Der Begriff der Bildung umreißt einen relationalen Prozess, in dem sich Auseinandersetzungen zwischen Subjekt und Welt und Welt und Subjekt vollziehen. Die Aneignung unterschiedlicher Formen praktischen und theoretischen Wissens wird von Gefühlen ermöglicht, unterstützt, aber auch begrenzt. Diese bilden sich im Verlauf des Aufwachsens in Interaktionen mit anderen Menschen, Dingen sowie Räumen und werden zeitlebens weiterentwickelt. Aufwachsen ist also stets auch ein Hineinwachsen in Kulturen der Gefühle, die zwischen Generationen und innerhalb von Generationen in je spezifischer Weise ausgearbeitet werden. Im Jugendalter spielt in diesem Prozess neben der Familie die Gleichaltrigengruppe eine besondere Rolle, da sie in ausgeprägter Form Möglichkeiten bietet, verschiedene Formen von Weltverhältnissen zu erproben. In den Gruppen Gleichaltriger, die nicht nur die unmittelbaren Freunde umfassen, sondern auch Jugendliche ähnlichen Alters, welche die gleichen Institutionen formeller und informeller Bildung oder ähnliche Sozialräume nutzen, werden über die Verhandlung von Körperinszenierungen, Identitäten und Werten hinaus Gefühle gebildet und Möglichkeiten bereitgestellt, diese zu modellieren und zu transformieren.

Im Folgenden wird die Bildung der Gefühle am Beispiel einer Mädchenclique untersucht und dabei deren liebste Freizeitbeschäftigung in den Blick genommen. Schon seit mehreren Jahren tanzen diese drei Mädchen zusammen Streetdance, eine Mischung aus Break-, Jazz- und orientalischem Tanz, und treten regelmäßig mit eigenen Choreographien auf verschiedenen Festen in öffentlichen Räumen auf. Vor allem einer dieser Tanzauftritte wird im Folgenden analysiert und dabei vorrangig auf das Subjekt als Teil einer Gruppe und auf die Interaktionen im Kontext fokussiert. In einem ersten Schritt werden aktuelle Positionen der Bildungstheorie und der Emotionsforschung sowie Anschlussstellen zwischen beiden Diskursen aufgezeigt und die methodische Anlage des Beitrags vorgestellt. Um die Bildung der Gefühle empirisch in den Blick zu nehmen, werden in einem zweiten Schritt die Gefühle und deren Modulationen innerhalb der Peergroup betrachtet und die Entstehung des Neuen im Bildungsprozess bezogen auf die Bedeutung der Gefühle auf der Grundlage der Auswertung visueller und sprachzentrierter Methoden untersucht. Ein Fazit, in dem die Bildung der Gefühle zwischen Kontinuität und Wandel angesiedelt wird, schließt den Beitrag ab.

1 Bildung der Gefühle: theoretische und ethnographische Zugänge

Das Verhältnis von Ich und Welt, in welchem der Bildungsprozess situiert ist, kann auf drei Ebenen angesiedelt werden, welche Jan Masschelein und Norbert Ricken folgendermaßen umreißen: Erstens beschreibe der Begriff „Bildung“ die Formation des Selbst im Verhältnis zu sich selbst, in dem Sinne, dass dieses als stets (notwendig) erneuerbar aufgefasst werde; zweitens werde Bildung als Verhältnis des Selbst in Relation zu anderen und drittens im Verhältnis zur Welt begriffen. Diese Welt sei bereits vor dem sich bildenden Subjekt vorhanden und biete sich selbst als Objekt an (Masschelein und Ricken 2010, S. 130). Bildung fassen diese Autoren als paradoxen Prozess, der zwischen Wandlung und Überschreitung und zwischen Unterworfen-Werden und Sich-Selbst-Unterwerfen angesiedelt ist (ebd.). Dabei stellen sie jenem Diskurs um Bildung, der v. a. die Aktivität des Menschen in der Auseinandersetzung mit der Welt betont,Footnote 1 das existentielle Ausgeliefertsein des Menschen an andere und damit dessen Verletzlichkeit entgegen.

Auf eben diesen Ebenen von Selbst, Anderen und Welt lassen sich auch die Emotionen ansiedeln, wie von Scheve (2011) aus einer soziologischen Perspektive darlegt. Erstens sei der einzelne Akteur in seinem Handeln und Denken stets grundlegend auf Emotionen angewiesen. Das gelte ebenso für seine kognitiven Fähigkeiten und rationalen Entscheidungen wie auch für das Handeln im Alltag und in sozialen Situationen, welches auf routinisierten und habitualisierten „Entscheidungen“ beruhe. Zweitens sorgten Gefühle – konkreter oder virtueller Art – in Gruppen für deren Zusammenhalt, indem sie die einzelnen Akteure über das konkrete Zusammensein mit den anderen Mitgliedern hinaus an diese Gruppe bänden. Auch auf der dritten Ebene, welche der Soziologe als die der sozialen Normen begreift, kommt den Emotionen eine zentrale Bedeutung zu. Sie seien, so resümiert von Scheve, unerlässlich bei der Aufrechterhaltung und Durchsetzung bereits etablierter Normen, Konventionen und bestehender symbolischer Ordnungen, denn Sanktionen wirkten nicht aufgrund materieller Konsequenzen, sondern wegen ihrer negativen affektiven Besetzung.

So binden also die Gefühle das Subjekt in einer spezifischen Weise an seine Gegenüber und an die Welt. GefühleFootnote 2 sind, wie Demmerling und Landweer (2007) herausarbeiten, Widerfahrnisse, die dem Subjekt ohne dessen konkretes Zutun geschehen und von denen es sich nicht distanzieren kann. Gefühle stoßen den Subjekten zu, weil sie den Leib einbeziehen:

Man ist von Gefühlen subjektiv betroffen, das heißt, dass sie einen leiblich-affektiv ergreifen. Die Innen-Außen-Metaphorik ist ungeeignet, um Gefühle zu beschreiben. Durch die leibliche Ergriffenheit von Gefühlen sind sie zugleich mit ihrer Subjektivität auch sozial-objektiv, insofern Gefühle durch die leiblichen Richtungen mit den Gefühlen anderer interagieren können. Die Auffassung von Gefühlen als Bewusstseinsphänomenen muss im Grunde dualistische Vorstellungen voraussetzen und wiederholt die problematische Geist-Körper-Hierarchie. Gefühle sind Ganzheiten, die zwar mit Gedanken und Wünschen zusammenhängen, aber nicht auf diese reduzierbar sind. (ebd., S. 33)

Wenn auch die Situation, in welcher Gefühle das Subjekt ergreifen, eine zentrale Rolle spielt, haben sie darüber hinaus stets eine Vorgeschichte und sind Bestandteil der persönlichen Situation des oder der Fühlenden (ebd., S. 32).

Bildungstheorie neuerer Provenienz, auch wenn sie sich bislang noch wenig mit dem Thema der Gefühle befasst hat,Footnote 3 schließt an diesen doppelten Charakter von Gefühlen an. So fordert etwa Hans-Rüdiger Müller, die Frage nach dem Gefühl und dessen Interpretation und damit die Beziehung zwischen Leib- und Geist-Komponente des menschlichen Lebens selbst als zentrales Bildungsproblem aufzufassen. Der doppelte Charakter von Gefühlen, in denen Leibempfinden und Sinnbezug zum Denken verschränkt seien, machten ihren besonderen Stellenwert im Bildungsprozess aus (Müller 2003, S. 98). Bildungstheorie und Bildungsforschung, die nicht allein die Aktivität des Subjekts in den Mittelpunkt stellen, sondern die spezifische Verbindung von Widerfahrnis und Tun in der Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt einzubeziehen beanspruchen, können also auf eine Reflexion über die Bildung der Gefühle nicht verzichten, in welcher sowohl das Subjekt, die Gruppe wie die sozialen Normen in den Blick genommen werden.

Für eine bildungstheoretisch fundierte qualitative Bildungsforschung hieße dies, mehr als bislang Interaktionen und deren körperliche Komponenten in ihrem Kontext, in der Auseinandersetzung des Subjekts mit anderen, mit Dingen und Räumen und die in diesem Geschehen aufgehobenen Ereignisse genauer zu betrachten.Footnote 4 Bildung bleibt aber auch in einer empirischen Perspektive ein abstrakter Prozess, der als solcher nicht zu fassen ist, sondern dem sich allein unter dem Vorzeichen einer Heuristik angenähert werden kann. Ob Bildung geschieht oder nicht, ist nicht zu beobachten, aber die Kontexte, in denen etwas geschehen könnte oder tatsächlich geschieht, das Bildung genannt werden kann, die Handlungen der Einzelnen und die Gruppen, die mit diesem Geschehen im Zusammenhang stehen, lassen sich betrachten oder von den Beteiligten selbst erzählen. In der Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt spielen die Körperlichkeit des Menschen und seine Fähigkeit zur Symbolisierung eine wichtige Rolle. Deshalb wird eine sprachzentrierte, auf die eine Gruppe bezogene methodische Herangehensweise mit einer visuellen kombiniert, die Sprache, Körper und Interaktion im Raum einbezieht und ethnographisch vorgegangen.

In der teilnehmenden Beobachtung, die den Kern jeglicher ethnographischen Forschung bildet (Beer 2007; Friebertshäuser und Panagiotopoulou 2010), wurde eine Gruppe befreundeter Mädchen im Kontext eines Mädchenladens vor, während und nach dem Auftritt auf einem Jugendkulturfestival begleitet und das Beobachtete im Nachhinein notiert.Footnote 5 Im Fokus der Aufmerksamkeit standen die Dynamiken in der Interaktion der Mädchen untereinander, jene mit den Sozialarbeiterinnen und die mit anderen Jugendlichen und darüber hinaus Interaktionen mit Artefakten. Interaktionshöhepunkte, entspannte und angespannte Situationen und damit Stimmungen in der Gruppe wurden so beobacht- und beschreibbar und die zeitliche Organisation von Handlungen und Prozessen im Kontext der sie beeinflussenden Räume wurde rekonstruierbar. Die Unterscheidung zwischen der ersten und der dritten Person war dabei sorgfältig zu reflektieren. Was aus der Perspektive der dritten Person beobachtet wird, muss nicht mit den Gefühlen der beobachteten Person übereinstimmen: Der Gefühlsausdruck kann zwar anhand von Mimik und Körperbewegungen interpretiert werden. Bezogen auf die Perspektive der dritten Person sollte jedoch bedacht werden, dass das Ausdrucksverhalten, das beobachtet wurde, auch gespielt sein kann oder ein entsprechendes Verhalten nicht gezeigt wird, obwohl ein Gefühl dennoch vorausgeht. Das Gleiche gilt allerdings auch für die eigenen Gefühle: Einen unmittelbaren Zugang zu diesen gibt es nicht. Eine empirische Untersuchung von Gefühlen ist also stets darauf angewiesen, dass andere ihre Gefühle beschreiben (Demmerling und Landweer 2007, S. 24).

Auch deshalb führte ich einige Tage nach dem beobachteten Tanzauftritt eine Gruppendiskussion mit den drei befreundeten Mädchen im Mädchenladen durch. Diese eröffnete ich mit der Frage „Wie hat euch eurer Auftritt gefallen?“, setzte also, wie in der Ethnographie üblich, am unmittelbar Erlebten an, um später zu der Geschichte der Gruppe überzuleiten. Ausgewertet wurde diese ausführliche Diskussion mit der dokumentarischen Methode, da auf diese Weise gemeinsam geteilte Orientierungen und die teilweise in der Gruppe gebildeten habituellen Dispositionen analysiert werden können (Bohnsack 2010). In der Gruppendiskussion werden Gefühle zum einen konkret benannt, zum anderen werden sie anhand der Diskursorganisation und Passagen hoher interaktiver Dichte herausgearbeitet.

2 Zwischen Freude, Angst und Scham: Die Peergroup als Schule der Gefühle

Gresa und Mandy sind 16, Sherise 15 Jahre alt und alle drei tanzen seit sechs Jahren gemeinsam.Footnote 6 In verschiedenen Jugendzentren nahmen sie an Tanzkursen und damit verbunden an unterschiedlichen Aufführungen teil. Aktuell tanzen sie selbstständig in einem Mädchenladen, einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe in einem Innenstadtquartier Berlins. Dort nutzen sie einen Raum, in dem sie ihre Choreographien selbstständig einüben, und werden von den beiden Sozialpädagoginnen in der Organisation ihrer Auftritte und teilweise bei den Belangen des täglichen Lebens unterstützt. Sherise und Gresa sind Kusinen, deren Eltern Mazedonien und Albanien verließen, als die beiden Kleinkinder waren. Seitdem leben die Familien, in denen albanisch gesprochen wird, mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Berlin. Mandy und auch ihre Eltern sind in Berlin geboren.

Im Vorfeld der Feldforschung hatte eine Sozialpädagogin des Mädchenladens Lavina von einem Jugendkulturfestival erfahren, die Mädchen zum öffentlichen Auftritt ermutigt und am entsprechenden Tag mit einem Bus der Jugendeinrichtung zu dem Festival gefahren. Auch bei der letzten Probe der drei inmitten der anderen auftretenden Gruppen im Umkleideraum ist die Sozialpädagogin anwesend und versucht die Tänzerinnen, die immer aufgeregter werden, zu beruhigen, was ihr aber nicht gelingt. Obwohl die Mädchen als Gruppe, die sich auf dem Festival die Lavinas nennen, bereits Erfahrungen mit Tanzauftritten in unterschiedlichen Kontexten gemacht haben und wissen, wie es ist, auf der Bühne zu stehen, gerät dieser Auftritt zu etwas Besonderem, wie die Mädchen in der Gruppendiskussion berichten.

Interviewerin::

Wie ist das mit den Zuschauern, wie ist das mit dem Gefühl, wenn ihr auftretet?

Sherise::

@(2)@

Mandy::

⌊ Also ich weiß eigentlich nich, also bei mir is am Anfang so, dass ich erst mal, ähm, wenn wir irgendwo auftreten, ich mags lieber, wenn wir erst vorher reingehen und erst mal so: uns die Gesichter angucken und erstmal die Atmosphäre so unter Augenschein nehmen? u:nd ä:hm dann später halt auftreten, wenn wir die aber schon alle gesehen haben, is für mich persönlich besser, aber ich weiß nicht so Lampenfieber in dem Sinne haben wir glaube ich gar nicht.

Gresa::

⌊ Oh nee, bei mir is anders, bei mir is eigentlich so, weil ich freu mich sehr wenn ich nen Auftritt habe, dann freu ich mich sehr halt drauf und dann wenn ich auf der Bühne bin gucke ich mir erst mal auch alle Gesichter an und merke oh Gott was mach ich hier, werd sehr nervös und eigentlich is es ein sehr schönes Gefühl, wenn du auf der Bühne bist, aber dann irgendwie (1) auch anders, du hast Angst, dass du was vermasselst, du schwitzt an den Händen, halt so was, Lampenfieber, wie man da sagt. Bei diesem Auftritt war=s ganz anders irgendwie bei mir. Als wir da hingegangen sind ich hab mich schon geschä:mt so halt. Ich (1) wir kommen da rein, ich auch so wie Mandy schon gesagt hat, ich guck mir erst mal alle Gesichter an und dann man hat auch gemerkt, dass da voll gute Stimmung war, jeder hat geklatscht, ob es schlecht is oder gut und dann (2) halt die Zeit hat gedrängt. Die haben uns die ganze Zeit so ihr seid dran, ihr seid dran, ihr seid dran, kommt jetzt, kommt jetzt. So, obwohl wir den festen Zeitpunkt hatten um achtzehn Uhr dreißig und die haben uns immer gepiekst, kommt jetzt, kommt jetzt, wir warten auf euch und dis war halt (1) ich wusste nicht mehr wo links und wo rechts is. Ich wusste nicht mehr meine Choreographie, ich wusste nur ein Teil meiner Choreographie und dann bin ich halt durcheinander gekommen @(1)@ und dann hab ich „aufgehört“.Footnote 7

Die Interviewerin fragt in dieser Passage der Gruppendiskussion explizit nach dem Gefühl während des Auftretens allgemein, und das Lachen von Sherise, die sich im Anschluss nicht mehr zu Wort meldet, zeigt, dass damit ein wichtiges Thema angeschnitten worden ist. Mandy steigt ein, wenn sie auch vorweg einschiebt, dass sie keine Antwort auf die Frage wisse, dann jedoch sehr dezidiert den Entwurf der idealen gemeinsamen Modulation von Gefühlen in der Gruppe vor Auftrittsbeginn skizziert. Sie ziehe es vor, wenn die Gruppe gemeinsam vor dem eigentlichen Auftritt in den Bühnenraum gehe und die Stimmungen der dort bereits versammelten Menschen auf sich wirken lasse. Für Mandy sind es deren Gesichter, die Auskunft über sie als Publikum und damit über die potentiellen Interaktionen mit ihnen geben. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass sie dann, wenn sie zusammen mit ihren Freundinnen vor dem Auftritt in die Atmosphäre vor Ort eintauche, auch mit den Herausforderungen beim Auftritt umgehen könne. Ihren Freundinnen unterstellt sie zunächst eine ähnliche Gelassenheit.

Dies dementiert Gresa allerdings und skizziert im Gegensatz dazu eine für sie selbst typische Abfolge von Freude und Angst, mit der sie ihre Auftritte beginne. Nachdem die Vorfreude, die sich bei ihr offensichtlich stets einstellt, sie mit einem Gefühl, das den Körper weitet, auf die Bühne treten lässt, schaut sie sich ebenfalls erst einmal die Gesichter der Zuschauenden an. Ausdruck und Ausrichtung der Gesichter machen ihr jedoch die eigene herausgehobene Position deutlich, was ihr anfängliches Gefühl in sein Gegenteil transformiert. Sobald sie also über das, was sie tut, nachdenkt, ist sie ihrer Angst, welche sich im Schwitzen der Hände äußert, und letztendlich der Situation ausgeliefert.

An dem besagten Tag habe sie sich aber bereits beim Gang auf die Bühne geschämt, ein Gefühl, das ebenso in einem starken Kontrast zur Freude steht. Scham transportiert sich besonders über Blicke, die bei einem Auftritt diesseits und jenseits der Bühne von zentraler Bedeutung sind: Empfindet man Scham, so wird der Blick gesenkt, weil die Blicke der anderen nicht ausgehalten werden können (vgl. auch Demmerling und Landweer 2007, S. 219). Wertenbruch und Röttger-Rössler definieren im Kontext ihrer Ethnographie einer Berliner Oberschule, in der sie v. a. das Verhandeln von Zugehörigkeiten unter Gleichaltrigen untersuchen, dieses Gefühl wie folgt: „Scham lässt sich folglich als eine Form ‚sozialer Angst‘ verstehen, der Angst, vor den Augen der anderen zu versagen, den sozialen Erwartungen nicht zu entsprechen und sich dadurch eine Blöße zu geben. Als soziale Angst stellt Scham eine emotionale Dimension dar, die in besonderer Weise Konformität befördert (Wertenbruch und Röttger-Rössler 2011, S. 242)“. Scham entstehe, wenn gegen eine Norm verstoßen wird, die eigentlich anerkannt werde, und wenn dieser Verstoß von anderen, die als „relevante Andere“ (ebd., S. 245) eingeschätzt werden, bemerkt wird. Sie fügen hinzu, dass besonders Heranwachsende für Schamgefühle empfänglich seien.

Was für Gresa bei diesem Auftritt eine besondere Herausforderung darstellt, ist das Zeitmanagement des Festivals, für welches Sozialpädagoginnen und -pädagogen aus anderen Jugendprojekten verantwortlich sind. Die Moderatorin hält sich nicht an die Absprachen und ruft die Mädchen öffentlich fast eine dreiviertel Stunde früher auf die Bühne als abgesprochen und wiederholt dies noch einige Male. Die bei Auftritten sehr erfahrene Gresa kommt so in eine Situation, in der sie nicht nur das Gefühl hat, sie könne vor aller Augen versagen, sondern als habe sie bereits versagt: Dadurch, dass die drei schon mehrmals namentlich angekündigt waren, die Bühne jedoch noch nicht betreten haben, muss es für die Zuschauenden so erscheinen, als hätten die drei etwas versäumt. Gresa erkennt also die Regeln des Jugendkulturfestivals, die das pünktliche Erscheinen und Auftreten beinhalten, an, und schämt sich, da sie – wenn auch nur anscheinend – vor aller Augen gegen diese verstoßen hat. Besonders für Gresa, die äußert, an den Berliner Streetdance-Meisterschaften teilnehmen und später professionelle Tänzerin werden zu wollen, ist der Umgang mit dem Gefühl der öffentlichen Beschämung schwierig.

Schon im Vorfeld des Auftritts ist die Stimmung unter den Mädchen sehr angespannt, und tatsächlich misslingt er.

Als sie endlich in den Auftrittsraum gehen und sich am Eingang aufstellen, sind noch jüngere Streetdancerinnen in einheitlichen roten Trikots an der Reihe. Als diese ihren Auftritt beendet haben, betreten die Lavinas die Bühne und beginnen ihren Tanz. Doch bereits nach kurzer Zeit kommt Gresa ein paar Mal aus dem Takt und als dann noch die CD mit ihrer Musik den immer gleichen Takt wiederholt, rennt sie von der Bühne. Die beiden anderen tanzen noch weiter, gehen dann aber auch früher als geplant von der Bühne ab. Als ich in die Umkleide komme, redet Duygu auf Gresa ein, dass diese wieder herauskommen solle. Die anderen seien doch viel jünger und das werde nie etwas, wenn sie sich bei einem Rückschlag gleich von der Bühne zurückziehe. Sie seien doch stark. Duygu sagt dies in einem sehr kämpferischen Ton und tatsächlich steht Gresa auf und geht wieder in den Bühnenraum. Ich erfahre, dass ein battle mit den Mädchen, die vorher getanzt haben, stattfinden soll. Bald stellen sich die Lavinas rechts und die Mädchen in ihren roten Trikots, die vor ihnen aufgetreten waren, links von der Bühne auf. Gresa eröffnet das battle mit einer Figur, die Gegnerin zieht nach. Als der Wettkampf eine große Dynamik entfaltet, macht sie ihrer Kusine Sherise ein Zeichen mit der Hand. Diese steht auf und winkt wiederum einem Mädchen aus der gegnerischen Gruppe zu, die auch auf die Tanzfläche kommt. Die beiden tanzen jetzt gegeneinander.

Um der Scham, die diesen Auftritt einläutete und durch das Aufgeben vor aller Augen noch intensiviert wurde, zu begegnen, organisieren zwei mit den drei Freundinnen bekannte, ein paar Jahre ältere Mädchen, die ebenfalls regelmäßig den Mädchenladen besuchen und zur Unterstützung der Lavinas selbstständig zu dem Jugendkulturfestival gefahren sind, ein Streetdance-Battle mit der Gruppe jüngerer Tänzerinnen, die unmittelbar vor ihnen aufgetreten sind. Die älteren Mädchen, v. a. Duygu, aber auch Sinem, die immer in der Nähe von Duygu bleibt, übernehmen also Verantwortung für die Gefühle der Mädchen. Duygu schlägt Gresa die Möglichkeit vor, mit der Gruppe vor ihnen ein battle durchzuführen, in dem die Chance besteht, dem anfänglichen Gefühl der Lavinas, aber v. a. dem der ehrgeizigen Gresa eine andere Richtung zu geben. Die Peergroup schafft so einen rituellen ästhetischen Rahmen, damit die Scham nicht das letzte dominante Gefühl bei den Lavinas darstellt und der Bühnenraum durch sie wieder eingenommen werden kann. Der Plan gelingt und bei der gemeinsamen Rückfahrt, an der Duygu und Sinem auch teilnehmen, sind alle fünf ausgelassen, rufen sich den Wettkampf immer wieder in Erinnerung und vermuten, dass jetzt alle mit ihnen Wettkämpfe machen wollen. Am Schluss öffnen sie sogar die Fenster und rufen fröhlich und lautstark heraus. Gresa hat sich der Schulung der Gefühle durch die älteren Peers anheim gegeben; etwas hinzugewonnen haben darüber alle Beteiligten.

3 Das Neue, seine Entstehung im Bildungsprozess und die Gefühle

Nachdem die Mädchen jahrelang Choreographien eingeübt haben, in welchen ihre drei Körper in Reihen hintereinander kleinste synchrone Bewegungen vollziehen, arbeiten sie im battle mit einer Art des Tanzens, die zwar auch einer strengen Form verpflichtet ist, in deren Kontext jedoch Improvisationen der einzelnen Tänzerinnen unabdingbar sind. Eine individuelle Performance wird zum einen gefordert und zum anderen eingeübt. Die Tanzfiguren, die notwendig sind, um ein battle zu bestehen, wurden sukzessive im Rahmen der Gleichaltrigengruppe und der mit dieser eng verwobenen Populärkultur angeeignet und weiterentwickelt.

Interviewerin::

Wann habt ihr das zum ersten Mal gemacht?

Mandy::

Schon vor dem Film auf jeden Fall, also sie macht das meistens.

Gresa::

Ja, ja ich habs eigentlich mehr oder weniger von äh, weil ich wusste ja, (dass es nicht mehr gibt). Also mein kleiner Bruder hat mir auch immer gezeigt so battle, battle, battle, weil ich kannte ja halt nur Streetstyle, äh Streetdance, Breakdance und so was halt. Jazz, Ballet und so was konnt ich halt. Aber der battle is erst vor kurzem wieder raus gekommen so. Als dieser Film Streetstyle rausgekommen is wurde es bekannt so battle. Ich dachte mir okay, ich hab den Film angeguckt, er hat mir voll gefallen. Und dann habe ich irgendwie Djamila gesehen, dass sie das tanzt battle so. So mit Tricks so halt, beleidigen und so. Weil du kannst auch jemanden seine (5) @kann ich ja nicht benutzen diese Ausdrücke@ ja? Halt seine Fotze aufreißen (und dann halt als Vibrator) – is doch das gleiche als wenn du Looser-Zeichen oder den Mittelfinger zeigst. Ja, so was halt. Und dann hab ich’s von ihr gelernt und ich hab gesehen wie sies tanzt, weil ich konnte nur Choreographie tanzen. Und dann ich hab so gesehen battle, dann hab ich’s nen bisschen so abgeguckt, mir nen bisschen Tricks auch selber ausgedacht. Dann irgendwie hab ich, die Schritte, die sie getanzt hat, hab ich von ihr alles abgeguckt und so hab ich, hab ich dann gegen sie getanzt und hab sie mit ihren eigenen Tricks fertig gemacht. So ist das. Du guckst bei jemanden ab und macht sie damit fertig. Halt so. Also hab ich zumindest gemacht, weil ich konnte dis nicht. Hat sie mir sie selber gezeigt, war ihr Fehler und jetzt benutze ich sie gegen sie. Aber sie hats trotzdem besser drauf, weil

Mandy::

⌊ Nein.

Gresa::

⌊ Do-, also, man kann nicht sagen, man kann nicht sagen, weil ich tanze anders Stil, weil sie tanzt anders, aber sie hat mehr drauf als ich, Mandy. Beim battle auf jeden Fall.

Mandy::

⌊ Ich finde nicht, dass sie besser tanzt, weil ganz einfach bei Gresa sieht man, dass sies macht, weil sie Spaß hat daran. Weils ihr einfach gefällt, weil’s nen Stück zu ihrem Leben gehört, aber Djamila machts, also dieses Mädchen machts halt nur, dis sieht man auch, ähm damit sie im Mittelpunkt ste:ht, damit alle sie angucken und bewundern und deswegen find ich, dass Gresa das besser macht. Weil man sollte nicht tanzen, um im Mittelpunkt zu stehen oder um zu zeigen was man kann, sondern weil’s einem Spaß macht (4) Mag sein, dass sie mehr drauf hat, aber besser tanzen tut sie nicht.

Das battle sei, so äußert sich Mandy, bereits bekannt gewesen, bevor die Mädchen ihm im Rahmen der medial vermittelten Populärkultur begegneten. Danach gibt sie gleich das Wort an Gresa als Spezialistin für den Tanzwettkampf weiter. Diese berichtet, ihr kleiner Bruder habe ihr die Form des battles, die er im Kontext des Breakdance praktizierte, gezeigt. Bekannt wurde das battle aber erst danach über den Film Streetstyle,Footnote 8 der ihr sehr gefallen habe. Konkret gelernt, nicht mit-, sondern gegeneinander zu tanzen, habe sie aber von Djamila und sich von ihr auch die pantomimischen Formen des gegenseitigen rituellen Beleidigens angeeignet. Sie beginnt, mir diese von ihr so genannten „Tricks“ zu erläutern, stoppt sich selbst jedoch zunächst, wohl weil ihr bewusst wird, dass sie sich nicht nur unter Gleichaltrigen befindet, kommt dann aber doch zu dem Ergebnis, dass von diesen Dingen auch im Kontext der Gruppendiskussion erzählt werden könne. Sie redet davon, das Geschlechtsteil der anderen, für das sie die pejorative Bezeichnung „Fotze“ benutzt, gewaltsam zu öffnen und dann einen Vibrator in nicht näher beschriebener Weise zur Anwendung zu bringen.Footnote 9

Sie stellt diese Geste dann allerdings mit einem mit den Fingern angedeuteten „L“, das sie Looser-Zeichen nennt, und mit dem Zeigen des Mittelfingers auf eine Ebene. Dass die beiden letzteren Teil eines mehr oder weniger allgemein bekannten, kulturellen Repertoires sind und von vielen der eigenen und der vorangegangenen Generationen dechiffriert werden können, das von ihr als „Aufreißen der Fotze“ dargestellte Bild allerdings nicht, bezieht sie nur bedingt in ihre Überlegungen ein. Gresa tanzt, nachdem sie sich die agonale Form des Tanzes im Rahmen der Peergroup angeeignet hat, erstmals öffentlich ein battle und unterschätzt, so lässt ihre Darstellung der „Tricks“ hier vermuten, dessen provokatives, obszönes und aggressives Potential außerhalb der Peergroup.

Die Aneignung dieses praktischen Wissens ist mit seiner Weiterentwicklung verbunden, denn nachdem sie sich die Tanzfiguren von Djamila „abgeguckt“ hat, habe sie diese mit deren und mit weiteren eigenen Figuren herausgefordert und dabei, so berichtet sie zumindest, Erfolg gehabt. Nachdem das Wissen von der älteren und erfahreneren Djamila an die etwas jüngere Gresa weitergegeben worden ist, werden die beiden also Konkurrentinnen, was Gresa mit einem vagen Unrechtsbewusstsein berichtet. Allerdings erweist Gresa der Älteren dann die ihr – in ihrer Meinung offensichtlich zustehende – Ehre und äußert ihren Freundinnen und mir gegenüber, dass Djamila weiterhin besser tanze. Als Gresa diese Aussage begründen will, fällt Mandy ihr ins Wort und verneint diese vehement, was erstere nicht gelten lässt und stattdessen erläutert, dass sie unterschiedliche Stile hätten, aber Djamila beim battle immer noch im Vorsprung sei. Doch ihre Freundin Mandy insistiert weiterhin und führt ein neues Kriterium ins Feld: die Art und Weise, wie die Mädchen sich selbst zum Tanz – und damit zur Welt – ins Verhältnis setzten. Gresa liebe den Tanz um des Tanzes Willen und lebe diesen. Ihre Gegnerin Djamila, von der sich Mandy auch sprachlich distanziert, tue es, um von anderen gesehen zu werden. Etwas um der Sache Willen zu tun, markiert Mandy so als zentrale Bildungsaufgabe.

Gresas insgesamt zurückhaltendere Kusine hat noch niemals ein battle geübt oder gar getanzt. Trotzdem steigt Sherise wenig später an der Seite ihrer Kusine Gresa in den Wettkampf ein, ruft ebenso eine Gegnerin zu sich und wirft zum Schluss sogar in einer theatralen Geste ihr weißes Basecap in großem Bogen auf den Boden und tritt darauf. Die Spontaneität ist einerseits durch das Gefühl der Wut motiviert, andererseits ermöglicht ihr diese Aufführung auch das Zeigen und Durchleben dieses Gefühls.

Interviewerin::

Wie ist das denn bei dir gewesen Sherise? Du hast auch gebattelt?

Sherise::

Ja.

Interviewerin::

Woher kanntest du das?

Sherise::

Auch vom Film. Und von ihr hab ich is gesehen halt, als sie mit jemanden anderen getanzt hat, dann konnt ich dis halt.

Interviewerin::

Hast du es mal geübt, battle?

Sherise: Hmhm (verneinend). Ne, hmhm. Ich war halt wütend irgendwie und ich musste halt. Ich konnte die Regeln aber ich musste einfach loslassen. Ich war halt an dem Tag wütend.

Interviewerin::

Warum warst du wütend?

Sherise::

Ich weiß nicht, weil sie sie fertig gemacht haben und sie die auch so, da musste ich die halt auch fertig machen.

Gresa::

Weil sie hat, ich wurde ja selber wütend. Ich hab gemerkt, dass sie auch is und ich konnte wirklich nicht mehr. Meine Füße waren tot, wie soll man sagen. Dann hab ich sie rein gerufen und ich wusste eigentlich, dass sie das nicht kann, weil sie hat noch nie, ich hab sie noch nie so richtig battle tanzen sehen. Ich hab sie noch nie so, halt Bauchtanz oder so, so mit shaken und so okay. Dann ich seh sie, @sie flippt da voll aus@ @5@

Mandy::

⌊ Alle haben geschrien, Ey es war so (). Ich schwöre.

Sherise::

⌊ O Gott.

Sherise führt ihr plötzliches Können auf das bloße Betrachten der Tanzform battle zurück und bekräftigt, dass sie diese niemals ausprobiert habe. Als Begründung für die Diskrepanz – etwas vor Publikum aufzuführen, was man selbst nicht ein einziges Mal geübt hat – führt sie die Wut ins Feld und präsentiert ihre eigene Aufführung als zwingend und alternativlos. Scham und Wut sind Gefühle, die sehr eng beieinander liegen, denn Scham kann in Wut und Wut in Scham überführt werden, so dass in diesem Zusammenspiel viel Energie freigesetzt wird.Footnote 10 Mit theoretischem Wissen, einer Struktur und den Regeln ausgestattet, konnte Sherise durch das Gefühl der Wut getragen, welches eine Beschämung parierte, selbst die Kontrolle aufgeben. Explizit nach dem Grund für die Wut befragt, erläutert Sherise: Weil die gegnerische Gruppe den Kampf ernst nahm, fühlte sie sich genötigt, es ihnen gleichzutun und sich zusammen mit ihrer Kusine auch als richtige Gegnerin zu erweisen. Woher die Verpflichtung dazu kommt – ob über Freundschaft oder Verwandtschaft – bleibt offen.

Gresa schaltet sich ein und beschreibt auch Wut, die sie während des battles gefühlt habe. Da sie die gleiche Gefühlslage bei ihrer Kusine festgestellt habe und zu dem Zeitpunkt an die Grenze ihrer körperlichen Möglichkeiten gekommen sei, habe sie Sherise in den Tanzwettkampf einbezogen, also deren Rollentausch von Unterstützerin zur Mitspielerin initiiert, obwohl sie wusste, dass ihre Kusine diese agonale Tanzform eigentlich nicht beherrscht. Gresas langes Lachen zeigt die Überraschung darüber an, dass ihre Kusine die Aufgabe, die sie ihr gestellt hat, anders ausfüllt, als sie es erwartet hat. Sherise, die vom battle nur die Regeln kennt, lässt sich vom Gefühl der Wut tragen, das sie buchstäblich tanzen lässt. Sie greift auf den Bauchtanz zurück, den sie von Kindesbeinen an erlernte, und baut im Gegensatz zu ihrer Kusine keine obszönen, aber dennoch aggressive Gesten ein.

Für Sherise entsteht in der Widerfahrnis des Gefühls der Wut eine neue Möglichkeit, sich selbst vor anderen zu zeigen. Diese Möglichkeit erahnten weder ihre Freundinnen noch sie selbst, wie die überraschten Reaktionen aller zeigen. Im Rahmen einer jugendlichen Öffentlichkeit wird es also möglich, sich während des Tanzens in ein neues, nicht nur tänzerisches Verhältnis zur Welt zu setzen und Sherise zeigt sich erstmals als selbstbewusst, unbeherrscht und konkurrent. Dass Sherise sich in ein anderes Verhältnis zur Welt begibt, welches sich durch Selbstvergessenheit auszeichnet, bringt das Publikum zum lautstarken Applaudieren. Auch die Mädchen stimmen – wie die hohe interaktive Dichte der Gruppendiskussion zeigt – in diese Begeisterung ein, so dass dieses Ereignis als Gruppenerlebnis markiert wird.

In der Bildungstheorie wird das Entstehen von etwas Neuem häufig als zentral für die Abgrenzung des Begriffs „Bildung“ von „Lernen“ und „Sozialisation“ und als Kriterium sine qua non für die Bestimmung des Bildungsprozesses angesehen. Um Bildung handele es sich erst dann, wenn nicht allein neues Wissen angeeignet werde, sondern eine grundlegende Veränderung der Person geschehe. Hans-Christoph Koller begreift Bildung deshalb „als krisenhaftes Geschehen, das auf die Herausforderungen durch neue Problemlagen reagiert, die mit den bisher verfügbaren Mitteln nicht mehr angemessen bearbeitet werden können (Koller 2012, S. 20)“. Anlässe, um grundlegende Figuren von Selbst- und Weltverhältnissen zu transformieren, können Koller zufolge alterstypische Krisenerfahrungen sein, wie sie mit Statuspassagen – im Zentrum steht bei ihm die Adoleszenz – einhergehen. Erfahrung definiert er also nicht nur als Prozess, der sich innerhalb des Individuums abspielt, sondern er untersucht die überindividuelle Dimension der Erfahrungsebene genauer, da Bildung als interaktives Geschehen aufzufassen sei, welches von der gesellschaftlichen Ebene herausgefordert werde. Unter diesen bildungstheoretischen Vorzeichen stellt sich Sherise also der adoleszenztypischen Herausforderung, sich als Individuum zu zeigen, tritt im Rahmen der Gruppe der Freundinnen aus dieser heraus und zeigt etwas Neues, was niemand von ihr, die insgesamt zurückhaltend agiert, erwartet hätte.

Christoph Wulf und Jörg Zirfas (2007, S. 32) schlagen eine andere, am konkreten Ereignis orientierte Perspektive vor: „Die performative Erfahrung bringt in diesem Kontext ein neues zeitliches Moment zur Geltung. Sie lässt sich bestimmen als eine Erfahrung der Vergegenständlichung, als ein Verweilen, das im Fluss der Zeit nicht mitgeht, als ein Aufwachen, Erwecken, ein Sprung, ein Schock, als Erfahrung der Plötzlichkeit, kurz: als Erfahrung des Ereignisses“. Da sie dem Vollzug der Handlung in ihrem Erscheinen besondere Bedeutung zusprechen, fokussieren sie auf das Ereignis als eigentlichen Ort und als Movens der Entstehung von etwas Neuem. Zwar ist dieses Ereignis im Bildungsprozess, so zeigt es der Einstieg in den Tanzwettkampf von Sherise, immer in einen Prozess der Aneignung eingebunden, in dem Gefühle moduliert und arrangiert werden. Das Ereignis erhält seine eigentliche Kraft aber über die Gefühle, die zwar über den Tag hinweg vorbereitet und aufgebaut werden, in ihrem plötzlichen Erscheinen jedoch eine so starke Kraft haben, dass sie Sherise geradezu in ein neues Selbst- und Weltverhältnis stoßen.

4 Bildung der Gefühle in der Adoleszenz zwischen Kontinuität und Wandel

Gefühle widerfahren dem Subjekt, gerade weil sie mit dessen individueller Geschichte, seinem konkreten Handeln und mit den es umgebenden Gruppen und darin entwickelten Normen verbunden sind. Sie betreffen Körper und Geist gleichzeitig, fordern den Menschen heraus, zu handeln und sich zu positionieren und sind, da sie die Menschen in komplexer Weise an ihr oder ihre Gegenüber binden, unverfügbar. Im Bildungsprozess kommt ihnen gerade deshalb eine entscheidende Bedeutung zu. Dieser ist auf der einen Seite durch eine kontinuierliche Aneignung von praktischem und theoretischem Wissen über Sprache, Bilder und körperliche Praktiken charakterisiert. Zum anderen lässt sich gerade dann von Bildung sprechen, wenn die Welt dem Subjekt entgegentritt, diesem also etwas widerfährt, das nicht vorauszusehen war und sich der Kontrolle des Subjekts entzieht. Gefühle – so wurde an einem Beispiel aufgezeigt – befähigen das Subjekt zu etwas, über das dieses sich in ein neues Selbst- und Weltverhältnis zu setzen vermag, welches es zuvor nicht einmal erahnte.

In der Adoleszenz stellt die Peergroup für eben diese beiden Seiten des Bildungsprozesses einen Rahmen bereit, in dem Gefühle zum einen kontinuierlich moduliert und teilweise transformiert werden und zum anderen Spielräume eröffnet werden, in denen etwas Neues entstehen kann. In der Statuspassage der Adoleszenz wird an die Mädchen geradezu die Forderung gestellt, ein neues Selbst- und Weltverhältnis aufzubauen. Die Peergroup stellt für diesen Prozess formales Wissen bereit, mit dem sich einzelne Formen individueller und kollektiver Aufführungen des Selbst aneignen lassen, und begleitet diese Aneignung kontinuierlich. Damit führt sie in eine Kultur der Gefühle ein und ermöglicht den Einzelnen darüber hinaus, eine individuelle Positionierung vorzunehmen, die Bildung in der Adoleszenz (auch) unabdingbar ausmacht.