1 Einleitung

Für einen Schüler kann es „voll peinlich“ sein, vor der ganzen Klasse an der Tafel zu stehen und eine Matheaufgabe nicht lösen zu können. Genauso peinlich kann es aber auch sein, als Einziger die Mathehausaufgaben gemacht zu haben. Ein nicht „angesagter“ Schulrucksack oder Kleidungsstil ist „voll peinlich“, ebenso wie ein „gesundes“ Vollkornbrot mit Dinkelfrikadelle und Salat als Pausenbrot peinlich ist, wenn alle anderen Schokoriegel und Energydrinks auspacken. Eigenes Versagen beim Sportunterricht oder mangelndes Wissen über aktuelle TV-Stars; kurz: Eine ungeheure Vielfalt von sozialen Situationen und Attributen kann in Heranwachsenden Gefühle der Scham, des „Nicht-wie-die-Anderen-Seins“ und damit des – zumindest temporären – Ausgeschlossenseins auslösen.

Die bedeutende Rolle, die Scham in sozialen Inklusions- und Exklusionsprozessen und damit im Aushandeln sozialer Positionen und Wertigkeiten auf Basis geteilter normativer Orientierungen zukommt, wird in sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Emotionstheorien schon des Längeren betont. Bereits Darwin ging davon aus, dass Scham durch „the thinking what others think of us“ entsteht und somit eine fundamental soziale Emotion darstellt. Der Ansatz, Scham als einen Prozess der Selbstreflexion durch die Augen der anderen zu sehen, durchzieht seitdem die – vor allem sozialwissenschaftliche – Literatur. „Shame is“, formulierte z. B. der Soziologe Scheff (1990, S. 283) „the social emotion, arising as it does from the monitoring of one’s own actions by viewing one’s self from the standpoint of others.“ Scham lässt sich folglich als eine Form ‚sozialer Angst‘ verstehen, der Angst vor den Augen der anderen zu versagen, den sozialen Erwartungen nicht zu entsprechen und sich dadurch eine Blöße zu geben. Als soziale Angst stellt Scham eine emotionale Dimension dar, die in besonderer Weise soziale Konformität befördert (vgl. Casimir 2009; Scheff 1988, 1990).

Es erscheint folgerichtig und nicht weiter verwunderlich, dass insbesondere Heranwachsende, die sich in ihrem Umfeld erst noch positionieren und die sozialen Spielregeln erst noch erlernen müssen, für Schamgefühle besonders prädispositioniert sind. Umso erstaunlicher ist jedoch, dass dem Thema in erziehungswissenschaftlichen und schulsoziologischen Arbeiten kaum Bedeutung zuteil wird. Die Studie, aus der in diesem Beitrag Ergebnisse zur Untersuchung von Scham und Beschämung im Schulkontext referiert werden, ist Teil eines bi-disziplinären Forschungsprojekts aus Psychologie und Ethnologie. Das Forschungsprojekt untersucht vermittels zweier methodischer Verfahren die normativen Dimensionen von Scham, Stolz und Ärger, die als affektive Korrelate psychosozialer Konzepte von Ehre und Schande verstanden werden.Footnote 1 Zum einen wurde eine quantitative Fragebogenstudie mit Jugendlichen deutscher und türkischer Herkunft in Deutschland sowie mit Jugendlichen in der Türkei durchgeführt (N = 320). Zum anderen wurde eine ethnografische Studie im multikulturellen Klassenzimmer einer deutschen Gesamtschule durchgeführt. Während der quantitative methodische Zugang vor allem Erkenntnisse über generalisierte, normative Dimensionen von Emotionen liefert, dient der ethnografische Zugang dazu, deren konkreten, lebensweltlichen Bezug im Schulalltag, konkret in der untersuchten Klasse, aufzuzeigen. In anderen Worten: Durch den ethnografischen Zugang, v. a. das Instrument der teilnehmenden Beobachtung, kann die Relation zwischen sozialen Normen und sozialer Praxis in den Blick genommen und untersucht werden, inwieweit sich die in der Fragebogenstudie gemachten idealtypischen Aussagen über Emotionen auch in den alltäglichen Interaktionen der Schüler widerspiegeln. Der bisherige Stand unserer noch nicht abgeschlossenen Datenauswertung deutet diesbezüglich klare Diskrepanzen an: So werden in den Antworten der Fragebögen „deutsche und türkische Formen“ von Ärger, Scham und Stolz wesentlich deutlicher differenziert als sich dies im Schulalltag beobachten lässt. Eine zentrale Frage unserer Schulstudie lautete folglich, ob sich in multikulturellen Klassenzimmern klare Unterschiede im emotionalen Verhalten der Schüler erkennen lassen, die sich eindeutig mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungsmaßstäben in Verbindung bringen lassen. Dies sollte in Bezug auf die emotionalen Dimensionen Ärger, Scham, Stolz systematisch beobachtet werden.

Im vorliegenden Beitrag beschränken wir uns auf die Emotion Scham, die im Schulalltag in zahlreichen Interaktionen mitschwingt und gerade für die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrern und Schülern sowie zwischen Peers hoch relevant zu sein scheint. Neben der in dem Gesamtprojekt zentralen Frage nach der möglichen kulturellen Prägung der Scham in Erleben und Ausdruck interessierte uns vor allem, welche soziale Funktion der Emotion Scham im Kontext Schule zukommt.

2 Theoretische Aspekte der Scham

Trotz der unübersehbaren Bedeutung von Emotionen im schulischen Kontext lassen sich diesbezüglich bis in die 1990er-Jahre kaum wissenschaftliche Untersuchungen verzeichnen. Schutz und Lanehart (2002, S. 67) benennen zwei Ausnahmen: zum einen die zahlreichen Studien zur Prüfungsangst, die bereits seit den 1930er-Jahren intensiv untersucht wird, und zum anderen die Forschungen Weiners zu den mit Erfolg und Misserfolg assoziierten Emotionen, die in den 1970er-Jahren begannen. In neueren Arbeiten wird die Thematik der Leistungsemotionen weiterverfolgt (vgl. u. a. Pekrun 1998; Pekrun et al. 2002). Es werden aber auch zunehmend andere Emotionen in den Blick genommen, wie z. B. Freude in der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern (vgl. Frenzel et al. 2009) oder auch Langeweile als eine im Schulkontext bedeutende emotionale Dimension (Pekrun et al. 2010).

Scham wurde in Bezug auf den Schulkontext bislang jedoch nur wenig und wenn, dann ausschließlich im Zusammenhang mit Leistungsmotiven theoretisch bearbeitet, aber selten empirisch untersucht (vgl. Pekrun 2005). Auf diesen eklatanten Mangel weisen auch Holodynski und Kronast (2009) in ihrem Beitrag zu Scham und Stolz in der Schulforschung hin, den sie mit der von Scheff (1988) konstatierten „invisibility of shame in Western cultures“ zu erklären suchen. Scheff (1988, in Anlehnung an Elias 1978) geht davon aus, dass Scham eine „master emotion“ darstellt, die in allen Gesellschaften wirksam ist, aber in manchen Gesellschaften wenig sichtbar wird. Er spricht diesbezüglich von low-visibility-shame (Scheff 1988, S. 400 f.).Footnote 2 Diese Ausblendung der Scham deutet er als Konsequenz der negativen Bewertung, die diese Emotion im Kontext euro-amerikanischer Gesellschaften erfährt. Personen, die sich schnell und häufig schämen, gelten als wenig selbstsicher und zu stark auf andere bezogen, was je nach Ausprägungsgrad als pathologisch eingestuft wird. Dies führt zu einer weitreichenden Ausblendung der Scham – sowohl im individuellen psychischen Erleben als auch im sozialen Diskurs. Diese kulturelle Ausblendung der Scham spiegelt sich Holodynski und Kronast (2009) zufolge auch im Schulkontext wider. Obwohl die Institution Schule eine Vielzahl von Scham evozierenden Situationen generiert – sei es in ihrer sozialisierenden Funktion als Lehranstalt oder innerhalb der in der Schule entstehenden Peergruppen – wird Scham selten thematisiert und zwar weder innerhalb der Schule noch in den wissenschaftlichen Diskursen über Schule.

Wie auch ScheffFootnote 3 (1988) führen Holodynski und Kronast (2009) Selbstwertgefühl und Scham in einer Modellannahme zusammen, die auch in der psychologischen Literatur zu Scham stark vertreten ist (vgl. Ferguson 2005). Die Vermeidung von Scham korreliert diesen Annahmen zufolge mit der Sicherung des Selbstwertgefühls. Hohes Selbstwertgefühl bedeutet folglich, sich selten zu schämen und vice versa. Betrachtet man aber nicht-westliche Kulturen, in denen schamhaftes Verhalten und hohe Schamsensivität positiv evaluiert werden und dementsprechend auch ein zentrales Sozialisationsziel darstellen (Röttger-Rössler 2004, 2010, im Druck), so würde die Aufrechterhaltung dieser Annahme in der Konsequenz zu der Hypothese führen, dass die in ‚Schamkulturen‘ lebenden Personen insgesamt nur ein geringes Selbstwertgefühl ausbilden, was als äußerst zweifelhaft erscheint. Hier lohnt es, eine kulturrelativistische Perspektive einzunehmen. Wie kann aber Scham gerade in Hinblick auf Kultur verstanden werden?

Das Erleben und der Ausdruck von Emotionen unterliegen vielfältigen kulturellen Einflüssen, die in spezifischen Gefühls- und Ausdrucksregeln – ‚feeling rules‘ – kodiert sind (Hochschild 1983; Markus und Kitayama 1995). Auf der Grundlage der Analyse von Daten aus 135 Kulturen konstatieren Casimir und Schnegg (2002), dass Scham als universale Emotion bezeichnet werden kann, da sie für alle untersuchten 135 Kulturen belegbar ist. Gleichzeitig betonen sie die kulturspezifische Ausgestaltung der Scham: „Culture prescribes and constructs the enacting of shame-feelings – it spells out when and why these feelings can or should be experienced and exhibited and when they should be surpressed“ (a. a. O., S. 271). Im Schamerleben bewerten Menschen sich selbst und ihre Handlungen durch die Augen der anderen, d. h. auf Basis der von einer sozialen Gruppe als verbindlich betrachteter Normen und Werte, weshalb Scham auch als soziale Emotion kategorisiert wird (vgl. Scheff 1988; Casimir und Schnegg 2002; Casimir 2009). Eine Verletzung dieser Werte durch ein Individuum führt zum Schamerleben, vor allem wenn andere, für das Individuum wichtige Personen davon Kenntnis haben (Barrett 1995; Holodynski und Friedlmeier 2006). Scham lässt sich also definieren als eine im subjektiven Erleben unangenehme und somit negative Emotion, die sich in einem Individuum einstellt, wenn es realisiert, dass es zentralen sozialen Standards nicht genügt und relevante Andere darum wissen.

Im schulischen Kontext ergeben sich mindestens zwei relevante Andere: Zum einen sind das die Lehrer(innen), die vor allem die schulische Norm des Leistungsprinzips vertreten, zum anderen sind es die Mitschüler(innen) als relevante Peers. Im Schulalter nehmen soziale Vergleichsprozesse bezüglich der eigenen Kompetenzen immer mehr zu (Stipek und MacIver 1989), wobei vor allem den Peergroup-Interaktionen eine zentrale Bedeutung zukommt (Parker und Gottman 1989). Die von Peergroups definierten Verhaltensstandards können teilweise konträr zu den sozialen Erwartungen der Schule stehen und die Einzelnen in schwierige Dilemmata bringen. Denn ein Befolgen der Peergroup-Normen ist zentral, um sich Anschluss und Zugehörigkeit zu sichern. In diesem Zusammenhang stellen Beschämungsaktionen ein machtvolles soziales Instrumentarium dar. Personen, die den expliziten oder impliziten Standards der Gruppe nicht entsprechen, werden öffentlich bloßgestellt und dadurch ausgegrenzt. Das Aushandeln von sozialen Zugehörigkeiten verläuft unter Jugendlichen wesentlich über das Mittel der Ausgrenzung, d. h. das der Beschämung. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, neben Leistungssituationen noch weitere Situationen in den Blick zu nehmen, in denen im schulischen Kontext Scham und Beschämung eine Rolle spielen. In Hinblick auf den spezifischen Peer-Kontext kann das bedeuten: Wahrt ein Schüler sein „Gesicht“, indem er vor den anderen Schülern „cool“ bleibt, obwohl gegenüber dem Lehrer ein Scham-Display und Einlenken angebracht wäre? Wer ist für das Individuum die relevante Referenzgruppe? Und wie verhalten sich Schüler(innen), wenn sie von oder vor Peers bloßgestellt werden?

3 Eine Schulklasse als ‚Feld‘: Zum Untersuchungsausschnitt und zur Methodik

Schule bietet einen sozialen Kontext, in dem Schüler persönliche Beziehungen zu Peers und zu Lehrern entwickeln. Dabei stoßen durchaus unterschiedliche Emotions- und damit Verhaltensnormen konfligierend aufeinander: Zum einen werden institutionell geprägte schulische Anforderungen von den Lehrern vertreten und vermittelt, die Schüler nicht unbedingt teilen. Zum anderen entwickeln Jugendliche eigene Verhaltensnormen, die im Sinne der Zugehörigkeit zur Peergroup bindend sein können. Ferner fließen im multikulturellen Klassenzimmer Emotionsmodelle ein, die womöglich in der elterlichen Herkunft begründet liegen und die ebenfalls im Schulalltag verhandelt werden (müssen). Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher ‚Emotionskulturen‘ (im Sinne eines relationalen, dynamischen Kulturbegriffs) einerseits und die für das eingangs erwähnte bi-disziplinäre Forschungsprojekt notwendige Suche nach einem sozialen Feld, in dem deutsch- und türkischstämmige Jugendliche regelmäßig gemeinsame Zeit verbringen, führten zur Wahl einer multikulturellen Gesamtschulklasse. Um selbstständig an der Untersuchung teilnehmen zu können, sollten die Jugendlichen mindestens 14 Jahre alt sein, was zur Fokussierung auf eine 9. Klasse führte.

Die ausgewählte Gesamtschule liegt in einem Stadtteil mit einem hohen Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund. Vor dem Hintergrund, dass sich die Schülerschaft mehrheitlich aus dem Stadtteil rekrutiert, war eine sozio-kulturell heterogene Gruppe zu erwarten. Die Klassengemeinschaft setzte sich aus 13 Mädchen und 16 Jungen zusammen. Kategorisiert nach elterlicher Herkunft ergab sich folgendes Bild: In 14 Fällen stammen beide Elternteile aus der Türkei. In einem Fall stammen die Eltern aus dem türkischsprachigen Teil Griechenlands. Bei 10 Schüler(inne)n sind beide Elternteile deutsch. In einem Fall sind beide Elternteile in Albanien aufgewachsen. Die drei restlichen Schüler(innen) stammen aus interkulturellen Paarbeziehungen: Frankreich – Deutschland, Marokko – Deutschland; Elfenbeinküste – Deutschland sowie Türkei – Afghanistan.

Als zentraler methodischer Zugang zur Untersuchung von Emotionen in alltäglichen sozialen Interaktionen wurde für diese Studie die Teilnehmende Beobachtung gewählt.Footnote 4 Der Erstautor nahm von November 2008 bis Dezember 2009 täglich am Unterricht der Klasse teil, begleitete die Gruppe auf drei Klassenunternehmungen und führte wöchentlich eine nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung durch. In diesen Rahmen wurden – wie in ethnologischen Forschungen üblich – noch weitere Methoden eingebettet. Dies waren neben ethnografischen Interviews, Fokusgruppendiskussionen und Netzwerkanalyse (zur Erhebung der klasseninternen Beziehungsmatrix) vor allem die Beobachtung, Dokumentation und Analyse unterschiedlich komplexer Konflikte oder ‚sozialer Dramen‘Footnote 5.

Gerade für Interviews zu emotionalen Themen ist Vertrauen zwischen Akteuren und Forscher notwendig. Um dieses zu erlangen, stand zu Beginn der Untersuchung das Kennenlernen der Schule und ihrer Akteure/-innen im Vordergrund. Diese erste, explorative Phase (vgl. Spradley 1980, S. 34) ist grundsätzlich durch zunächst noch offene, unstrukturierte Beobachtungen und informelle Gespräche gekennzeichnet, die darauf abzielen, die Grundstrukturen des sozialen Feldes zu erfassen. Dazu zählt z. B. die spezifische Geschichte der Klasse, die Beziehungsmatrix zwischen den Schülern sowie zwischen Lehrern und Schülern. In der zweiten Phase fokussierter Beobachtung wurde dann das Augenmerk auf soziale Interaktionsmuster und Konfliktsituationen im Schulalltag gelegt. Im Zentrum stand die Dokumentation unterschiedlicher, aber wiederkehrender und für die Gruppe typischer Konfliktszenarien durch Beobachtungsprotokolle sowie ergänzende Interviews. Ziel dieser auf bestimmte aktuelle Vorfälle im Schulalltag bezogenen Interviews war die Erhebung der Sichtweisen der jeweiligen Akteure auf das Geschehen sowie die gezielte Erfassung der emotionalen Bedeutungen, die den Ereignissen von den Akteuren beigemessen wurden. Die im Rahmen sozialer Konflikte, aber auch sonst im Schulalltag auftretenden Emotionsepisoden wurden in der dritten, themenzentrierten Phase systematisch beobachtet und dokumentiert. Im Zentrum standen hier neben Scham, vor allem noch die Emotionen Stolz und Ärger, was in Zusammenhang mit dem übergreifenden Erkenntnisinteresse des bi-disziplinären Forschungsprojektes stand, zu dem diese Schulstudie beiträgt. Schule mit ihrem verlässlichen Rhythmus, überschaubaren räumlichen Gegebenheiten sowie festen Gruppenmitgliedern gewährleistet eine gewisse Kontinuität für die Teilnehmende Beobachtung. In Hinblick auf die Durchführung von Interviews hängt enorm viel von der Bereitschaft der Akteure/innen ab, sich in Zwischenzeiten und nach dem Unterricht auf „Extrazeiten“ einzulassen. Vor allem die Wahrnehmung vielfältiger Freizeitangebote und ein ambivalentes Verhältnis zum Ort Schule erschweren außerschulische Gesprächstermine. Inhaltlich und formal entsprechen die durchgeführten Interviews Spradleys Definition von ethnografischen Interviews, die primär dazu dienen, zuvor beobachtete Zusammenhänge aus Akteursperspektive zu überprüfen bzw. zu vertiefen (1979). Neben Einzelinterviews wurden Focus-Gruppendiskussionen zu unterschiedlichen Themen mit bestehenden Kleingruppen durchgeführt. Diese Gruppeninterviews dienten vor allem dazu, den Konsens zwischen den Schülern bezüglich bestimmter Themen zu überprüfen, zum anderen basierten sie aber auch auf ganz pragmatischen Gründen, denn etliche Schüler(innen) wollten lieber gemeinsam mit anderen an Gesprächen teilnehmen, als sich allein einer Interviewsituation auszusetzen. Dies hatte u. a. sicher damit zu tun, dass konzentrierte Gesprächssituationen für viele Schüler(innen) generell sehr ungewohnt waren und sie sich entsprechend unsicher fühlten. Dies galt insbesondere für biografisch orientierte Interviews: Dem Gros der Jugendlichen fiel es besonders schwer, über das eigene Leben und Erleben zu berichten; sie verfügten über keinerlei entsprechende Verbalisierungsroutine. Dies ist für junge Menschen an sich nicht verwunderlich, da sich biografische Narrative ja erst ist im Verlauf der Lebenspanne herausbilden und verfestigen.Footnote 6 Auffällig war jedoch, dass Schüler(innen), deren Muttersprache nicht deutsch ist, die meisten Schwierigkeiten hatten, sich zu äußern. Dies hatte allerdings weniger mit mangelnder Kompetenz der Jugendlichen in der deutschen Sprache zu tun, als vielmehr mit einem grundsätzlichen Unvermögen, sich verbal auszudrücken.Footnote 7 Es ist zu vermuten, dass die Ursachen der ‚Sprachlosigkeit‘Footnote 8 vieler Jugendlicher dieses Alters in mangelnder Gesprächsroutine im Elternhaus liegen. So wurde in Interviews deutlich, dass verbal starke Jugendliche auch zuhause häufig Gespräche führen. Sie können beispielsweise biografische Angaben zu ihren Eltern machen, können von deren Berufstätigkeiten berichten und stehen mit ihnen über vielfältige Themen (z. B. Schule, Nachrichten, Freizeitgestaltung etc.) im Austausch. Andere Schüler(innen) hingegen, die im Unterricht und in Interviews wenig mitteilsam waren, wussten über derlei Themen wenig zu berichten.

Der Einsatz unterschiedlicher ausgewählter Methoden diente der Beleuchtung des Forschungsinteresses gemäß der methodischen Triangulation, wie sie u. a. von Flick (2007) und Delamont (2002) gefordert werden.

4 Scham und Beschämung im Schulalltag: eine Fallstudie

Fallstudien erfassen Phänomene in ihrem Kontext (vgl. Borchardt und Göthlich 2007, S. 36). Mit ihnen lassen sich besonders gut Entwicklungen und Prozessabläufe nachvollziehen sowie Verhaltensmuster erkennen, die mittels direkter Befragungen nicht aufzudecken sind. Durch die systematische Beobachtung und Dokumentation von verschiedenen Emotionsepisoden, in deren Fokus jeweils einzelne Akteure der Klassengemeinschaft standen, ließen sich zahlreiche personenzentrierte Fallstudien generieren. In Verbindung mit den Daten aus der Netzwerkanalyse sowie den biografischen Erhebungen ergab dieses Material gute Einblicke in die Beziehungskonstellationen und Konfliktgeschichten innerhalb der Klasse, deren Kenntnis oftmals erst ein tieferes Verständnis der Emotionsepisoden ermöglicht. Dem Fokus der Gesamtstudie entsprechend konzentrierte sich die Auswahl der beobachteten und dokumentierten Situationen auf die drei emotionalen Dimensionen Ärger, Stolz und Scham. Es wurden möglichst viele Episoden dokumentiert (primär in Form von Gedächtnisprotokollen, z. T. auch durch Videografie) in denen die jeweils beobachteten Akteure Verhaltensweisen zeigten, die darauf schließen ließen, dass sie eine dieser Emotionen empfanden oder zu empfinden vorgaben. In Bezug auf die hier zur Diskussion stehende Emotion Scham strukturierten folgende Kriterien die Beobachtung:

  1. 1.

    Die Einschätzung der Situation als potenziell Scham auslösend für einen der AkteureFootnote 9 und

  2. 2.

    das Display von mindestens zwei Schamindikatoren.

Als prototypische sichtbare Ausdruckszeichen erlebter Scham gelten Erröten, Abwendung des Blicks und/oder des ganzen Körpers, eingesunkene Körperhaltung, Verdeckungsimpulse, wie z. B. die Hand vor die Augen oder das Gesicht schlagen (Casimir 2009, S. 288 f., vgl. auch Casimir und Schnegg 2002; Gerlach et al. 2003). Auf diese Art und Weise ergab sich eine Sammlung von Emotionsepisoden, in denen der jeweils im Beobachtungsfokus stehende Akteur Scham, Ärger oder Stolz zeigte.

Im Folgenden werden zwei Schamepisoden aus der „Einzelfallstudie Jurij“Footnote 10 präsentiert, um diese Datenkategorie und damit auch das Vorgehen etwas zu konkretisieren. Neben Juri spielt noch sein Mitschüler Mike eine zentrale Rolle in der ersten Episode. Beide Jugendliche werden zunächst auf Grundlage von Beobachtungen und Interviews eingeführt.Footnote 11

4.1 Jurij

Biografische Informationen: Jurij ist 15 Jahre alt und lebt als Einzelkind in einem koreanisch-kasachischen Elternhaus. Die Familie hat zuvor in Kasachstan gelebt und ist, als Jurij vier Jahre alt war, aus wirtschaftlichen Motiven nach Deutschland migriert. Die Eltern betreiben ein kleines asiatisches Lebensmittelgeschäft. Der koreanischstämmige Vater fährt zusätzlich Zeitungen aus, während die Mutter halbtags als Kosmetikerin arbeitet.

Eigenschaften und Sozialverhalten: Jurij ist sehr sportlich. Bis zum 12. Lebensjahr turnte er auf Leistungsniveau. Seit einem Sportunfall kann er das nicht mehr mit gleicher Intensität tun und spielt vermehrt Fußball. Im Sportunterricht stellt er immer wieder seine Körperkraft und -beherrschung unter Beweis, die von vielen Mitschülern und Lehrern anerkennend beurteilt wird. Sowohl im Sportunterricht als auch in den Pausen rangelt er häufig mit Mitschülern. Dabei gibt es zwei Mitschüler, mit denen Rangeleien ausgeglichen verlaufen. Gegenüber Mike verlaufen kleine „Piesack-Aktionen“ jedoch eher einseitig – und zuungunsten von Mike ab. In der Schule verbringt Jurij die überwiegende Zeit mit Jungen aus der Klasse, die ebenfalls einen Migrationshintergrund aufweisen. Zu den Mädchen hat er kaum Kontakt.

Schulische Leistungen: Jurijs schulische Leistungen bewegen sich im oberen Mittelfeld der Klasse, er erzielt gute Noten. Seine mündliche Beteiligung fällt hingegen geringer aus. Er meldet sich selten zu Wort. Sein Deutsch ist nicht flüssig, ihm fehlen oft die richtigen Worte. In einem Betriebspraktikum hat sich sein handwerkliches Geschick gezeigt. Er möchte den Realschulabschluss schaffen und einen handwerklichen Beruf ergreifen.

4.2 Mike

Biografische Informationen: Mike ist fast 17 Jahre alt und der Älteste in der Klasse, was man ihm im Vergleich mit anderen Jungen aus der Klasse nicht ansieht. Seine Mutter ist in Deutschland geboren. Der Großvater väterlicherseits stammt aus Westafrika. Die Eltern leben schon lange getrennt. Erst vor drei Jahren ist Mike erstmals zu seinem Vater gezogen, nachdem er zuvor rund 400 km entfernt bei der Mutter aufgewachsen war. Er hat einen zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder. Dieser lebt bei der Mutter – inzwischen nur noch eine ¾-Std. vom Wohnort des Vaters entfernt. Fast jedes Wochenende besuchen sich die Brüder. Mike berichtet, dass er sich viel um seinen Bruder kümmere.

Eigenschaften und Sozialverhalten: Mike ist von schlaksiger Statur. Im Sport ist er schnell und wendig, aber nicht kräftig und auch wenig geschickt, wenn es um den Umgang mit Bällen oder mit Turngeräten geht. In der Klasse hat er eher wenig Kontakt zu Mitschülern. Sein Auftreten gegenüber Mitschülern und Lehrern ist überwiegend besonnen und ruhig. Er spricht auffallend erwachsen und reflektiert.

Schulische Leistungen: Mike macht selten Hausaufgaben und kann sich oft nicht zum Lernen aufraffen. Er führt dies auf Faulheit zurück, weiß aber, dass er sich eigentlich anstrengen müsste. Dementsprechend sind seine Noten nicht zufriedenstellend. Aber er möchte das Abitur schaffen und eine Musikhochschule besuchen.

Situation I. In der großen Pause wird Mike von Jurij geärgert. Mikes Schulrucksack steht auf dem Tisch, an dem Jurij nach der Pause sitzen wird. Mike unterhält sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes mit Mitschülern. Jurij hebt Mikes Rucksack vom Tisch auf und ruft, der Rucksack sei „super schwer“, wobei er so tut, als habe er ernsthafte Mühe, den Rucksack mit beiden Händen hochzuheben. Türker, Aarian, Paulo und Nila stehen bei ihm und lachen. Jetzt wirft Jurij den Rucksack auf den Boden. Mike schaut aus der Distanz zu. Nun steigt Nila mit in die Situation ein. Sie hebt den Rucksack wieder auf den Tisch und öffnet den Reißverschluss. Unter anfeuernden Worten von Paulo und Jurij beginnt sie, Stück für Stück des Inhalts herauszunehmen und zu begutachten. Darunter Hefte, Bücher und Papiere. Es dauert eine Weile, bis Mike sich einschaltet. Er geht auf Jurij zu und sagt laut und deutlich, dass es seiner Meinung nach nun reiche und der Rucksack seine „Privatsache“ sei. Er spricht ruhig und akzentuiert, ohne seine Stimme zu erheben und ohne Schimpfwörter zu benutzen. Paulo und Nila machen weiter. Sie lassen sich nicht durchs Mikes Kommentar beirren. Als Mike nun eingreifen will, packt ihn Jurij von hinten an den Schultern und schlingt die Arme um Mikes Oberkörper, der sich windet, aber nicht befreien kann. Zugleich ruft Jurij Nila zu, sie solle schnell weiter Sachen aus Mikes Rucksack holen. Dann lässt Jurij Mike los, schiebt ihn ein Stück zur Seite und wirft den Rucksack erneut zu Boden. Anschließend verpasst er Mike einen festen Schlag auf den Oberarm. Mike erwidert nichts und beginnt nun, die Einzelteile zurück in den Rucksack zu stopfen, um ihn dann schnell zu seinem Sitzplatz für die Mathestunde zu tragen. Nachdem Mike seinen Rucksack abgestellt hat, gesellt er sich umgehend zu der Gruppe um Jurij zurück. Dort befinden sich mittlerweile noch andere Jungen, die von draußen herein gekommen sind und sich unterhalten. Mike holt aus und schlägt Jurij auf den rechten Oberarm. Jurij reagiert prompt und geht auf Mike los – die beiden rangeln kurz miteinander. Die Umstehenden drängen verbal auf einen Zweikampf und erörtern die Chancen, die sie den beiden jeweils zurechnen. Die beiden Kontrahenten gehen nicht weiter darauf ein und haben sich schon wieder voneinander gelöst. Jurij simuliert eine Reihe von Fauststößen in Richtung Mike und wendet sich dann ab, um sich auf seinen Platz zu setzen. Mike bleibt indes am Rand der leicht kreisförmig um einen Tisch angeordneten Gruppe stehen und beginnt nun, sich seinen roten Wollschal wie ein Stirnband um den Kopf zu binden. Dabei macht er kampfsportartige Armbewegungen und einige Geräusche, wie sie aus Martial-Arts-Filmen bekannt sind. Die Jungs lachen. Kurze Zeit später beginnt der Unterricht. Mike geht zu seinem Platz. Dort sinkt er in sich zusammen. Er verschränkt seine Arme auf dem Tisch und legt seinen Kopf darauf ab. Der Lehrer zeigt heute zwei Videos zur Erfindung der Dampfmaschine. Mike verharrt teilnahmslos in seiner eingegrabenen Position und blinzelt nur ab und zu in Richtung der Videoprojektion.

Im Verlauf der einjährigen Untersuchung konnte beobachtet werden, dass Mike häufig Beschämungsszenarien ausgesetzt war. Vor allem Jurij provozierte ihn wiederholt während des Unterrichts mit kleinen physischen und Verbalattacken, vor allem aber in den Pausen und im Sportunterricht.

Interpretation I. In dieser Episode sind zwei emotionale Dimensionen, Scham/Beschämung und Ärger, eng miteinander verknüpft. Jurijs Handlung beginnt zunächst mit einer Provokation. Die Missachtung des Eigentums von Mike drückt sich darin aus, dass er dessen Rucksack einfach zu Boden wirft. Zugleich stellt Jurij fest, dass der Rucksack für sein Empfinden ungewöhnlich schwer ist, was ihn zu lauten Kommentaren veranlasst. Hier kommen implizite Verhaltensstandards zum Ausdruck. Mike bringt häufig einen schwer bepackten Rucksack mit in die Schule, da er – anders als seine Mitschüler(innen) – stets eine Vielzahl von Büchern und Arbeitsmaterialien bei sich hat. Der Großteil der Mitschüler(innen) hat eher zu wenig als zu viel Material dabei. Schwerbepackte Taschen sieht man selten, sie gelten als „uncool“. Dadurch, dass Jurij seine Verwunderung lautstark kundtut, erregt er die Aufmerksamkeit einiger Mitschüler, die er so in das Geschehen mit einbezieht, wodurch sie zur Referenzgruppe für seine Handlung werden. Hier beginnt der beschämende Exklusionsprozess gegenüber Mike, der sich nunmehr einer Gruppe von situativ definierten Anderen gegenüber sieht, wobei Jurij der beschämende Akteur ist. Mit dem Hinzukommen von Nila erhält Jurijs Handeln eine Legitimation im Rahmen dieser spontan entstandenen Referenzgruppe. Paulo ist eher lose assoziiert, aber ebenso in das Geschehen inkludiert, vor allem im Gegensatz zu Mike, der durch die kollektive Duldung und Demütigung aus der spontanen Gruppe ausgegrenzt wird. Die auf verbaler Ebene stattfindende Art und Weise, in der Mike versucht, das Geschehen zu beenden, stachelt die anderen Schüler nur mehr an. Mike versucht zunächst, durch „Feedback“Footnote 12 (Weber und Titzmann 2003) zu reagieren. Ohne selbst aggressiv aufzutreten, spricht er Jurij auf die Provokation und seinen Unmut darüber an. Diese ‚Strategie‘ führt allerdings nicht zum Erfolg. Im Gegenteil: Nachdem Mike zunächst indirekt über seinen Rucksack angegriffen wurde, wird er nun körperlich attackiert. Er wird – vor den Augen der anderen – von Jurij festgehalten, dem er körperlich klar unterlegen ist. Zudem bekommt er noch einen Schlag ab, dem er nichts mehr entgegenzusetzen hat. Er sammelt seine Sachen zusammen und bringt sie am neuen Sitzplatz in Sicherheit. Dann aber verlässt er nicht etwa den Raum oder sucht andere Schüler auf, sondern er gesellt sich gleich wieder zu der Gruppe, die seiner Beschämung beigewohnt hat. Durch seine Annäherung an die Gruppe und seinen Angriff auf Jurij versucht Mike, wieder aktiv am Geschehen teil zu haben. Nach der von Elison et al. (2006) entwickelten ‚Compass-of-Shame-Skala‘ bildet dieser ‚Angriff auf andere‘ eine mögliche ‚Coping-Strategie‘, um mit einer Beschämungssituation umzugehen. Der Effekt der Annäherung gelingt insofern, als dass Mike nun wieder aktiv mit Jurij und in Referenz zur Gruppe interagiert. Während Jurij sich auf seinen Platz setzt, versucht Mike nun, durch seine Inszenierung als „Martial-Arts-Kämpfer“ Eingang in die immer noch zusammenstehende Gruppe von Jungen zu bekommen. Er bringt sie zum Lachen – wobei unklar bleibt, ob sie mit oder über ihn lachen. Damit stellt er immerhin wieder eine körperliche Nähe zur Gruppe her und erhält von ihr die benötigte Aufmerksamkeit. Sobald die Pausensituation durch das Eintreten des Lehrers und den Beginn der Unterrichtsstunde endet, sackt Mike aber in sich zusammen. Er wendet den Blick von den anderen ab und „verkriecht“ sich in seinen verschränkten Armen. Die spontan gebildete Referenzgruppe, der gegenüber die negative Selbstbewertung des Beschämten erfolgt, hat sich zwar aufgelöst und existiert als solche nicht weiter. Die Flüchtigkeit der Episode beschränkt sich in diesem Fall nur auf die Gruppe und den Beschämenden. Der Beschämte aber zeigt im weiteren Verlauf der Stunde keine Veränderung im Sinne einer Stimmungsaufhellung. Zentral in dieser Episode sind also zum einen die Peers als spezifische Referenzgruppe und die Provokation eines Mitschülers um soziale Zugehörigkeiten zu verhandeln, Hierarchien und Machtverhältnisse auszuhandeln. Die Provokation mit dem Ziel der Beschämung und temporären sozialen Ausgrenzung eines Anderen stellt dabei ein effektives Mittel dar. Zum anderen zeigen sich implizite Verhaltensnormen: Wer „cool“ ist, bringt keine großen schweren Rucksäcke mit und weiß sich verbal (und körperlich) schlagfertig zu wehren, anstatt gestelzt und erwachsen zu reden.

Situation II. In der Mathematikstunde bittet der Lehrer die Schüler, an ihren Arbeitsblättern der letzten Stunde weiterzuarbeiten. Als er sieht, dass Jurij sich mit seinem Nachbarn unterhält, geht er einige Schritte auf ihn zu und fragt ihn, warum seine Mappe und sein Buch nicht auf dem Tisch liegen. Sein Ton ist dabei deutlich und bestimmt. Jurij reagiert ausweichend auf die Frage des Lehrers. Er senkt den Blick und dreht den Kopf rechts seitlich weg vom Lehrer zu seinem Tischnachbarn Aarian. Sie grinsen sich kurz an. Der Tisch von Aarian und Jurij steht wiederum rechtwinklig zur Tafel, so dass Jurij näher zum Lehrer hin sitzt. Während Jurij den Lehrer weiterhin nicht anschaut, wendet er den Kopf geradeaus und murmelt leise „Ist ja gut“ und noch leiser „ja nerv nicht“. Der Lehrer hört diese Äußerungen nicht. Aarian, Jurijs Tischnachbar, grinst etwas verlegen vor sich hin. Die Schüler an der Tischgruppe sowie vom angrenzenden Nachbartisch schauen zu ihm herüber. Jurij ist inzwischen errötet und gibt bruchstückhafte Antworten auf die Frage, wo sein Buch und seine Mappe seien. Er antwortet ganz leise: „Ich hab‘s nicht dabei“. Der Lehrer hört die Antwort nicht und fragt nochmals nach. Wieder äußert sich Juri nahezu unverständlich. Der Lehrer erregt sich und schilt Jurij: „Warum kommst du dann in die Schule, wenn du deine Materialien nicht dabei hast?“ Jurij schweigt wieder und weicht dem Blick des Lehrers aus. Der Lehrer ist nun außer sich und schimpft laut: „Das ist eine Schande! Das ist so, als wenn ein Handwerker ohne sein Werkzeug auf die Baustelle kommt.“ Jurij blickt weiter zu Boden. Der Lehrer wendet sich nach seinem Wutausbruch ab und widmet sich wieder dem Unterricht. Auch gute fünf Minuten nach Ende der Episode blickt Jurij nur gelegentlich kurz zum Lehrer. Ansonsten schaut er starr vor sich auf den Tisch. Sein Gesicht wirkt immer noch errötet.

Interpretation II. In dieser Situation spielen Erröten als Körperreaktion und Status-Scham als kulturelle Komponente eine besondere Rolle. Während im vorangegangenen Beispiel die Beschämung innerhalb der Peergroup im Fokus steht, handelt die zweite Episode von einer typischen Konfliktsituation zwischen Lehrer und Schüler, in der es darum geht, dass der Schüler seine Unterlagen nicht dabei hat. Bei einigen Schüler(inne)n geschieht das sehr häufig. Wenn es sich dabei beispielsweise um fehlende Schreibutensilien oder Lehrbücher handelt, wird dies meist durch die Unterstützung von Mitschüler(inne)n und auch Lehrer(inne)n ausgeglichen. In diesem Fall aber hat der Schüler seine Arbeitsblätter nicht mitgebracht, sodass er seine in der vergangenen Stunde begonnenen Übungen nicht fortsetzen kann. Hieran entfacht sich nun die Auseinandersetzung, während derer der Schüler mindestens für die Dauer der ‚Ansprache‘ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Klasse gerückt wird. Der Schüler errötet, wendet den Blick vom Lehrer ab, senkt den Kopf und weicht der Beantwortung der Fragen aus bzw. äußert sich nicht klar und verständlich gegenüber dem Lehrer. Sichtbare und damit beobachtbare Zeichen von Schamerleben sind Verhaltensweisen, die mit Verbergen und Verstecken zu tun haben. Dazu gehört das Senken des Blicks, das Abwenden der Augen oder die Abwendung von der Person, mit der ein Individuum in einer Schamsituation interagiert (Casimir und Schnegg 2002). Jurij antwortet zunächst gar nicht auf die Frage des Lehrers. Er versucht, der Situation aus dem Weg zu gehen, was nicht gelingt. Der Lehrer wiederum lässt nicht locker und gerät durch die Reaktion des Schülers in größere Verärgerung, nachdem er zunächst nur eine Frage formuliert hat. Was aber stört ihn an der Reaktion des Schülers? Der Lehrer erhält zunächst einmal keine Antwort auf seine Frage. Im zweiten Anlauf verhält sich der Schüler nicht so, wie der Lehrer es erwartet. Er schaut den Lehrer nicht an und erklärt sich nicht. Stattdessen zeigt er ein Verhalten, das als zugleich schamhaft und Scham abwehrend zu interpretieren ist. Gegenüber diesem Lehrer, aber auch gegenüber den anderen Lehrern spielt bei Jurij Status-Scham eine große Rolle. Es zeigte sich im Verlauf der Untersuchung häufig, dass er gegenüber seinen Lehrern schamhaft (im Sinne von respektvoll) auftritt und dabei direkten Blickkontakt meidet. Dieses Verhalten wurde in Gesprächen mit Lehrern bestätigt. Besonders in Hinblick auf mündliche Beteiligung im Unterricht und zugespitzt in den mündlichen Prüfungen zur Erlangung des Hauptschulabschlusses fiel dieses Verhalten auf. Zum einen, weil es sich vom Verhalten beispielsweise seiner deutschen Mitschüler(innen) unterschied, zum anderen, weil es in den Augen der Lehrer(innen) einen Mangel an Kommunikationskompetenz im Sinne einer zugewandten, direkten Interaktion darstellt. Während dies die Kommunikation zwischen Jurij und dem Lehrer betrifft, gibt es in der Episode noch die Ebene zwischen Jurij und den Mitschülern an seiner Tischgruppe. Während er zum einen errötet und sich schamhaft gegenüber dem Lehrer äußert, drückt er zum anderen durch seinen abwehrenden Kommentar aus, dass ihn die Forderungen des Lehrers auf die Nerven gehen. Er versucht, seinen Mitschülern gegenüber, die für ihn ebenfalls eine relevante Referenzgruppe darstellen, eine Haltung der Stärke zu demonstrieren, die er gegenüber dem die Scham auslösenden Lehrer nicht im gleichen Maße zeigen kann. In dieser zweiten Episode steht also die Verletzung der expliziten schulischen Verhaltensstandards im Mittelpunkt. Die Schüler(innen) sind gehalten, ihre Unterrichtsmaterialien mitzubringen. Des Weiteren sind die impliziten Standards in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zentral: Wenn der Lehrer eine Frage an einen Schüler richtet, verlangt er eine verständliche Antwort und dass der Schüler sich ihm zuwendet und ihm in die Augen schaut. Auch wird in dieser Episode deutlich, wie unterschiedliche kulturelle Prägungen zu verhaltensbezogenen Missverständnissen führen können. Während Jurijs scheinbar schambetontes Auftreten gegenüber der Lehr- und Autoritätsperson in seinem Herkunftskontext positiv bewertet wird, entspricht er damit nicht den deutschen ‚feeling rules‘ (Hochschild 1983).

5 Zusammenfassung und Ausblick

Die Fallstudie verdeutlicht, dass Scham und Beschämung auch jenseits von Prüfungs- und Leistungssituationen fester Bestandteil des Schulalltags sind. Die Diskrepanz im Verhalten Jurijs gegenüber dem Lehrer einerseits und den Mitschüler(inne)n andererseits deutet auf die Existenz unterschiedlicher Verhaltensnormen hin, die sich konfligierend gegenüber stehen. Hinzu kommt bei Jurij eine deutliche Status-Scham: Jurij ist der Einzige in der Klasse, der gegenüber Lehrern und anderen Autoritätspersonen ein derart ausgeprägtes Schamverhalten zeigt. Interaktionen und erst recht Konfrontationen mit Autoritätspersonen evozieren bei ihm ein sichtbares Unwohlsein. Es liegt nahe, dieses Verhalten als individualspezifisches Charakteristikum von Jurij zu bewerten, als ein für ihn typisches rein individuelles Phänomen. Doch es wäre andererseits vorschnell, den Einzelfall numerisch auszusortieren. Berücksichtigt man Jurijs familiären Kontext, kann von koreanisch/kasachisch geprägten Sozialisationselementen ausgegangen werden. Über ostasiatische Kulturen wissen wir, dass schamhaftes Verhalten generell und Status-Scham im Besonderen als explizite Verhaltensnormen positiv sanktioniert werden (vgl. Yang und Rosenblatt 2001), was für Nordwesteuropa nicht bestätigt werden kann. Es liegt nahe, davon auszugehen, dass es sich bei Jurijs ausgeprägter „Schambereitschaft“ nicht um einen rein idiosynkratischen Aspekt handelt, sondern um sozial und kulturell vermittelte emotionale Reaktionsformen. Diese Hypothese müsste allerdings in weiteren Untersuchungen erhärtet werden. Insgesamt zeigen die bisherigen Analysen der dokumentierten Schamepisoden kaum Unterschiede, die sich klar mit differenten kulturellen Orientierungsrahmen korrelieren lassen. Sollte sich nach Abschluss der Auswertungen dieses Bild und damit auch die Diskrepanz zu den – ebenfalls noch nicht endgültig ausgewerteten – Fragebogenstudien erhärten, so wäre dies auf alle Fälle ein aufschlussreiches und diskussionswertes Ergebnis.

Doch unabhängig von der Frage nach ihrer kulturspezifischen Formung stellt Scham ein bedeutsames Element zur Regelung sozialer Zugehörigkeiten und Normkonformitäten dar. Wenn sich Ausgrenzungserlebnisse durch Mitschüler häufen, die Betroffenen aber keine Coping-Strategien zur Bewältigung zur Verfügung haben, dann kann Schule zu einem Ort werden, der sich negativ auf die Leistungsfähigkeit, die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden eines Schülers auswirkt. Die eingangs konstatierte „invisibility of shame“ (Scheff 1988) in der Schule äußert sich u. a. darin, dass Lehrer(innen) Peer-Konflikte nicht wahrnehmen. Hier kann eine bedeutsame Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung entstehen – wodurch womöglich Anzeichen für „Mobbing“ übersehen werden.

Scham und Beschämung sind also wichtige Faktoren sozialer Inklusions- und Exklusionsprozesse, die sich mannigfaltig im Schulalltag abspielen, aber nur selten und bislang zu wenig wissenschaftlich untersucht werden. Für zukünftige emotionsfokussierte Untersuchungen im Kontext Schule erscheint es gewinnbringend,

  • Scham/Beschämung auch außerhalb von Leistungssituationen zu untersuchen

  • qualitative Forschungsansätze akteurszentriert zu konzipieren

  • Ansätze der well-being Forschung (vgl. Eid und Larson 2007; Mathews und Izquierdo 2009) mit einzubeziehen sowie

  • nach Coping-Strategien im Umgang mit wiederholtem Scham- und Exklusionserleben zu fragen.

Der Schüler, den wir hier Mike genannt haben, verfügt glücklicherweise über Coping-Strategien, die es ihm erlauben, Ausgrenzungserlebnisse in der eigenen Klasse zu kompensieren. Er hat Kontakt zu Schülern einer Parallelklasse aufgebaut, mit denen er häufig die großen Pausen verbringt. Dabei gehen sie teilweise auch zusammen in den Musikraum, wo Mike leidenschaftlich gern am Klavier improvisiert, was auf viel Anerkennung stößt. In diesem Kontext ist Mikes Verhalten absolut nicht peinlich – sondern „ziemlich cool“.