspielen wissenschaftlicher Kontroversen

  • die Überinterpretation einzelner empirischer Befunde

  • die verzerrte oder falsche Darstellung empirischer Befunde

  • das selektive Verweisen auf Einzelmeinungen und die unbegründete Kreditierung eines vermeintlichen Expertenstatus

In einem eigenen ForschungsprojektFootnote 2 haben wir - bezogen auf die mediale Berichterstattung zur Forschung über die „Wirkung gewalthaltiger Bildschirmspiele“ - für alle diese Verzerrungen Beispiele gefunden. So zeigt eine qualitative Inhaltsanalyse von insgesamt 37 Artikeln aus Printmedien sowie von fünf Beiträgen aus TV-Informationssendungen, dass häufig solche Wissenschaftsakteure zitiert werden, die klare und einfache Botschaften im Sinne der eigenen Auffassung eines Autors verkünden (Sowka et al. 2011). Beispielhaft für diese instrumentelle Wissenschaftsdarstellung ist ein Beitrag, der im Mai 2002 im „Spiegel“ unter der Überschrift „Die freie Hasswirtschaft“ erschien (Beier et al. 2002). Hier wird die These negativer Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele unter Verweis auf zwei Wissenschaftler vorgetragen, welche allenfalls in geringem Maße zum publizierten sozialwissenschaftlichen Forschungsstand über die Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele beigetragen haben. Das Muster der instrumentell-selektiven Wissenschaftsdarstellungen wird auch sichtbar bei Beiträgen, die den Darstellungsformen „Interview“ oder „Porträt“ angehören: Wissenschaftler, die sich bereits in der Vergangenheit eindeutig zur Frage der negativen Wirkung gewalthaltiger Bildschirmspiele geäußert haben, kommen bevorzugt zu Wort, denn sie sprechen direkt für die Position, die der Journalist veröffentlichen möchte; sie sind quasi „opportune Zeugen“ der eigenen Position (Hagen 1992).

Bisweilen findet sich in der medialen Berichterstattung auch eine erstaunlich fundamentale Kritik an Forschungsarbeiten, die innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft - trotz eines anerkannten Qualitätssicherungssystems - als einschlägig gelten. So findet sich in einem Bericht des „Sydney Morning Herald“ vom August 2011 ein Verriss laborexperimenteller Forschung zur (kurzfristigen) Wirkung des Konsums gewalthaltiger Bildschirmspiele, obwohl das kritisierte Paradigma (das sogenannte „noise blast“-Paradigma, bei dem die Versuchsperson einer zweiten Person ein unangenehmes akustisches Geräusch übermitteln und die Dauer und die Lautstärke desselben frei einstellen kann; vgl. Anderson und Bushman 1997) zu den validierten Standardverfahren der laborexperimentellen Aggressionsforschung gehört (siehe Carlson et al. 1989; Giancola und Chermack 1998; Giancola und Parrott 2008). Im Zeitungsbericht hingegen wird auf solche einschlägigen Validitätsnachweise nicht weiter eingegangen. Stattdessen ist dort Folgendes zu lesen (Dapin 2011):

It’s not meaningful in the real world: A 0.01-second difference in propensity to deliver a loud noise blast using an air horn to an opponent in some sort of context, after playing a violent video game as opposed to a non-violent video game, is not in my mind real-world validity. It’s not evidence of a profound effect.

Solche Aussagen sind in mehrfacher Hinsicht problematisch, unterminieren sie doch die Autorität der Sozialwissenschaften als eine wichtige Stimme im öffentlichen Diskurs. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die Meinungen über die Eignung der sozialwissenschaftlichen Forschung, einen sinnvollen Beitrag zu diesem Diskurs zu leisten, gemischt sind, wie eine weitere Untersuchung aus unserem Forschungsprojekt zeigt (Sjöström et al. 2013). Die Ergebnisse einer Umfrage unter 290 wissenschaftlichen Laien legen nahe, dass die Sozialwissenschaften zwar im medialen Diskurs durchaus sichtbar sind, dass aber andererseits vorwiegend Befragte aus „bildungsnahen“ Milieus der Meinung waren, dass die erhöhte Sichtbarkeit von Sozialwissenschaften die mediale Darstellung der „Killerspiele-Debatte“ qualitativ verbessert habe. Interessanterweise zeigte sich in dieser Studie auch, dass lediglich ein Viertel aller Befragten generell der Aussage zustimmten, dass die mediale Berichterstattung im Zusammenhang mit der „Killerspiele-Debatte“ zu einer besseren Informiertheit in der Bevölkerung beigetragen habe. Die Frage ist also, ob eine verzerrte Darstellung von Forschung in den Medien nicht gerade den Medien selbst einen Bärendienst erweist.

3 Selektive und kritische Rezeption von Forschung

Sozialwissenschaftliche Phänomene sind im Vergleich zu naturwissenschaftlichen in stärkerem Maße der Erfahrung von Laien zugänglich (Flyvbjerg 2001; Haslam und Bryman 1994) und daher eher der Gefahr ausgesetzt, individuellen Alltagsrationalitäten zu widersprechen: So mag der bislang fehlende empirische Nachweis für die These, das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern sei in kleinen Schulklassen merklich höher als in großen (siehe u. a. Schrader et al. 2001; Wilberg und Rost 1999), nicht mit der Alltagswahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern übereinstimmen und daher für Unverständnis und Zweifel an der Validität der wissenschaftlichen Evidenz sorgen (siehe auch den Beitrag von Bromme et al. 2014 in diesem Bd. ). Gerade für sozialwissenschaftliche Fragestellungen ist zu beobachten, dass eine Vielzahl von Akteuren eine Vielzahl von Meinungen und entsprechende Geltungsansprüche hervorbringt. Mit diesen Ansprüchen konkurriert das wissenschaftliche Vorgehen um Einfluss und Akzeptanz in der öffentlichen Meinungsbildung (Cassidy 2008; Weßler 1995).

Das weiter oben zitierte Textbeispiel aus dem „Sydney Morning Herald“ (Dapin 2011) illustriert den problematischen Fall einer „Wissenschaftsschelte“ in den Medien. Der Verfasser des Artikels übt fundamentale methodische Kritik an der Forschung zur Wirkung gewalthaltiger Bildschirmspiele und zieht damit nicht nur die Validität der Ergebnisse und der methodischen Herangehensweise der zitierten Studie, sondern auch die grundsätzliche Eignung dieser Forschung, einen sinnvollen und nützlichen Beitrag zur „Killerspiele-Debatte“ zu leisten, in Zweifel. Solcherlei Fundamentalkritik ist glücklicherweise nur selten in den Medien anzutreffen; häufiger findet man sie hingegen in Online-Foren, in denen die „Killerspiele-Debatte“ und entsprechend neue Forschungsbefunde diskutiert werden.Footnote 3 Die Kritik, die in diesen Foren an sozialwissenschaftlicher Forschung geübt wird, ist erstaunlich emotional, von großer Feindseligkeit geprägt und richtet sich nicht nur gegen die Qualität einer konkreten UntersuchungFootnote 4, sondern nicht selten auch gegen die sozialwissenschaftliche Forschung als Ganzes und gegen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sie durchführen - dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die entsprechende Studie einen empirischen Nachweis für die These erbracht hatte, dass der Konsum gewalthaltiger Bildschirmspiele schädlich sein kann.

Auf den ersten Blick mögen solche emotionalisierten Reaktionen (die im Folgenden als „flaming“ bezeichnet werden; vgl. Lea et al. 1992) einfach zu erklären sein. Dabei scheinen zwei Dinge zusammenzukommen: 1) ein Widerspruch zwischen einem bestimmten empirischen Befund und der eigenen Meinung und 2) die Anonymität des Internets, welche eine gewisse enthemmende Wirkung haben kann (Moor et al. 2010). In unserem konkreten Fall scheint es sich um Personen zu handeln, die in ihrer Freizeit häufig Bildschirmspiele spielen (wir verwenden im Folgenden den Begriff „Gamer“), und die der Annahme, dass ein solcher Konsum schädliche Konsequenzen für das Sozialverhalten haben könne, widersprechen. Je größer dieser Widerspruch, desto eher spricht man dem wissenschaftlichen Befund seine Gültigkeit ab und desto eher kritisiert man die entsprechende Forschung fundamental - bis hin zu der Behauptung, dass die entsprechende Thematik einer wissenschaftlichen Analyse überhaupt nicht zugänglich sei. Dieses Phänomen hat Munro (2010) als „scientific impotence excuse“ bezeichnet.

Neuere Befunde aus unserer eigenen ArbeitsgruppeFootnote 5 legen jedoch nahe, dass diese Erklärung möglicherweise zu einfach ist. Die fundamentale Kritik an der Forschung und an den Forschenden, welche nicht nur in Online-Foren, sondern auch auf Podiumsdiskussionen und öffentlichen Symposien zu beobachten ist, suggeriert, dass es um mehr geht als nur um die Richtigkeit der eigenen Meinung. Ein meinungsinkonsistenter Forschungsbefund scheint vielmehr deshalb so heftige Reaktionen auszulösen, weil dieser Befund eine gewisse Bedrohlichkeit impliziert. Zwei solcher (wahrgenommener) Bedrohungen haben wir in unseren Arbeiten untersucht: die Bedrohung moralischer Wertüberzeugungen und die Bedrohung der sozialen Identität.

3.1 Bedrohung moralischer Wertüberzeugungen

Sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse können im Konflikt mit moralischen Wertüberzeugungen stehen. Solche Wertüberzeugungen sind dadurch charakterisiert, dass sie als universell gültig und nicht verhandelbar wahrgenommen werden (Tanner et al. 2009; Tetlock 2003). Wenn man beispielsweise davon überzeugt ist, dass Respekt vor Autoritäten ein wichtiges Charaktermerkmal von Schülerinnen und Schülern darstellt, so wird man empirische Nachweise für die These, dass autoritärer Respekt mit sozial unerwünschten Persönlichkeitseigenschaften assoziiert ist, als bedrohlich erleben. Analog sollte man einen Forschungsbefund, der keine Nachweise für schädliche Wirkungen gewalthaltiger Bildschirmspiele erbringt, dann als bedrohlich erleben, wenn man die Darstellung von Gewalt zu Unterhaltungszwecken als verwerflich ansieht. Wir konnten im Zusammenhang mit der „Killerspiele-Debatte“ zeigen, dass Personen in gewalthaltigen Bildschirmspielen dann eine stärkere moralische Wertebedrohung sahen, wenn sie sich selbst als Pazifisten bezeichneten, und dass Personen dann verstärkt nach Befunden für die Schädlichkeit gewalthaltiger Bildschirmspiele suchten, wenn zuvor der Wert der Gewaltfreiheit gezielt bedroht wurde (Rothmund et al. 2013). Diese Ergebnisse legen nahe, dass die selektive Suche nach Forschungsbefunden Ausdruck einer Motivation zum Schutz des Werts der Gewaltfreiheit darstellen kann. Mit anderen Worten, das Ziel einer möglichst unvoreingenommenen Wissenschaftsrezeption (Wahrheitsmotivation) kann bei einer Bedrohung zentraler Wertüberzeugungen dem Ziel der Verteidigung persönlicher Wertüberzeugung (Defensivmotivation) untergeordnet sein.

Unsere Studien zeigten außerdem, dass diese Defensivmotivation eine stärkere Unterstützung politischer Maßnahmen gegen die Verbreitung gewalthaltiger Bildschirmspiele bewirkt. Die einseitige Suche nach wissenschaftlicher Evidenz kann somit als funktional im Sinne der Entwicklung und Begründung politisch relevanter Einstellungen verstanden werden, und die Herausbildung politischer Einstellungen kann ihrerseits als subjektive Bekräftigung persönlicher Wertüberzeugungen verstanden werden. Mit anderen Worten: Die zu diesem Ziel subjektiv ausgewählten wissenschaftlichen Befunde werden zur Bekräftigung eines bestehenden Werts und nicht als Erkenntnisquelle genutzt.

3.2 Bedrohung sozialer Identität

Menschen ziehen individuelle Vorteile aus der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. Eine Wissenschaftlerin, ein Fußballer oder eine Lehrerin zu sein kann jemanden mit Stolz erfüllen und die Selbstwertschätzung steigern (Tajfel und Turner 1986). Auch ein „Gamer“ zu sein kann selbstwertrelevant für eine Person sein (z. B. Taylor 2003). Aus einer bestimmten Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie lässt sich jedoch nur dann eine positive soziale Identität ableiten, wenn die Gruppe im Allgemeinen positiv bewertet wird; andernfalls ist die soziale Identität bedroht. Auf eine soziale Identitätsbedrohung reagieren Gruppenmitglieder häufig mit einer Abwertung jener Akteure, von denen die wahrgenommene Bedrohung ausgeht (Twenge et al. 2001). Diese Abwertung fällt vor allem bei denjenigen Gruppenmitgliedern stärker aus, die sich stark mit ihrer Gruppe identifizieren (Ellemers et al. 1999).

Forschungsbefunde, denen zufolge der Konsum gewalthaltiger Bildschirmspiele negative Folgen haben kann, stellen also insbesondere für hoch-identifizierte „Gamer“ eine soziale Identitätsbedrohung dar. In Übereinstimmung mit dieser Annahme fanden wir in unseren Studien, dass die soziale Identifikation der Probanden mit der Gruppe der „Gamer“ einen Einfluss auf die selektive Abwertung von Forschungsergebnissen und die unterstellte (In)Kompetenz der Forschenden hatte: Je stärker sich die Probanden mit der Gruppe der „Gamer“ identifizierten, desto eher zeigten sie fundamental kritische Einstellungen gegenüber der Forschung zur Wirkung gewalthaltiger Bildschirmspiele - aber nur gegenüber jenen Studien, die einen Nachweis für die These schädlicher Medienwirkungen erbrachten (Nauroth et al. 2014). Dies zeigt, dass eine verzerrte Forschungswahrnehmung bei Bildschirmspielern auch dadurch verursacht wird, dass sich Bildschirmspieler durch die Forschung in ihrer sozialen Identität bedroht fühlen.

Bedrohungswahrnehmungen können unseren Ergebnissen zufolge also eine wichtige Rolle bei der Rezeption und Bewertung von Forschungsbefunden spielen. Anders gesagt, zwei Gründe dafür, dass einige Menschen so emotional auf Forschungsbefunde reagieren und sich in der Öffentlichkeit (oder anonym im Internet) bisweilen feindselig und abwertend gegenüber einem bestimmten Forschungsprogramm äußern, könnten die Bedrohung moralischer Wertüberzeugungen und/oder die Bedrohung sozialer Identität sein. Zukünftige Forschung könnte nun auf diese Erkenntnisse aufbauen und untersuchen, ob auch „flaming“ durch solche Bedrohungswahrnehmungen motiviert ist und ob umgekehrt ein „flame“ die Funktion erfüllt, eigene moralische Wertüberzeugungen und/oder die soziale Identität eines Individuums zu bekräftigen.

Interessanterweise ergeben sich ähnliche Befunde zur Beurteilung von Medienberichten durch Personen mit starker Gruppenidentifikation: Der „hostile media effect“ beschreibt das Phänomen, dass Personen mit einer bestimmten politischen Orientierung (und Gruppenzugehörigkeit) journalistische Inhalte misstrauisch beurteilen und eine unfaire Nähe zur entgegengesetzten Orientierung unterstellen (Hartmann und Tanis 2013). Analog dazu könnten nachfolgende Studien untersuchen, ob die Sozialwissenschaften in der öffentlichen Rezeption einen „hostile science effect“ fürchten sollten.

4 Zusammenfassung

Sozialwissenschaftliche Forschungsbefunde laufen Gefahr, instrumentalisiert, verzerrt rezipiert und fundamental kritisch bewertet zu werden. Solche Reaktionen sind aus psychologischer Sicht gut zu erklären, aber sie stören den öffentlichen Diskurs um den „Wert“ der Forschung, anstatt ihn zu bereichern, und sie untergraben die Autorität einer auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten und ergebnisoffenen Forschungsarbeit. Der vorliegende Beitrag versuchte zu skizzieren, an welchen Stellen des Prozesses zwischen wissenschaftlicher Befundproduktion und öffentlicher Rezeption und Meinungsbildung es zu solchen Störungen kommen kann. In diesem letzten Abschnitt sollen unsere Überlegungen, Argumente und Befunde noch einmal zusammengetragen werden. Dabei wollen wir diese auf den Bereich der empirischen Bildungsforschung übertragen und argumentieren, dass die beteiligten psychologischen Prozesse nicht auf die „Killerspiele-Debatte“ beschränkt sind, sondern ganz allgemein die Darstellung, Wahrnehmung und Bewertung sozialwissenschaftlicher Forschung beeinflussen können.

An der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Öffentlichkeit sind im Wesentlichen drei Akteure beteiligt: die Forschenden als Produzenten von Wissenschaft, die Journalisten, die über Forschung berichten, und die Öffentlichkeit, die solcherlei Berichte rezipiert und bewertet. Typischerweise - wenn auch nicht immer - ist diese Vermittlung ein kommunikativer Prozess, in dem die Journalisten eine Mittlerrolle zwischen den Produzenten und den Rezipienten von Wissenschaft einnehmen (Elmer et al. 2008). Wie wir in diesem Beitrag ausgeführt haben, können strukturelle und psychologische Bedingungen dazu führen, dass es auf dem Weg von einer Forschungsfrage hin zur öffentlichen Meinungsbildung zu Störungen kommt. Diese Störungen sind in Abb. 1 zusammengefasst.

Abb. 1
figure 1

Vom Forschungsgegenstand zur öffentlichen Wahrnehmung: Vereinfachte Darstellung von Bedingungen, die dazu führen können, dass wissenschaftliche Befunde in der Öffentlichkeit verzerrt rezipiert und bewertet werden

Erstens kann es innerhalb des Wissenschaftssystems zu Störungen kommen, etwa aufgrund selektiver Anreizsysteme (Auftragsforschung) oder aufgrund schlechter wissenschaftlicher Praxis (z. B. Bogner und Menz 2006). Auf solcherlei Störungen sind wir im vorliegenden Beitrag nicht genauer eingegangen - sie sind dennoch relevant und erwähnenswert in diesem Zusammenhang. Zweitens kann es aufgrund von strukturellen Eigenschaften innerhalb des journalistischen Systems zu Störungen kommen, etwa wenn Forschung − absichtlich oder unabsichtlich − selektiv, verzerrt oder falsch dargestellt wird (Klimmt et al. 2013; Sowka et al. 2011), oder wenn die Tatsache, dass wissenschaftliche Befunde stets vorläufig und fragil sind, selbst als Argument für die Invalidität des wissenschaftlichen Vorgehens instrumentalisiert wird. Und drittens kann es auch bei den Rezipienten selbst zu Verzerrungen kommen, etwa weil ein Forschungsbefund moralische Wertüberzeugungen oder die soziale Identität bedroht (Nauroth et al. 2014; Rothmund et al. 2013). Diese Störungen und Verzerrungen mögen dafür verantwortlich sein, dass sozialwissenschaftliche Forschungsprogramme und -befunde unter Umständen in der Öffentlichkeit und bei politischen Entscheidungsträgern wenig Beachtung finden (Dovidio und Esses 2007).

In unseren Forschungen haben wir solche Störungen und Verzerrungen am Beispiel der „Killerspiele-Debatte“ untersucht. Diese Debatte bot sich für unsere Forschung an, da es sich zum einen um ein gesellschaftlich relevantes Thema handelt, zu welchem es viele unterschiedliche Forschungsbefunde mit unterschiedlichen methodologischen Herangehensweisen gibt (für einen Überblick siehe Nauroth et al. in Druck). Noch immer wird der Forschungsstand sowohl in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch unter wissenschaftlichen Laien hochgradig konflikthaft und emotional diskutiert (siehe beispielhaft: Bushman et al. 2010; Ferguson und Kilburn 2010). Befürworter eines gesetzlichen Verbots gewalthaltiger Bildschirmspiele instrumentalisieren die Medienwirkungsforschung als Argumentationsgrundlage für ihre Forderungen.Footnote 6 Gegner der Wirkungsthese hingegen greifen häufig die Methodik der Medienwirkungsforschung scharf an und argumentieren, ein wissenschaftlich eindeutiger Beleg für eine kausale entwicklungsschädliche Wirkung gewalthaltiger Bildschirmspiele fehle bislang.

Die emotionalisierte Debatte innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft hat dabei längst nicht mehr die Züge einer diskursiven, ergebnisoffenen, vom Wunsch nach einem besseren Verständnis des Phänomens getriebenen Suche nach Erkenntnis; vielmehr haben sich die Störungen innerhalb des Wissenschaftssystems bereits manifestiert und zu einer Lagerbildung mit stark verhärteten Fronten geführt (Liptak 2010). Unsere Medienanalysen (Sowka et al. 2011) zeigen darüber hinaus, dass eine entsprechende Lagerbildung auch in der medialen Berichterstattung zu beobachten ist. Und sowohl die bereits angesprochene Publikumsumfrage (Sjöström et al. 2013) als auch die experimentellen Studien unter Spielern (Nauroth et al. 2014) und Nichtspielern (Rothmund et al. 2013) zeigen, wie groß die Gefahr ist, dass Forschungsbefunde selektiv und verzerrt wahrgenommen und bewertet werden.

Die Argumente, die wir im Kontext der „Killerspiele-Debatte“ diskutiert haben, sind durchaus auf andere Kontexte übertragbar. So machen Bromme et al. (2014 in diesem Bd.) in ihrem Beitrag deutlich, dass es auch Themen aus dem Bereich der empirischen Bildungsforschung gibt, bei denen es zu Störungen und Verzerrungen auf dem Weg zur öffentlichen Meinungsbildung kommen kann. Wenn beispielsweise empirische Befunde zu Faktoren, die die schulische Leistungsfähigkeit beeinflussen, den Alltagswahrnehmungen von Lehrern, Eltern oder Bildungspolitikern widersprechen (wie etwa der Vermutung, dass die Leistung umso besser sei, je kleiner die Schulklasse ist), dann kann es im „besten“ Fall zum strategischen Vernachlässigen entsprechender Forschungsergebnisse und im schlechtesten Fall zur Diskreditierung der entsprechenden Forschung kommen. Man könnte diesen Konflikt so interpretieren, dass Lehrer, Eltern und andere „motivierte“ Akteure lediglich nach Argumenten suchen, welche ihrer Forderung nach kleinen Klassen (und damit einer individuellen Entlastung der Lehrenden) eine objektivierbare Begründung verleihen. Die Ergebnisse unserer Studien zeigen jedoch, dass die Bewertung von Forschung von Seiten wissenschaftlicher Laien nicht immer bloß eigennutzmotiviert ist, also ein Mittel zum Zweck der Verbesserung der eigenen Situation darstellt. Vielmehr kann empirische Evidenz - oder, wie im Beispiel der Klassengrößen, das Fehlen empirischer Evidenz - für betroffene Akteure eine Bedrohung implizieren. Was ist damit genau gemeint?

Zum einen wäre es denkbar, dass empirische Bildungsforschung, die die standardisierte, quantifizierte Messung von Konstrukten wie Leistung und Fertigkeiten bei Schülerinnen und Schülern zum Forschungsgegenstand macht, bei Lehrenden eine Bedrohung von Wertüberzeugungen impliziert. So hat der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus erst kürzlich in einer PressemitteilungFootnote 7 erklärt, dass „…das Verständnis von Bildung immer mehr auf das Messbare und Testfähige reduziert werde. … Deshalb wird es höchste Zeit, den normierenden Einfluss der Testerei auf das Bildungswesen zu stoppen.“ In einer solchen Äußerung spiegelt sich die (durchaus bedenkenswerte) fundamentale Überzeugung wider, dass eine Quantifizierung von Bildungszielen, Leistung und insbesondere der quantitative Vergleich von Schülerleistungen zwischen unterschiedlichen Staaten oder Bundesländern dem Wert von Bildung nicht gerecht wird. Es handelt sich hier um eine Wertüberzeugung (im Sinne von Tetlock et al. 2000): Wenn „Bildung“ kein quantifizierbares Gut darstellt, dann führt eine quantitative Vergleichsanalyse zu einer verkürzten Darstellung von Bildungsidealen, in der wichtige Aspekte von Bildung unberücksichtigt bleiben. Möglicherweise implizieren bestimmte Interpretationen von Befunden der empirischen Bildungsforschung - gewollt oder nicht - eine Bedrohung dieser Wertüberzeugung. Vielleicht ist es eben diese Bedrohung, die bei Lehrern und Eltern die bisweilen heftige Ablehnung dieser gesamten Forschungsrichtung erklären kann.

Eine weitere Hypothese wäre, dass empirische Bildungsforschung - insbesondere die Schulvergleichs- und die Unterrichtsforschung - aus der subjektiven Sicht der Lehrerinnen und Lehrer eine soziale Identitätsbedrohung impliziert. Wenn deutsche Schüler in den internationalen Tests schlecht abschneiden, fällt das natürlich zumindest teilweise auch auf die deutschen Lehrerinnen und Lehrer zurück, berechtigterweise oder nicht. Und da Lehrerin zu sein eben nicht nur ein Beruf, sondern auch eine soziale Kategorisierung darstellt, aus der man nach der Sozialen Identitätstheorie zumindest einen Teil seiner Selbstwertschätzung zieht, implizieren ungünstige Studienergebnisse aus der Schulleistungsforschung eine Bedrohung der sozialen Identität. Auch dies mag die Kritik des Deutschen Lehrerverbandes an der empirischen Bildungsforschung und die vielen individuellen abwertenden Reaktionen von Seiten deutscher Lehrerinnen und Lehrer auf bildungswissenschaftliche Forschungsprogramme und -ergebnisse erklären.

Die Beispiele zeigen: Auch Bildungsforschung kann „bedrohlich“ sein. Einige dieser subjektiv wahrgenommenen und durchaus unbeabsichtigten, aber implizierten Bedrohlichkeiten können gegebenenfalls durch konzeptuelle Klärungen (beispielsweise das Zugeständnis, dass „Bildung“ sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Komponente hat) im Diskurs mit den Betroffenen entschärft werden. Andere Bedrohlichkeiten erfordern eine bestimmte Art des Umgangs mit den betroffenen Akteuren von Seiten der Wissenschaft. Im Bildungsbereich handelt es sich bei diesen Akteuren (oder „stakeholdern“) um Schüler, Eltern, Lehrer, Schulleitungen, Bildungsadministrationen, Bildungspolitiker, Medien, Bildungsforscher und wahrscheinlich noch einige mehr. Empirische Bildungsforschung sollte versuchen, die Perspektiven dieser unterschiedlichen Akteure zu verstehen und sie in den Prozess der Erkenntnisgewinnung mit einzubeziehen. In der Evaluationsforschung wurde diese „Stakeholder-Perspektive“ als ein zentrales Mittel zur Erhöhung und Sicherung der Akzeptanz von wissenschaftlicher Begleitforschung angesehen (z. B. Patton 1986; Reineke 1991). Dies bedeutet nicht nur, dass empirische Bildungsforschung die Aufgabe hat, ihre Ansätze, Methoden, Ergebnisse und Interpretationen zu erklären (und damit diese auch jenseits der wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu publizieren; siehe etwa Helmke 2012), sondern auch, dass empirische Bildungsforschung - vielleicht stärker als bisher - mit Hilfe einer frühen und aktiven Beteiligung aller relevanter „stakeholder“ aktiv Wissenschaftskommunikation (in beide Richtungen) betreiben sollte. Aus der Forschung zur Verfahrensgerechtigkeit weiß man, dass häufig die bloße Möglichkeit für die Betroffenen, ihre Meinung zu äußern und gehört zu werden, ausreicht, um die Akzeptanz für eine getroffene Entscheidung maßgeblich zu erhöhen, selbst dann, wenn diese Entscheidung letzten Endes zu Ungunsten der Betroffenen ausfällt (siehe z. B. Lind und Tyler 1988). Partizipative Bildungsforschung könnte nicht nur die Akzeptanz für die Forschung selbst erhöhen, sondern auch die subjektive Bedrohung der sozialen Identität abschwächen helfen. Wenn Lehrkräfte von der Bildungsforschung als Praxisexperten ernst genommen werden, entstehen bessere Voraussetzungen, die Befunde der Forschung offen und unvoreingenommen zu diskutieren und zu bewerten. Erst dann kann es gelingen, aufbauend auf solider wissenschaftlicher Forschung im Konsens positive Veränderungen im Bildungswesen zu entwickeln.

5 Fazit

Die Forschung zur Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Öffentlichkeit und zum Umgang der Öffentlichkeit mit wissenschaftlichen Ergebnissen ist insbesondere in jüngster Zeit selbst zu einem Forschungsgegenstand in der Kommunikationswissenschaft, aber auch in der Medienpsychologie geworden (Schäfer 2009; Weigold 2001). Das Internet als Möglichkeit für wissenschaftliche Laien, ohne die vermittelnde Rolle der Medien direkt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu suchen, und als Möglichkeit für Wissenschaftler, ihre Befunde selbst medial für ein größeres Publikum aufzubereiten, hat neue Chancen, aber auch neue Risiken geschaffen. Ein zentrales Risiko besteht in der verzerrten Darstellung, Wahrnehmung und Bewertung von Forschungsprogrammen und -befunden.

Eine mögliche Strategie, die sich von Seiten der Forschenden anwenden ließe, um die Akzeptanz sozialwissenschaftlicher Forschungsprogramme und -befunde zu erhöhen, wäre, wie vorhin dargestellt, die von der entsprechenden empirischen Evidenz mittelbar und unmittelbar Betroffenen stärker an der Erläuterung, aber vielleicht sogar an der Planung eines Forschungsprogramms zu beteiligen. Diese Strategie könnte helfen, Verzerrungen durch Bedrohungswahrnehmungen abzumildern. Sie könnte im Übrigen in Verbindung mit anderen Ansätzen zur Erhöhung der „scientific literacy“ in der Öffentlichkeit kombiniert werden (Gräber et al. 2002; Miller 1983).

Auf einer höheren Abstraktionsebene machen diese Überlegungen deutlich, dass die Bedeutung wissenschaftlicher Forschungsprogramme und -befunde im öffentlichen Diskurs neu ausgehandelt werden muss. Die Wissenschaft muss sich der Ansprüche, die die Öffentlichkeit (einschließlich der Medien und politischer Entscheidungsträger) an sie stellt, bewusst sein. Und umgekehrt wäre es wünschenswert, wenn die Öffentlichkeit weiß, was sie von der Wissenschaft erwarten kann und was nicht.