Zusammenfassung
Unter dem Eindruck steigender Unzufriedenheit mit dem politischen System und Misstrauen in gewählte RepräsentantInnen steht die Forderung nach direktdemokratischen Beteiligungsformen gegenwärtig besonders in Verbindung mit dem Rechtspopulismus. Doch bleiben die genaue Beziehung zwischen Populismus und Verfahrenspräferenzen auf individueller Ebene und die Frage, wie genau populistische Einstellungen mit Verfahrenspräferenzen zusammenhängen, weiter offen. Dieser Aufsatz schlägt eine sozialpsychologische Erklärung über Identitätsverlust und -bildung als Ergänzung der Debatte zu Verfahrenspräferenzen vor und liefert ein theoretisches Argument über die Rolle der nationalen Identität, um das Verhältnis zwischen Rechtspopulismus und Verfahrenspräferenzen zu erfassen. Daran anschließend wird empirisch der Frage nachgegangen, inwieweit sich durch populistische Einstellungen und die nationale Identifikation Präferenzen für direktdemokratische Entscheidungsverfahren erklären lassen können. Die Analysen zeigen eine Assoziation von einerseits populistischen Einstellungen und andererseits nationaler Identifikation mit Präferenzen für direktdemokratische Verfahren. Der vermutete moderierende Effekt der nationalen Identifikation auf den Zusammenhang zwischen Populismus und Verfahrenspräferenz bestätigt sich nicht. Der Artikel diskutiert vor dem Hintergrund der Ergebnisse die Bedeutung sozialpsychologischer Ansätze für politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Verfahrenspräferenzen.
Abstract
Under the impression of increasing dissatisfaction with the political system and distrust in elected representatives, the demand for direct-democratic forms of participation is currently particularly associated with right-wing populism. However, the specific relationship between populism and procedural preferences at an individual level, and the question of how exactly populist attitudes are related to procedural preferences, still remains open. This paper proposes a social psychological explanation of identity loss and formation as an addition to the debate on procedural preferences and provides a theoretical argument on the role of national identity in capturing the relationship between right-wing populism and procedural preferences. This is followed by an empirical analysis addressing the question to what extent populist attitudes and national identification can explain preferences for direct-democratic decision-making procedures. The findings suggest that right-wing populist attitudes on the one hand and national identification on the other are associated with preferences for direct democratic procedures. The expected moderating effect of national identification on the relationship between populism and procedural preferences is not confirmed. Against the background of these findings, the article discusses the importance of socio-psychological approaches to political science disputes with procedural preferences.
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1 Einleitung und Fragestellung
Über steigende Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie sowie den Präferenzen für direktdemokratische Verfahren wurde in den vergangenen Jahren besonders im Kontext rechtspopulistischer Parteien und deren Wählerschaft viel geforscht. Dem Rechtspopulismus liegen die spezifische Annahme eines homogenen VolkswillensFootnote 1 und ein Verständnis von Demokratie als unmittelbare Volksherrschaft zugrunde (Zaslove et al. 2020; Caramani 2017; Priester 2008), woraus sich einerseits die Kritik an der repräsentativen Parteiendemokratie und andererseits damit verbunden die Forderung nach direktdemokratischen Entscheidungsverfahren speist. Gewählten RepräsentantInnen wird unterstellt, diese würden nicht im Sinne des eigentlichen Souveräns, nämlich des (homogenen) Volkes handeln, und Forderungen nach mehr direkter politischer Mitbestimmung durch BürgerInnen werden jüngst wieder lauter (Schmitt-Beck et al. 2017). Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser rhetorischen Konstruktion von Gegnerschaft zwischen „Volk“ und politischer Elite (Mudde 2007) zeigten sich beispielsweise in den teilweise gewaltsamen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen oder der offenen Unterstellung einer gefälschten US-Wahl, die ihren Höhepunkt in der Erstürmung des US-Kapitols Anfang 2021 fand. Es ist die Kluft zwischen dem, was das Ideal der Demokratie verspricht, „government of the people, by the people, for the people“, und dem, was repräsentative Demokratien tatsächlich bieten, „limited and restrained majority rule in the name of the people“, welche Rechtspopulisten für sich nutzen (Bowler et al. 2017, S. 70).
Dabei werden die dahinterliegenden Gründe für den Erfolg des Rechtspopulismus insbesondere in einer zunehmenden Fragmentierung von Gesellschaften hinsichtlich kultureller, ökonomischer und sozialer Aspekte gesehen sowie eine grundlegende Krise der sozialen Identität identifiziert (Groß 2021; Blühdorn und Butzlaff 2019; Walther und Isemann 2019).
Zur Erklärung von Präferenzen für direktdemokratische Verfahren wird in der aktuellen Forschungsliteratur insbesondere der Populismus als erklärende Variable einbezogen (Mohrenberg et al. 2021). Doch ist die Beziehung zwischen populistischen Einstellungen und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren weitenhin nicht eindeutig und blendet in weiten Teilen weitere mögliche Erklärungsfaktoren aus (Gherghina und Pilet 2021). So greift die jüngere Literatur zum Populismus selbst, neben klassischen ressourcentheoretischen Ansätzen, zunehmend auch (sozial-)psychologische Erklärungsfaktoren, wie Emotionen, soziales Vertrauen oder Identität auf (Koivula et al. 2017; Rydgren 2009; Rico et al. 2020; Gustavsson und Stendahl 2020; Obradović et al. 2020; Berning und Ziller 2017; Jay et al. 2019; Mauk 2020; Steiner et al. 2021; Gidron und Hall 2020). Die Integration dieser Erklärungsansätze in das Verhältnis zwischen Populismus und Verfahrenspräferenzen blieb jedoch bislang weitgehen unberücksichtigt. Es ist weiterhin unklar, wie genau der Populismus Zugehörigkeit schafft, welche individuelle Wirkung das Zugehörigkeitsgefühl zu „dem Volk“ auf den politischen Raum und die Interpretation von Repräsentation hat und wie letztlich eine Verbindung zu Prozesspräferenzen erfasst werden kann. Der Aufsatz schlägt einen Erklärungsansatz über kollektive Identitätsbildung vor, welcher vor allem in der Forschung zu sozialen Bewegungen und Protestbewegungen Anwendung gefunden und sich dabei als gehaltvoll erwiesen hat (Huddy 2001; van Zomeren et al. 2008).
Aus einem (individuellen) Gefühl des Verlustes von Identitätsbezügen in der modernen Gesellschaft und dem psychologischen Bedürfnis nach (kollektiver) Zugehörigkeit entsteht die Nachfrage nach alternativen Identitätsbezügen (Tajfel und Turner 1979; Groß 2021; Jay et al. 2019; Huddy 2001). Dieser Beitrag argumentiert, dass sich insbesondere in der nationalen Identität ein grundlegendes Bezugskonzept zur Identifizierung mit einem Kollektiv für das Individuum findet, was vor allem durch den Rechtspopulismus aufgegriffen und in spezifischer Weise politisiert wird (Obradović et al. 2020).
Die nationale Identität als Erklärungsfaktor wurde auch in jüngeren Untersuchungen zur Demokratieunterstützung (Erhardt et al. 2021) und stellenweise zu Präferenzen für direkte Demokratie (Kokkonen und Linde 2021) eingebracht, doch blieb eine systematische Verbindung mit populistischen Einstellungen und Verfahrenspräferenzen bislang aus. Die Integration in dieses Verhältnis scheint jedoch insofern hilfreich zu sein, als dass angenommen werden kann, dass die Interpretation des Volksbegriffs und des Begriffs der Volkssouveränität auch einen Einfluss auf das individuelle Verständnis von Repräsentation hat (Blühdorn und Butzlaff 2019). Das rechtspopulistische Narrativ der nationalen Identität wird in dieser Lesart zum Instrument des Identitätsbezuges und füllt eine Lücke für diejenigen, die Kontroll- und Identitätsverlust in der Moderne erleben. Das Zugehörigkeitsgefühl zum (homogenen) Volk, welches einer kosmopolitischen Elite entgegensteht, verlagert auch individuell den Wunsch nach (guter) Repräsentation von gewählten RepräsentantInnen auf das Volk selbst und hängt somit mit der Forderungen nach mehr und direkteren Möglichkeiten der BürgerInnenbeteiligung zusammen. Vor diesem Hintergrund wird der vorliegende Beitrag von folgender Fragestellung geleitet: Wie hängt die Präferenz für direktdemokratische Verfahren mit der Ausprägung nationaler Identität und populistischen Einstellungen zusammen?
Der erste Teil des Beitrags gibt einen Überblick zum Forschungsstand zu Verfahrenspräferenzen, um die Entwicklung der Debatte zu skizzieren. Daran anknüpfend wird argumentiert, weshalb die Identitätsfrage und besonders die nationale Identität eine weitere wichtige Variable zur Erfassung der Beziehung zwischen Populismus und Verfahrenspräferenzen sind. In Abschn. 4 werden die Hypothesen formuliert und das Verhältnis von nationaler Identität und Rechtspopulismus sowie die Verbindung zu Verfahrenspräferenzen diskutiert. Anschließend wird der empirische Gehalt der formulierten Hypothesen im deutschen Kontext untersucht. Der Beitrag schließt mit einer kritischen Diskussion des methodischen Vorgehens und der Ergebnisse sowie der Bedeutung für die weitere Debatte.
2 Verfahrenspräferenzen: Ein kurzer Forschungsüberblick
Die in der Literatur als „Krise der liberalen Demokratie“ (Zaslove et al. 2020) bezeichnete Entwicklung von sinkendem politischen Vertrauen und Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie sowie dem Ruf nach direkter Demokratie wird gegenwärtig besonders mit rechtspopulistischen ParteienFootnote 2 in Verbindung gebracht (Schüttemeyer 2020; Butzlaff und Messinger-Zimmer 2019; Dalton et al. 2001; Taggart 2002). Dennoch sind Debatten über Defizite der repräsentativen Form von Demokratie und Forderungen nach Reformen sowie einer Öffnung für mehr Partizipationsmöglichkeiten durch direktdemokratische Elemente keineswegs neu und kein exklusives Thema populistischer Parteien (Dalton et al. 2001; Bürklin et al. 2001; Dzur und Hendriks 2018; Landwehr und Harms 2020; Rojon 2020).
Ebenso reicht die wissenschaftliche Debatte über die Gründe, weshalb BürgerInnen Formen der direkten und unmittelbaren politischen Beteiligung präferieren, weit zurück. Ausgehend von Ingleharts (1977) These eines postmaterialistischen Wertewandels in modernen Gesellschaften, gehen VertreterInnen des New-politics- und Critical-citizens-Ansatzes von einem allgemein steigenden Partizipationsinteresse unter besonders jüngeren BürgerInnen mit höheren sozioökonomischen Ressourcen aus (Donovan und Karp 2006). Die Nachfrage nach direkten Beteiligungsmöglichkeiten entspringt aus dieser Perspektive einem höheren politischen Interesse sowie dem Anspruch der aktiven Einflussnahme auf den politischen Prozess, um mehr Entscheidungssouveränität einzufordern (Norris 2016; Donovan und Karp 2006).
Dem entgegen argumentieren VertreterInnen der „Unzufriedenheitsthese“ (Dalton et al. 2001; Bengtsson und Mattila 2009; Coffé und Michels 2014), dass es insbesondere Menschen sind, die zu den (ökonomisch) Benachteiligten der Modernisierung gehören, wenig politisches Interesse und eine grundlegende Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der (repräsentativen) Demokratie zeigen, die für alternative Beteiligungsformen plädieren. In dieser Lesart wären die Präferenzen für direktdemokratische Verfahren ein „Instrument der Marginalisierten“ (Rojon 2020, S. 114).
Eng an den Gedanken der Unzufriedenheitsthese gelehnt, entfalten Hibbing und Theiss-Morse (2002) die Stealth-democracy-Theorie in einer Umfrage unter AmerikanerInnen über die Vorstellungen zur Regierungsform. Die Autoren heben hervor, dass sich die meisten Menschen nicht mehr Partizipationsmöglichkeiten wünschen, sondern eher eine passive Rolle im politischen Raum einnehmen wollen. Die Präferenz für unabhängige ExpertInnen, die anstelle gewählter RepräsentantInnen politische Entscheidungen treffen sollen, wird von den Autoren auf Frustrationsgefühle, geringes politisches Vertrauen sowie eine generelle Konfliktaversion zurückgeführt.
Insgesamt zeigt die Literatur jedoch keine konsistenten Ergebnisse (Bengtsson und Mattila 2009), was auch auf die unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände und Länderkontexte zurückzuführen ist. Aktuellere Studien konzentrieren sich differenzierter auf die Unterschiede in den Einstellungen bezüglich direktdemokratischer Verfahren und „stealth democracy“ (Bengtsson und Mattila 2009) sowie deliberativer und repräsentativer Demokratie (Coffé und Michels 2014) oder konkrete Verfahren, wie Referenden (Schuck und de Vreese 2015; Jacobs et al. 2018; Landwehr und Harms 2020; Rojon 2020). Zudem werden neben sozioökonomischen Variablen und Demokratiezufriedenheit zunehmend auch weitere Faktoren wie das Verständnis der Rolle als BürgerIn (Schuck und de Vreese 2015), Aspekte der Verfahrensgerechtigkeit gegenüber der Ergebnisorientierung (Landwehr et al. 2017), subjektive Bedrohungsgefühle (Rojon 2020) sowie die politische Selbstwirksamkeit (Gherghina und Geissel 2020) aufgenommen.
Insbesondere aber wird in jüngeren Untersuchungen der (Rechts‑)Populismus in den Fokus der Erklärung zu Präferenzen für direktdemokratische Verfahren gerückt (Bowler et al. 2017; Jacobs et al. 2018; Mohrenberg et al. 2021; Heinisch und Wegscheider 2020; Zaslove et al. 2020; Trüdinger und Bächtiger 2022). Bezogen auf dieses Zusammenspiel kommen viele AutorInnen zu dem Schluss, dass eine Assoziation zwischen (rechts-)populistischen Haltungen und der Präferenz für direkte Demokratie sowie konkreten Verfahren vorliegt (Zaslove et al. 2020; Heinisch und Wegscheider 2020; Mohrenberg et al. 2021; Jacobs et al. 2018). Doch existieren auch Studien, die keine eindeutigen Zusammenhänge finden (Bowler et al. 2017; Ackermann et al. 2021) und zeigen, dass die Wählerschaft populistischer Parteien nicht unbedingt homogen hinsichtlich der Präferenzen für direktdemokratische Verfahren ist (Rooduijn 2018) oder eine Assoziation mit einer passiven Vorstellung von politischer Beteiligung im Sinne der Stealth-democracy-Annahme aufzeigen (Bengtsson und Mattila 2009). Auch zeigen Studien, dass sich eine Korrelation auf Einstellungsebene nicht in einer tatsächlich vermehrten Beteilung an direkter Demokratie durch populistische BürgerInnen spiegelt (Trüdinger und Bächtiger 2022), sodass die genaue Beziehung zwischen Populismus und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren insgesamt weiterhin uneindeutig bleibt. Nach Gherghina und Pilet (2021) ist dies im Wesentlichen auf drei Gründe zurückzuführen: Zum einen untersuchen Studien unterschiedliche Länderkontexte, Zeiträume, verwenden unterschiedliche Operationalisierungen von (linkem und rechtem) Populismus auf Einstellungsebene oder anhand der Parteineigung. Zudem nehmen Untersuchungen unterschiedliche direktdemokratische Verfahren in den Fokus. Damit zeigen sich auch unterschiedliche Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen Populismus und direkter Demokratie. Der zweite Grund ist die Interpretation von Verfahrenspräferenzen selbst. Aus bisherigen Studien kann nicht abgeleitet werden, in welchem Maße durch die Befragten direktdemokratischen Verfahren den repräsentativen Mechanismen Vorrang eingeräumt wird oder ob diese lediglich als Ergänzung im Prozess der Entscheidungsfindung verstanden werden,Footnote 3 was beispielsweise die Ergebnisse von Trüdinger und Bächtiger (2022) andeuten. Als dritten Grund nennen die Autoren ein theoretisches Framing der Literatur. Hierbei ist einerseits in älteren Studien ein grundlegendes Problem der tautologischen Beziehung zwischen Populismus und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren hinsichtlich der Operationalisierung zu nennen. In neueren Studien wird dieses Problem zwar berücksichtig und es werden neben sozioökonomischen Variablen auch weitere Faktoren wie politisches Misstrauen, Unzufriedenheit, Nativismus (Kokkonen und Linde 2021), Bedrohungsgefühle oder jüngst auch Verschwörungsglaube (Pantazi et al. 2021) einbezogen. Damit stützt sich die Erfassung des Verhältnisses zwischen Populismus und der Präferenz für direkte Demokratie andererseits jedoch vor allem auf Erklärungsfaktoren des Populismus selbst (Gherghina und Pilet 2021). Dem entgegen fehlen wichtige Variablen, welche die Literatur zum Populismus ergänzen, doch nicht für die Erklärung von Verfahrenspräferenzen aufgenommen wurden. Dazu gehören beispielsweise das Gefühl der sozialen Marginalisierung (Gidron und Hall 2020), soziales Vertrauen (Keefer et al. 2019; Newton 2001), Emotionen (Rico et al. 2020), Persönlichkeitsmerkmale (Bakker et al. 2016) und Gruppenidentitäten (Jay et al. 2019; Meléndez und Kaltwasser 2019; Obradović et al. 2020).
Der vorliegende Beitrag sieht insbesondere in der Identität als individuelles und kollektives sozialpsychologisches Konzept einen wichtigen Ansatz, welcher als theoretischer Brückenschlag dienen kann, um ökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse sowie deren Folgen sowohl auf Mikro- als auch Makroebene erfassen zu können (Groß 2021). Der Fokus liegt auf der nationalen Identitätsbildung. Besonders die nationale Identität, welche insbesondere der Rechtspopulismus aufgreift, beeinflusst letztlich das individuelle Verständnis von Repräsentation und mündet in der Forderung nach direkter Demokratie, so die Annahme des vorliegenden Beitrags. Jay et al. (2019) argumentieren beispielsweise die Rolle der nationalen Identität als Erklärungsfaktor für den Erfolg des französischen Rechtspopulismus und auch andere AutorInnen, wie Blühdorn und Butzlaff (2019), betonen die Relevanz von kollektiven Identitäten. Ein sozialpsychologischer Zugang über das Identitätskonzept kann insgesamt für das Verständnis des Verhältnisses von Populismus und Verfahrenspräferenzen hilfreich sein und die Debatte ergänzen.
3 Zur Krise kollektiver Identitäten und der Rolle von nationaler Identität
Das Streben nach einer sozialen Identität ist ein grundlegendes psychologisches Bedürfnis (Tajfel und Turner 1979), wonach Menschen dazu neigen, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und diese Gruppe sowie deren Angehörige auch positiv zu bewerten. Umgekehrt führt die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen zusätzlich zu einer positiven Identifikation mit der Eigengruppe (Tajfel und Turner 1979; Gustavsson und Stendahl 2020; Banks 2016). Die soziale Zuschreibung schafft für das Individuum ein soziales Selbstverständnis („Ich-Identität“; Walther und Isemann 2019, S. 4), erfüllt eine Orientierungsfunktion hinsichtlich Einstellungen und Handlungen (Haller und Müller 2006, S. 13) und hat eine komplexitätsreduzierende Funktion (Groß 2021). Aus der Identifikation mit einer Gruppe und der Abgrenzung zu Fremdgruppen entspringt beispielsweise auch soziales Vertrauen (Fuchs et al. 2002; Gustavsson und Stendahl 2020; Banks 2016) und Kooperationsprobleme können so überwunden werden: In einer großen Gruppe, ist es sehr unwahrscheinlich, dass das Individuum einer Mehrzahl an anonymen MitbürgerInnen Vertrauen entgegenbringen kann. Eine Gruppenidentität kann für das Individuum diese Hürde überwinden: „Invoking the shared belonging to some community – be it an extended family, a religious group, a location, a college, service in a military unit, a nation, or many others – and its presumably distinctive history, identity, or spirit, may also trigger the chain effect of trusting, recollection, obligation, and reproduction of the trust relation“ (Offe 1999, S. 63).
Ändern sich kollektive Identitäten oder brechen diese auf, hat dies auch Auswirkungen auf die (repräsentative) Demokratie, denn das Verständnis des persönlichen „Selbst“ und der kollektiven Identität hat einen Einfluss auf die individuelle Vorstellung über die Funktionsweise von gesellschaftlichen Institutionen, politischer Repräsentation und Institutionenvertrauen (Heinisch und Wegscheider 2020; Blühdorn und Butzlaff 2019; Jacobs et al. 2018). Während ModernisierungstheoretikerInnen beispielweise noch davon ausgegangen sind, dass unter anderem durch kulturelle Heterogenisierung und ein allgemein steigendes Bildungsniveau bedingt BürgerInnen politisch selbstbewusster und partizipationsorientierter werden und Gesellschaften insgesamt demokratischer und pluralistischer, stellt das Aufkommen rechtspopulistischer Akteure sowie ein zunehmendes Misstrauen in die repräsentative Demokratie diese Sichtweise grundlegend infrage.
Blühdorn und Butzlaff (2019) führen diese Entwicklung auf die Auflösung von kollektiven Identitäten („liquid identity“) zurück. Die Annahme ist, dass es in postmodernen Gesellschaften keine konsistenten und langfristig stabilen Identitäten, wie beispielsweise die Identifikation mit einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse oder traditionellen Gemeinschaften, wie der Kirche, mehr gibt, sondern sich vielmehr ein „Patchwork“ aus mehreren Identitäten herausgebildet hat, die sich für das Individuum mitunter nicht zu einem kohärenten Selbstverständnis oder gar einer kollektiven IdentitätFootnote 4 zusammenfügen lassen. Ein Zusammenspiel aus verloren gegangenem Sicherheitsgefühl durch das Aufbrechen traditioneller gesellschaftlicher Strukturen bei gleichzeitiger Individualisierung und Anpassungsherausforderungen an die Moderne bewirkt den Zerfall traditioneller Identitätsbezüge (Rippl und Seipel 2018). Hinzu kommt eine Verschärfung der (materiellen) Ressourcenknappheit, da ökonomische Ungleichheiten in Gesellschaften in den vergangenen Jahren nicht abgebaut wurden, sondern zugenommen haben (Blühdorn und Butzlaff 2019, S. 201) und sich diese Ungleichheit auch in der politischen Repräsentation spiegelt (Schäfer und Elsässer 2018). Diese Entwicklungen haben, aus Perspektive der Modernisierungsverliererhypothese, insbesondere bei denjenigen Menschen eine Unsicherheit hervorgerufen, die über weniger sozioökonomische Ressourcen verfügen (Anduiza et al. 2019; Gidron und Hall 2020). Jedoch ist diese Unsicherheit nicht notwendigerweise an einen tatsächlichen Statusverlust gekoppelt, denn Liberalisierungsprozesse in der Gesellschaft haben beispielsweise auch traditionelle Geschlechter- und Familienbilder aufgebrochen, sodass ein kultureller Bedeutungsverlust, unabhängig der sozioökonomischen Ressourcen, einen breiteren Teil der Gesellschaft betrifft (Rippl und Seipel 2018, S. 240). Das Resultat ist einerseits ein sinkendes Vertrauen in bestehende politische Institutionen der repräsentativen Demokratie und andererseits der Ruf nach unmittelbarer Repräsentation und direkter Partizipation durch BürgerInnen selbst (Blühdorn und Butzlaff 2019).
Aus der beschriebenen Erosion kollektiver Identitäten sowie politischen und ökonomischen Veränderungen rückt die Suche nach Identifikation und Orientierung für Individuen in den Vordergrund. Eine wesentliche Rolle spielt hier die nationale Identität als ein Kernelement gesellschaftlicher Identität (David und Bar-Tal 2009). Trotz unterschiedlicher Interpretationen in der Literatur dessen, was Teil der nationalen Identität ist und welche unterschiedlichen Dimensionen diese umfasst (Abold und Juhász 2007; Westle 2013; Blank und Schmidt 2003; Gustavsson und Stendahl 2020), kann die nationale Identität als grundlegendes Element kollektiver Identitätsbildung in einer Gesellschaft beschrieben werden (David und Bar-Tal 2009) und Studien zeigen, dass diese an Bedeutung gewinnt, wenn es zu gesellschaftlichen Verteilungskonflikten kommt (Jay et al. 2019). Damit rückt der Beitrag neben anderen möglichen individuellen psychologischen Faktoren, wie dem sozialen und politischen Vertrauen, der Selbstwirksamkeitsüberzeugung, dem Gefühl sozialer Marginalisierung oder einem Anti-Elitismus, besonders die nationale Identität in den Vordergrund, da diese als Grundlage für Identitätsbildung verstanden wird.
Insbesondere der Rechtspopulismus greift die nationale Identität auf und verspricht Orientierung in postmodernen Gesellschaften, indem Feindbilder erzeugt und „Identitätsgemeinschaften“ rhetorisch konstruiert werden (Rippl und Seipel 2018, S. 251; Meléndez und Rovira Kaltwasser 2019). Bos et al. (2020, S. 16) bemerken in diesem Zusammenhang gar: „The study of populism is, ultimately, the study of social identity.“
4 Nationale Identität, Rechtspopulismus und der Zusammenhang mit Präferenzen für direktdemokratische Verfahren
Im Folgenden werden die Annahmen des vorliegenden Beitrags über den Zusammenhang von nationaler Identität und populistischen Einstellungen mit der Präferenz für direktdemokratische Verfahren hergeleitet.
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Populistische Einstellungen sind mit einer höheren Präferenz für direkte Formen der Partizipation assoziiert.
In der Literatur wird Populismus oftmals als „dünne“ Ideologie verstanden (Akkerman et al. 2014), welcher im Gegensatz zu einer „dicken“ Ideologie über keine übergreifenden Kernkonzepte zu Beantwortung gesellschaftlicher Herausforderungen verfügt. Insbesondere kann die Freund-Feind-Unterscheidung des (politischen) Raums als übergreifendes Konzept begriffen werden, was je nach Kontext mit unterschiedlichen Inhalten angereichert wird. Folgt man der Minimaldefinition des Populismus nach Mudde und Rovira Kaltwasser (2014), so ist dieser durch ein antagonistisches Weltbild gekennzeichnet, in dem sich „the people“ und eine (korrupte) Elite gegenüberstehen, sowie die Vorstellung darüber, dass „das Volk“ einen homogenen Willen hat.
Aus der Vorstellung eines homogenen Volkswillens kommt einerseits der anti-pluralistische Charakter des Populismus (Bang und Marsh 2018; König 2017) zum Ausdruck und auf der anderen Seite die Forderung der Populisten selbst, dass der „wahre Wille des Volkes“ nur durch eine direkte Form der BürgerInnenbeteiligung im politischen Entscheidungsprozess abgebildet werden könne. Populismus in diesem Sinne wird in der Literatur auch als eine Form der Repräsentation begriffen, in der politisches Handeln einzig durch den uneingeschränkten Willen des Volkes geleitet werden muss (Caramani 2017, S. 55). „Is it the citizens or the elected representatives who should have a central role in policy making?“ (Font et al. 2015), ist die zentrale Frage, die aufgeworfen wird.
Eine populistische Einstellung spiegelt demnach eine Auffassung von Demokratie wider, in der die unbedingte Souveränität des Volkes und ein radikaler Dualismus zwischen Volk und Elite hervorgehoben werden (Akkerman et al. 2014). Aus populistischer Perspektive ist die direkte Demokratie als Gegenpart zur repräsentativen Demokratie zu verstehen, welche die Kontrolle der Regierung in die Hände des Volkes legt (Dalton et al. 2001). Es besteht demnach Grund zu der Annahme, dass Menschen, die zu einem gewissen Grad populistische Einstellungen haben und zu einer Vorstellung der Gesellschaft neigen, in der es einen homogenen Volkswillen gibt, der den Interessen einer (politischen) Elite entgegensteht, auch eher direktdemokratische Verfahren präferieren (Mohrenberg et al. 2021; Jacobs et al. 2018; Talukder und Pilet 2021).
Auch wenn augenscheinlich hier eine tautologische Beziehung vorherrscht, zeigt die Literatur teilweise unterschiedliche Befunde, was auch in den verschiedenen Länderkontexten der Untersuchungen, der Operationalisierung von Populismus sowie dem Fokus auf unterschiedliche Formen direkter Demokratie begründet ist (Gherghina und Pilet 2021). Das Argument, dass es insbesondere diejenigen sind, die direktdemokratischen Verfahren positiv gegenüber eingestellt sind, die nicht vom gegenwärtigen politischen System profitieren, erscheint zwar plausibel, doch zeigen beispielsweise Talukder und Pilet (2021), dass auch das soziale Vertrauen, die Bewertung der eigenen Selbstwirksamkeit sowie das politische Interesse eine Rolle spielen. Auch ist darauf zu verweisen, dass es sich bezogen auf Verfahrenspräferenzen von BürgerInnen und insbesondere denjenigen mit populistischen Haltungen nicht zwangsweise um einen Gegensatz zwischen repräsentativen und direktdemokratischen Verfahren handeln muss (Gherghina und Pilet 2021). Die Präferenz für direkte Beteiligungsmöglichkeiten könnte auch im Sinne einer Ergänzung des politischen Systems oder bezogen auf bestimmte gesellschaftliche Fragen interpretiert werden und auch von nicht-populistischen BürgerInnen präferiert werden (Ackermann et al. 2021). Insgesamt kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es auf Einstellungsebene eine enge Verknüpfung zwischen Populismus und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren gibt.
H2
Die nationale IdentifikationFootnote 5 geht mit einer höheren Präferenz für direkte Formen der Partizipation einher.
Vor allem wenn die eigene sozioökonomische Lage bedroht wird, rückt das psychologische Streben nach Identitätsbezügen in den Fokus (Tajfel und Turner 1979; David und Bar-Tal 2009) und alternative Identifikationskonzepte, wie die nationale Identität, gewinnen an Bedeutung (Jay et al. 2019, S. 422; Groß 2021; Spruyt et al. 2016). Sowohl hinsichtlich der Messung der Dimensionen als auch der normativen Bestimmung von nationaler Identität herrscht in der Literatur eine anhaltende Debatte (Abold und Juhász 2007; Westle 2013; Blank und Schmidt 2003). Bezogen auf die Wirkung einer kollektiv geteilten nationalen Identität für die Demokratie sehen AutorInnen grundlegend eine positive Beziehung, in der ein diffuses Gemeinschaftsgefühl nicht nur ein kollektives Vertrauen erzeugt, sondern sich gleichsam positiv auf die Qualität und Unterstützung von Demokratien auswirkt (Gabrielsson 2021). Wichtig hierbei ist jedoch das spezifische Verständnis von nationaler Identität, denn ethnokulturelle und staatsbürgerliche Vorstellungen der Nation hängen in unterschiedlicher Weise mit beispielsweise Parteipräferenzen (Mader et al. 2021; Erhardt et al. 2021), aber auch mit Verfahrenspräfenzen (Kokkonen und Linde 2021) zusammen. Filsinger et al. (2021) zeigen für den deutschen Kontext, dass eine staatsbürgerliche Vorstellung von nationaler Identität und eine ethnische Interpretation unterschiedlich mit populistischen Haltungen assoziiert sind, wenn sozioökonomische Variablen berücksichtig werden, was auf die Relevanz einer differenzierten Betrachtung der nationalen Identität verweist.
Kokkonen und Linde (2021) weisen einen Zusammenhang zwischen Nativismus, verstanden als enges Verständnis des „(ethnisch) einheimischen Volkes“ und der Abgrenzung zu „nicht-einheimischen“ Personen und Ideen, und der Präferenz für direkte Demokratie im Sinne der Mehrheitsherrschaft nach. Die Autoren grenzen Nativismus von Populismus ab, denn Nativismus beziehe sich auf eine horizontale Abgrenzung (nach ethnischen Merkmalen), während Populismus eine vertikale Abgrenzung („das Volk“ vs. Elite) vornehme. Dem entgegen argumentiert dieser Beitrag, dass nicht die Art der Abgrenzung zu anderen Gruppen eine Rolle spielt, sondern die nationale Identität als solche die Funktion von Gruppenzugehörigkeit und Wiedergewinnung der Kontrolle für das Individuum erfüllt (Jay et al. 2019, S. 422). Durch den Rechtspopulismus wird die nationale Identität hinsichtlich der horizontalen und vertikalen Abgrenzung zu Fremdgruppen und -ideen (Elite, Werte, Normen oder ethnische Minderheiten) konkretisiert.
Wenn grundlegend eine nationale Identität vorherrscht, ist davon auszugehen, dass die Mitglieder dieser Gruppe durch das Individuum als homogen aufgefasst werden – hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit, die unterschiedlich kulturell, ethnisch oder historisch markiert sein kann, aber auch hinsichtlich gemeinsamer Interessen. So weisen David und Bar-Tal (2009, S. 359) auf eine wichtige Wirkung der Identifikation mit dem Kollektiv der „Nation“ für das Individuum hin: die Wahrnehmung eines gemeinsamen Schicksals, geteilter Normen, Werte und Überzeugungen sowie die positive Evaluation des Kollektivs. Somit kann beispielsweise soziales Vertrauen zu der Vielzahl an anonymen Gruppenmitgliedern entstehen (Offe 1999), aber auch die Wahrnehmung (scheinbar) geteilter Interessen. Handelt sich dabei um die Wahrnehmung politischer Interessen, dann ist es plausibel anzunehmen, dass das Individuum die politischen Anliegen der Bezugsgruppe als (homogene) Mehrheitsmeinung interpretiert und diese Vorstellung sich auch auf die Frage von Entscheidungsverfahren auswirkt (Landwehr und Harms 2020).
Somit sollte die nationale Identifikation insbesondere mit der Präferenz für direktdemokratische Verfahren einhergehen, denn direktdemokratische Verfahren unterscheiden sich von beispielsweise deliberativen Verfahren hinsichtlich der Reichweite der Mitbestimmung im politischen Raum. Während deliberative Verfahren Instrument der Willensbildung und Legitimation öffentlicher Entscheidungen sind, verlagert sich die Entscheidungsgewalt bei direktdemokratischen Verfahren grundlegend auf die BürgerInnen selbst, denn direktdemokratischen Verfahren liegt der Gedanke einer unmittelbaren Teilhabe am Entscheidungsprozess zugrunde (Gherghina und Geissel 2020). Daraus leitet sich die Annahme ab, dass Menschen, die eine nationale Identifikation aufweisen, tendenziell auch eher offen gegenüber direktdemokratischen Verfahren sein sollten, da diese Entscheidungsverfahren den Mehrheitswillen ins Zentrum rücken.
H3
Der Effekt populistischer Einstellungen auf die Präferenz für direktdemokratische Verfahren wird durch die Ausprägung der nationalen Identifikation moderiert.
Aus sozialpsychologischer Sicht auf Intergruppenbeziehungen neigen insbesondere rechtspopulistische Führungsfiguren dazu, sich rhetorisch als „wahre“ Vertreter des Volkes darzustellen und sich selbst als Teil der Gruppe zu definieren. Somit werden sie zu „entrepreneurs of social identity“ (Obradović et al. 2020, S. 126). In diesem Zusammenhang ist die Überhöhung der eigenen Nation (Nationalstolz), welche die Zugehörigkeit zur In-Group bestimmt (Obradović et al. 2020, S. 127), besonders relevant.Footnote 6 In der Verwendung des „homogenen Volkes“ als Bezugskonzept findet der Rechtspopulismus eine symbolische Repräsentationsfunktion (Caramani 2017) und das Konzept „das Volk“ wird besonders von ethnokulturellen, historischen und mythologischen Merkmalen durch den Rechtspopulismus markiert.
Für die Frage, wie genau der Rechtspopulismus die nationale Identität aufgreift, ist ein Blick in die Literatur über soziale Bewegungen und der Protestforschung hilfreich. Soziale Bewegungen konstruieren konfliktive Gesellschaftsstrukturen, welche als Rahmen für die Bildung eines Identitätsbezuges fungieren und von der Gruppe auch kollektiv geteilt werden (Anduiza et al. 2019). Besonders in der Partizipations- und Protestforschung haben Ansätze zu Intergruppenbeziehungen und Theorien zur sozialen Identität aufschlussreiche Erkenntnisse zur Frage, weshalb sich Menschen beispielsweise an sozialen Bewegungen beteiligen, geliefert. Van Zomeren et al. (2008) zeigen, dass eine politisierte kollektive Identität die Beteiligung an sozialen Bewegungen empirisch gut erklären kann. Unter einer politisierten Identität wird ein von Gruppenangehörigen geteiltes kollektives Bewusstsein verstanden, in dem das politische Anliegen der Gruppe gleichsam zu einem persönlichen Anliegen wird (van Zomeren et al. 2008, S. 507).Footnote 7 Entsprechend schafft auch der Rechtspopulismus ein kollektives Bewusstsein, indem ein Identitätsbezug („the people“) hervorgehoben und Gegenparts („the corrupt elite“) als Abgrenzung betont werden (Anduiza et al. 2019; Obradović et al. 2020). Aus der Vorstellung einer homogenen Bevölkerung entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit. „Hence populist ideas provide both identity and purpose (the people’s will against the elite), two important elements behind any process of political mobilization“ (Anduiza et al. 2019, S. 110).
Das diffuse Zugehörigkeitsgefühl zu einem Kollektiv (der Nation) wird durch den Rechtspopulismus konkretisiert und in dem Sinne politisiert, als dass Verantwortliche für gesellschaftliche Missstände (wie die politische Elite) durch den Rechtspopulismus benannt und Lösungen, wie beispielsweise die Durchsetzung des Mehrheitswillens durch direktdemokratische Verfahren, angeboten werden (Obradović et al. 2020, S. 127). Damit entsteht eine politisierte Identität, verstanden als eine Art mentale Landkarte des politischen Raums, in der Freund- und Feindbilder existieren und politische Präferenzen, aber auch beispielsweise Verfahrenspräferenzen strukturiert werden. Somit unterscheidet sich eine politisierte Identität auch von Clustern an Einstellungen, da Identität emotional und kognitiv mit einer In-Group verknüpft ist (Meléndez und Rovira Kaltwasser 2019, S. 522).
Forderungen nach direkten Formen der politischen Beteilung spiegeln die populistische Perspektive auf den politischen Raum wider, denn die „Stimme des Volkes“ wird in den Vordergrund gestellt und somit die Frage, wer die zentrale Rolle im politischen Entscheidungsprozess spielen soll, beantwortet: das (homogene) nationale Volk. Die Hervorhebung der nationalen Zugehörigkeit sowie der Volkssouveränität durch den Rechtspopulismus kann dazu beitragen, dass BürgerInnen ihre Aufmerksamkeit auf politische Sachfragen lenken, ihr Partizipationsniveau ausweitenFootnote 8 (Olivas Osuna 2021) und letztlich Präferenzen für direkte und unmittelbare Entscheidungsverfahren bilden. Dies trifft besonders auf diejenigen zu, die zusätzlich zu einer populistischen Einstellung eine starke nationale Identifikation aufweisen. Der Zusammenhang zwischen populistischen Einstellungen und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren sollte demnach durch die Ausprägung der nationalen Identifikation moderiert werden. Es wird angenommen, dass bei Vorliegen einer starken Ausprägung populistischer Einstellungen und einer hohen nationalen Identifikation die Präferenz für direkte Demokratie am höchsten sein sollte. Die Hypothese wird verworfen, wenn sich bezüglich der Zustimmung zu direktdemokratischen Verfahren kein Niveauunterschied populistischer Einstellungen hinsichtlich der Ausprägung nationaler Identifikation zeigt.
5 Datengrundlage und Operationalisierung
Abb. 1 fasst die formulierten Hypothesen zusammen: Es wird angenommen, dass populistische Einstellungen aufgrund des spezifischen Verständnisses des politischen Raums und der Annahme über einen geteilten Willen der Mehrheit mit der Präferenz für direktdemokratische Verfahren verknüpft sind (H1). Demokratische Verfahren sind als diffuse Zustimmung zu mehr BürgerInnenbeteiligung und die Zustimmung für ein spezifisches Instrument abgebildet. Weiter wird argumentiert, dass die (individuelle) nationale Identifikation ebenso mit der Präferenz für direktdemokratische Verfahren assoziiert ist (H2), denn die emotionale Bindung an ein Kollektiv, welches als gesellschaftliche Mehrheit auftritt, ist mit der individuellen Überzeugung verknüpft, dass dieses Kollektiv gemeinsame Interessen und Überzeugungen teilt. Somit impliziert die nationale Identifikation bereits die Idee eines – wenn auch nicht näher spezifizierten – gemeinsamen Willens, was wiederum an die Präferenz für direktdemokratische Verfahren geknüpft sein sollte.
Das Kernargument geht von einer moderierenden Wirkung der nationalen Identität auf das Verhältnis von Populismus und Verfahrenspräferenz aus (H3). Der Rechtspopulismus konkretisiert den Gedanken eines gemeinsamen (politischen) Willens, definiert die „Fremdgruppen“, die diesen Willen und die Souveränität bedrohen, und bietet konkrete Lösungen (mehr direktdemokratische Verfahren). Somit politisiert der Rechtspopulismus die nationale Identität und es wird ein gemeinsamer Effekt auf die Präferenz für direkte Demokratie erwartet.
Die Hypothesen (Abb. 1) werden im deutschen Kontext geprüft, wobei Deutschland in zweierlei Hinsicht als Sonderfall gewertet werden kann: Zum einen galt Deutschland lange Zeit als Ausnahme, was das Vorhandensein erfolgreicher rechtspopulistischer Akteure betrifft (Häusler 2015). Zum anderen ist das Verhältnis zur nationalen Identifikation historisch begründet besonders schwierig und vor allem mit dem Rechtsextremismus assoziiert (Filsinger et al. 2021). Insbesondere der rasche Erfolg der AfD (Alternative für Deutschland) wird als Anzeichen für Repräsentationsdefizite im deutschen Parteiensystem und Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der repräsentativen Demokratie gewertet (Schüttemeyer 2020, S. 188). Decker et al. (2021, S. 42) zeigen eine hohe Zustimmung unter den Befragten, die der AfD zugeneigt sind, zu der Aussage, dass man mehr Mut zum Nationalgefühl haben solle. Unabhängig davon ist jedoch insgesamt ein Wandel des Verhältnisses der deutschen Bevölkerung zur nationalen Identität bereits länger zu beobachten, was Mader (2016) diskutiert und hierbei insbesondere auf die unterschiedlichen Konnotationen der nationalen Identität verweiset. Somit kann ein Anstieg eines Bedürfnisses an nationaler Identifikation nicht nur mit rechtspopulistischen Strömungen in Verbindung gebracht werden. Insgesamt erscheint es plausibel, den deutschen Kontext als gesondert zu betrachten.
Als Datengrundlage für die empirische Untersuchung dient die Querschnittserhebung ALLBUS aus dem Jahr 2018 (GESIS 2019). Dabei handelt es sich um eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe, die mittels geschichteter Zufallsauswahl in zwei Stufen rund 3477 volljährige Personen in Ost- und Westdeutschland einschließt. Der Erhebungszeitpunkt liegt knapp fünf Jahre nach der Gründung und der schon zu diesem Zeitpunkt erfolgreichen AfD in Deutschland. Die AfD forderte in dieser frühen Phase bereits in ihrem Grundsatzprogramm die Einführung von Volksentscheiden nach Schweizer Vorbild und die damalige Vorsitzende Petry stellte die Forderung nach direkter Demokratie gar als Alleinstellungsmerkmal der AfD dar (Schellhöh 2018). Zudem wurde auch seitens einer breiteren Bevölkerungsschicht – auch unter dem Eindruck der Erfahrungen aus den massiven Protesten rund um das Bauprojekt Stuttgart 21 – die Forderung nach mehr BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten lauter. Somit sind der Erhebungszeitraum sowie auch der deutsche Kontext für die Untersuchung besonders interessant.
Bezogen auf direktdemokratische Verfahren sind Volksabstimmungen die am häufigsten genutzten Verfahren direkter Teilhabe. Zur Operationalisierung der abhängigen Variable sind im verwendeten Datensatz zum einen die Zustimmungsfrage nach mehr BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten auf Bundesebene sowie die Frage, ob Volksabstimmungen fester Bestandteil der Demokratie sein sollten, enthalten. Während das erste Item als ganz grundsätzliche diffuse Haltung zu mitunter unterschiedlichen Formen der direkten Beteiligung interpretiert werden kann, erfasst das zweite Item ein konkretes Instrument (Abb. 1). Die inhaltliche Trennung stützt sich auch in einer einfachen Inspektion der Konsistenz einer gemeinsamen Skala: Hier liegt der Cronbachs-Alpha-Wert bei 0,57, womit eine Zusammenfassung der beiden Items als nicht sinnvoll erachtet werden kann.
Insbesondere bezüglich der grundlegenden Zustimmung zu mehr BürgerInnenbeteiligung wird eine hohe Korrelation mit populistischen Haltungen erwartet (Zaslove et al. 2020). Castanho Silva et al. (2020) stellen sieben verschiedene Populismusskalen im einem länderübergreifenden Vergleich gegenüber. Die von Akkerman et al. (2014) vorgeschlagene Skala, die sich auch in der breiteren Literatur etabliert hat, stellt sich grundsätzlich als valides Messinstrument dar (Castanho Silva et al. 2020, S. 421). Um populistische Einstellungen zu erfassen, wird daher die Populismusskala des ALLBUS nach Akkerman et al. (2014) verwendet. Diese beinhaltet Fragen zum Verhältnis zwischen BürgerInnen und RepräsentantInnen, dem Verständnis von politischer Entscheidungsfindung und Durchsetzung sowie dem Glauben an einen homogenen Volkswillen.
Insbesondere die Frage, ob das Volk die politischen Entscheidungen treffen soll, erscheint hier jedoch problematisch. Da explizit nach der zentralen Rolle von BürgerInnen im Entscheidungsprozess sowie der Repräsentation gefragt wird, ergibt sich der Verdacht, dass die Messung von populistischen Einstellungen anhand dieser Items die Haltung zu Volksabstimmungen bereits impliziert (Problem der Tautologie; Gherghina und Pilet 2021). Mohrenberg et al. (2021) beispielsweise berücksichtigen diesen Umstand, indem Fragen zur Volkssouveränität aus der Populismusmessung ausgeschlossen werden. Entsprechend erscheint es für das Vorgehen sinnvoll zu sein, die Items auszuschließen, welche die Zustimmung zu der Aussage, dass das Volk die politischen Entscheidungen treffen sollte, sowie der Aussage, dass einfache BürgerInnen die besseren VolksvertreterInnen seien, erfragen. Die Skala bleibt auch nach Ausschluss der beiden Items konsistent (Cronbachs Alpha von 0,73).
Aus psychologischer Perspektive wird die nationale Identität als eine grundsätzliche emotionale Bindung an die Nation beschrieben (Blank und Schmidt 2003; Mader 2016; Festinger 1954). Blank und Schmidt (2003) grenzen hierbei Patriotismus, definiert als emotionale Beziehung zu konkreten Bereichen der Nation, wie der Verfassung, von Nationalismus ab. Nationalismus wird als eine Idealisierung der Nation begriffen (Blank 2003, S. 262). Es ist wichtig auf diese Unterscheidung hinzuweisen und auf den Umstand, dass eine Definition von nationaler Identität in der Forschungsliteratur bislang aussteht, sich aber insgesamt als multidimensionales latentes Konstrukt verstehen lässt. Auch Filsinger et al. (2021) unterscheiden zwischen einer staatsbürgerlichen und einer ethnischen Konnotation von nationaler Identität und zeigen für beide Konstrukte grundlegend einen positiven Zusammenhang mit Populismus: „[…] it seems that a civic national identity nevertheless constructs an in-group-out-group distinction that makes supporters of such an identity more prone to populism“ (Filsinger et al. 2021, S. 669).
Da für die Annahmen dieses Beitrags insbesondere der Aspekt der diffusen emotionalen Bindung an ein Kollektiv wichtig ist, wird eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Komponenten der nationalen Identität (Erhardt et al. 2021; Mader 2016) nicht vorgenommen. Der Datensatz enthält drei Items, die auf eine diffuse Bindung an die Nation abzielen: die Frage, inwieweit die InterviewpartnerInnen sich mit Deutschland als Ganzem verbunden fühlen, der Zustimmung zu der Aussage, dass Befragte stolz darauf sind, Deutsche zu sein, sowie dass man mehr Mut zum Nationalgefühl haben solle. Alle Variablen werden dichotomisiert, wobei die Ausprägung 1 eine Zustimmung zu den Aussagen markiert. Danach werden die Variablen für die Eignung auf eine gemeinsame Skala getestet: Der Cronbachs-Alpha-Wert liegt bei der Berücksichtigung der drei Variablen bei 0,61, was als fragwürdig interpretiert wird. Unter Einbeziehung der beiden Zustimmungsitems liegt der Wert bei 0,74. Somit scheint die Verbundenheit mit Deutschland in Abgrenzung zu Stolz und Nationalgefühl zu stehen, weshalb ein Index aus den Items zu Stolz und Nationalgefühl gebildet wird. Die Verbundenheit kann als allgemeine emotionale Beziehung zu Deutschland interpretiert werden. Die Fragen zu Stolz und Nationalgefühl kennzeichnen eine stärkere emotionale Bindung an die nationale Angehörigkeit, doch handelt es sich hierbei um Einstellungsvariablen, wodurch die Aussagekraft der Analysen eingeschränkt bleibt. Zudem ist auf eine insgesamte Einschränkung hinsichtlich der Messung von nationaler Identität zu verweisen, wenn man diese als mehrdimensionales Konstrukt begreift (Filsinger et al. 2021; Erhardt et al. 2021; Blank und Schmidt 2003; Huddy 2001; Gustavsson und Stendahl 2020).
Der Datensatz enthält darüber hinaus die Frage, ob eine Person sich in der Vergangenheit tatsächlich an einer Volksabstimmung beteiligt hat. Es kann davon ausgegangen werden, dass Personen, die bereits grundlegend Erfahrungen mit direktdemokratischen Verfahren gesammelt haben, diesen auch eher positiv gegenüber eingestellt sind (Werner und Jacobs 2021; Gherghina und Geissel 2020). Es erscheint daher plausibel für die Erfahrung mit direktdemokratischen Instrumenten zu kontrollieren.
Zudem wird das Bildungsniveau als weiterer Einflussfaktor auf die Verfahrenspräferenzen genannt (Gherghina und Pilet 2021; Talukder und Pilet 2021). Weiterhin wird auf die Rolle der Unzufriedenheit mit der Demokratie (Bowler et al. 2007; Mohrenberg et al. 2021; Jacobs et al. 2018) sowie die ideologische (Links-Rechts‑)Ausrichtung verwiesen. Trüdinger und Bächtiger (2022) beispielsweise argumentieren, dass der wesentliche Unterschied zwischen linker und rechter (populistischer) Ideologie die Interpretation der Funktion von direkten Verfahren sei – es um die Abgrenzung zur politischen Elite geht oder um eine integrative Partizipation. Zwar soll diese Differenz hier nicht weiter thematisiert werden, doch scheint es ratsam, zumindest für die subjektive ideologische Verortung zu kontrollieren. Die berechneten Modelle zeigen für die Kontrollvariablen Alter, Geschlecht und Einkommen eine Verletzung der Voraussetzung für die korrekte Schätzung nach dem Brant-Test (Abschn. 6), weshalb diese aus den Analysen ausgenommen werden.
6 Empirische Analyse
Die deskriptive Verteilung zu Präferenzen für Volksabstimmungen als konkretes Instrument sowie für mehr BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten auf Bundesebene (Abb. 2 und 3) zeigt eine insgesamt hohe Zustimmung unter den Befragten des ALLBUS 2018.
Für beide Variablen lässt sich eine linksschiefe Verteilung ablesen, was Implikationen für die Untersuchungsmethode hat: Grundsätzlich kann zwar bei ordinalen abhängigen Variablen ein OLS (Ordinary Least Squares)-Verfahren genutzt werden, da bei annähernder Normalverteilung der Variablen die Schätzer erwartungstreu bleiben (Windzio 2013, S. 219). Die Verteilungen zeigen jedoch eine deutliche Schiefe, womit bei der OLS-Regression nicht von unverzerrten Schätzern ausgegangen werden kann. Daher wird für die Analyse auf ein ordinal logistisches Verfahren (OLR) mit Likelihood-Schätzung zurückgegriffen (Kühnel und Krebs 2010).
Insgesamt erweisen sich logistische Regressionen als robustere Schätzverfahren gegenüber der OLS (Bittmann 2018). Voraussetzung für das Verfahren ist, dass die Relation der Kategorien eine Kumulation sinnvollerweise zulassen und die Prädiktoren in allen Stufen der kumulierten Kategorien den gleichen Effekt haben (Proportional-Odds-Bedingung; Brant 1990; Kersten 2016; Kühnel und Krebs 2010, S. 864).
Um die Annahme, dass der Vektor der Regressionsgewichte unverändert bleibt, zu prüfen, werden die Testergebnisse des Brant-TestsFootnote 9 in den Tabellen mit angegeben und problematische Variablen aus der Analyse ausgeschlossen (Brant 1990; Bittmann 2018; Windzio 2013). Aufgrund des Brant-Tests mussten die Kontrollvariablen zu Alter, Geschlecht und Einkommen aus der weiteren Analyse ausgeschlossen werden. Da ein Ausschluss theoretisch relevanter Kontrollvariablen zu einer Fehlspezifikation führen könnte, wurden die geschätzten Modelle mithilfe des Link-Tests geprüft (Bittmann 2018). Ähnlich wie in der Spezifikation linearer Regressionsmodelle führt eine hohe Korrelation zwischen der erklärenden Variablen zu einer verfälschten Schätzung, weshalb zudem die unabhängigen Variablen auf Multikollinearität geprüft werden (Tab. 3, Online-Anhang). Alle Modelle wurden zudem zusätzlich mit robusten Standardfehlern spezifiziert. Da sich die Aussagen der Modelle nicht veränderten, werden die Modellschätzungen mit robusten Standardfehlern nicht angeführt.
Um nachzuvollziehen, ob der grundsätzliche Wunsch nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten als Gegenpart zum repräsentativen System zu interpretieren ist oder lediglich als Ergänzung (Gherghina und Pilet 2021), hilft zunächst die deskriptive Auseinandersetzung der Zustimmung zu Volksabstimmungen und BürgerInnenbeteiligung anhand der Zufriedenheit mit der Demokratie sowie der Zustimmung zu der Aussage, dass sich PolitikerInnen nicht für einfache Menschen interessieren, als Proxyvariable für politische Deprivation. Dies ist insofern von Bedeutung für den vorliegenden Beitrag, als dass dies die Interpretation der Ergebnisse beeinflusst: Auch wenn sich höhere Präferenzen bei Menschen mit einer Unzufriedenheit der Demokratie (Kontrollvariable) und Personen mit populistischen Haltungen zeigen, kann dies nicht als grundsätzliche Ablehnung der repräsentativen Demokratie interpretiert werden (Bowler et al. 2017; Werner und Jacobs 2021).
Die deskriptive Darstellung zeigt, dass die Zustimmung zu Volksabstimmungen und BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten insgesamt weitverbreitet und nur teilweise mit der Unzufriedenheit (Abb. 4) mit der Funktionsweise der Demokratie assoziiert ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich an der Zustimmung, dass sich PolitikerInnen nicht für die einfachen Menschen interessieren (Abb. 1, Online-Anhang). Insgesamt scheint der Wunsch nach mehr Beteiligungsmöglichkeiten auf Bundesebene höher zu sein als die Präferenz für das konkrete Instrument der Volksentscheide. Hier deutet sich an, dass der Wunsch nach mehr und direkteren Partizipationsmöglichkeiten nicht unbedingt als Gegenpol zum repräsentativen Verfahren interpretiert werden kann (Gherghina und Pilet 2021), da es nicht vornehmlich diejenigen sind, die sich politisch ausgeschlossen fühlen, die für direktere Verfahren plädieren.
Um sich dem Kernargument einer moderierenden Wirkung von nationaler Identifikation auf den Zusammenhang von populistischen Einstellungen und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren (H3) anzunähern, ist es zunächst wichtig, die Einzeleffekte von populistischen Einstellungen (H1) und nationaler Identifikation (H2) auf der Einstellungsebene nachzuweisen. Zeigt sich kein Einfluss der nationalen Identifikation oder populistischen Haltungen auf die Verfahrenspräferenz, muss auch die Hypothese 3 insgesamt infrage gestellt werden. Daher wird im ersten Analyseschritt der Effekt von populistischen Einstellungen auf die Zustimmung zu Volksabstimmungen als konkretes Instrument und insgesamt mehr BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten auf Bundesebene getestet.
Die Ergebnisse der Berechnungen sowie die Maße der Modellgüte sind in Tab. 1 (Online-Anhang) dargestellt. Der besseren Darstellung wegen werden im Text nur die Haupteffekte grafisch berichtet und die ausführlichen Ergebnisse im Anhang präsentiert. Die Modelle werden in einem zweiten Schritt um die Kontrollen erweitert. Beide Modelle sind signifikant und der Populismuseffekt ist in allen Modellen hoch signifikant (Tab. 1, Online-Anhang). Grundsätzlich zeigen die Koeffizienten in Modell 1b signifikant positive Koeffizienten für die Erfahrung mit Volksabstimmungen sowie die Unzufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland. Die geordnete logarithmische Quotenschätzung für Unzufriedenheit zeigt eine um 0,37 höhere logarithmierte Log-Quote für einer höhere Zustimmungskategorie für Volksentscheide gegenüber einer niedrigeren Kategorie. Für die Erfahrung mit Volksabstimmungen liegt die Quotenschätzung bei 0,49 gegenüber Personen, die keine Erfahrungen haben. Die Bildungsvariablen deuten auf eine niedrigere Log-Quote für niedrig Gebildete sowie höher gebildete Personen hin. Die Gütekriterien der Modelle zeigen eine insgesamt gute Anpassung und der Brant-Test deutet auf keine Verletzung der Proportional-Odds-Bedingung hin.
Die geordneten logarithmierten Quotenschätzungen von populistischen Einstellungen werden der besseren Interpretation wegen grafisch dargestellt und nur die Effekte für die Gruppen, die einen niedrigen Wert auf dem Summenindex für Populismus (2), einen mittleren Wert (3) und einen hohen Wert (5) aufweisen, abgebildet (Abb. 5). Die Grafik zeigt höhere Log-Quoten für Personen mit einem hohen Wert auf der Populismusskala, während sich für diejenigen Befragten mit einem niedrigeren Wert eine höhere Tendenz zu einer Ablehnung zeigt. Damit lässt sich für Personen mit höheren populistischen Einstellungen die Tendenz ablesen, dass eine höhere Präferenz für direkte BürgerInnenbeteiligung vorliegt. Die grafische Inspektion für die Zustimmung zu Volksabstimmungen zeigt ein ähnliches Bild (nicht dargestellt). Damit lässt sich insgesamt die H1 hinsichtlich der angenommenen Verknüpfung zwischen populistischen Einstellungen und der Präferenz für direktdemokratische Verfahren bestätigen, was weiten Teilen der einschlägigen Literatur entspricht (Zaslove et al. 2020; Heinisch und Wegscheider 2020; Jacobs et al. 2018; Mohrenberg et al. 2021). Um ein tieferes Verständnis über das genaue Zusammenspiel zu gewinnen, wird in einem weiteren Schritt der angenommene Einfluss der nationalen Identität (H2) überprüft.
Die Effekte von (individueller) nationaler Identifikation werden in den Modellen 3a, 3b sowie 4a und 4b (Tab. 1, Online-Anhang) entsprechend für die beiden abhängigen Variablen ohne und mit Kontrollen berechnet. Die grafische Darstellung in Abb. 6 zeigt die geschätzten Log-Quoten für die drei Gruppen nationaler Identifikation.
Die Ausprägungen der nationalen Identifikation weisen einzig in der höchsten Zustimmungskategorie von Volksabstimmungen eine signifikant größere Quotenschätzung auf (Gleiches zeigt sich bei BürgerInnenbeteiligungen; vgl. Tab. 1, Online-Anhang). Es lässt sich eine höhere Chance für Personen mit einer hohen nationalen Identifikation bezüglich der höheren Zustimmung zu Volksentscheiden ablesen. Es ist plausibel anzunehmen, dass insbesondere diejenigen Befragten, die eine hohe nationale Identifikation aufweisen, sich stärker emotional mit der In-Group – die in unterschiedlicher Weise markiert sein kann (ethnisch, kulturell, historisch oder die reine staatsbürgerliche Zugehörigkeit) – verbunden fühlen. Wenn mit dieser Gruppe gemeinsam geteilte Wert, Normen und (politische) Interessen assoziiert werden, wie es Theorien zur kollektiven Identität nahelegen (Jay et al. 2019; David und Bar-Tal 2009), dann ist es weiterhin naheliegend, dass sich eine hohe Zustimmung besonders bei denjenigen Personen zeigt, die eine hohe nationale Identifikation aufweisen, womit sich auch H2 bestätigt. Dennoch ist an dieser Stelle auf die eingeschränkte Operationalisierung von nationaler Identifikation hinzuweisen. Die Operationalisierung erfolgte über die Zustimmung zu den Aussagen, ob man mehr Mut zum Nationalstolz sowie zu Nationalgefühl haben solle. Da es sich bei beiden Items um Einstellungsvariablen handelt, wurden zudem Modelle mit der Frage nach der Verbundenheit zu Deutschland als Ganzem zur Kontrolle berechnet. Da sich aus allen Modellen die gleichen Aussagen ableiten lassen, werden diese nicht dargestellt. Dennoch deutet sich hier für weitere Untersuchungen die Notwendigkeit einer differenzierteren Untersuchung des mehrdimensionalen Konstrukts zur nationalen Identifikation an (Erhardt et al. 2021; Blank und Schmidt 2003). Der vorliegende Beitrag leistet insofern Vorschub, als dass die theoretische Diskussion zum Verhältnis von Populismus und Verfahrenspräferenzen erweitert wird und sich empirisch trotz der eingeschränkten Operationalisierung ein eigenständiger und signifikanter Effekt nachweisen lässt (Tab. 2, Modell 5a und 6a, Online-Anhang).
Im letzten Analyseschritt wird der in H3 vermutete moderierende Effekt der nationalen Identität auf populistische Einstellungen geprüft. Aus den theoretischen Ausführungen leitet sich die Annahme über einen gemeinsamen Effekt der nationalen Identität und populistischer Einstellungen auf die Präferenz für direktdemokratische Verfahren ab. Die Ergebnisse der OLR für die beiden abhängigen Variablen werden in Tab. 2 (Online-Anhang) ausgewiesen.
Zunächst zeigt sich, dass sich sowohl der Effekt von populistischen Einstellungen als auch der Effekt von nationaler Identifikation signifikant halten, bevor ein Interaktionsterm eingebunden wird (Modelle 5a und 6a). Dies spricht grundsätzlich für die diesem Beitrag zugrunde gelegte Annahme, dass es eine eigenständige Wirkung der nationalen Identifikation auf Verfahrenspräferenzen gibt. Der Interaktionskoeffizient für den gemeinsamen Effekt erweist sich jedoch als nicht signifikant. Die grafischen Darstellungen (Abb. 7 sowie Abb. 2, Online-Anhang) zeigen die Quotenschätzungen für die Gruppen von nationaler Identifikation, differenziert nach Ausprägung auf der Populismusskala (nur ganze Werte dargestellt), um ein genaueres Bild für den Effekt zu liefern. Die Annahme der H3 war, dass sich der Effekt von populistischen Einstellungen auf die Zustimmung zu Verfahren der direkten Demokratie insbesondere bei hoher nationaler Identifikation zeigen sollte. Dem entgegen zeigt sich kein Unterschied der Ausprägung nationaler Identifikation für Personen mit einem hohen Wert auf der Populismusskala. Bei Menschen mit geringeren populistischen Haltungen zeigt sich (für die möglichen Ausprägungen in der nationalen Identifikation) sogar eine geringere Zustimmungswahrscheinlichkeit. Personen mit niedrigen populistischen Haltungen stimmen bis zu einem gewissen Grad sowohl der diffusen Forderung nach mehr BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten (Abb. 2, Online-Anhang) als auch dem konkreten Instrument der Volksabstimmungen (Abb. 7) zu. Dies ist insofern interessant, als sich hier nochmals andeutet, dass sich die Präferenzen für direktdemokratische Verfahren nicht als Gegenentwurf zur repräsentativen Demokratie interpretieren lassen, sondern als ergänzendes Instrument, durch das sich BürgerInnen mehr politische Mitbestimmung wünschen.
Weiterhin ist auch spannend, dass Personen mit hohen populistischen Haltungen am stärksten für diese Verfahren plädieren. Das hier die Ausprägung der nationalen Identität nicht relevant zu sein scheint, kann Hinweis darauf geben, dass eine politisierte nationale Identität im Populismus selbst aufgeht und somit der Effekt überlagert wird. Zudem zeigt sich durchweg, dass Befragte, die Erfahrungen mit Volksabstimmungen gesammelt haben, dem Instrument auch signifikant positiv gegenüber eingestellt sind. Auch das ist ein grundsätzlich spannender Befund, der insbesondere in Ländervergleichen eine wichtige Variable darstellen könnte, wenn Kontexte mit fest implementierten Verfahren der direkten Demokratie einbezogen werden. Ebenso hält sich auch der Zusammenhang zwischen einer grundlegenden Unzufriedenheit mit der Demokratie, auch wenn in dem Item nicht deutlich ist, was genau Befragte darunter verstehen, und der Präferenz für Volksentscheide sowie grundsätzlich mehr Beteiligungsmöglichkeiten (Tab. 2, Online-Anhang). Ein hohes Bildungsniveau steht im umgekehrten Zusammenhang, was dem New-politics-Ansatz widerspricht.
Die Hypothese (H3) muss insgesamt verworfen werden, da sich nicht die erwartete Moderation zeigt. Dennoch lohnt es sich, diesem Zusammenspiel weiter nachzugehen, denn aus der Operationalisierung der nationalen Identifikation lässt sich nicht ablesen, ob Befragte hier eher eine enge (ethnische) Konnotation der nationalen Identität oder eine weitere (staatsbürgerliche) Interpretation im Sinn haben. Zudem ist es plausibel anzunehmen, dass eine kausale Betrachtung von nationaler Identität und populistischen Haltungen – insbesondere im Fall Deutschland, in dem der Rechtspopulismus noch recht jung ist – ein besseres Bild über dieses Zusammenspiel geben würde. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass erst durch den Rechtspopulismus die nationale Zugehörigkeit bei Befragten in das Zentrum des Interesses rückt (umgekehrte Wirkrichtung). Dem widerspricht andererseits das Ergebnis eines eigenständigen Effekts der nationalen Identifikation unter Kontrolle populistischer Einstellungen. Insgesamt wurde das Argument, weitere (sozial-)psychologische Determinanten in die Forschung zu Populismus und Verfahrenspräferenzen einzubeziehen, durch den vorliegenden Beitrag gestützt. Trotz der diskutierten methodischen Einschränkungen ließen sich die H1 und H2 bestätigen und obwohl die H3 verworfen wird, zeigen sich wichtige Ergebnisse, die weitere Untersuchungen rechtfertigen.
7 Fazit
Um den in jüngster Zeit wieder lauter werdenden Ruf nach direkter und unmittelbarer Mitbestimmung an der politischen Entscheidungsfindung zu erklären, konzentriert sich die aktuelle Debatte um Verfahrenspräferenzen besonders auf den Zusammenhang mit dem Populismus. Doch bleibt die genaue Beziehung zwischen Populismus und Verfahrenspräferenzen an vielen Stellen konturlos, denn wie genau auf Einstellungsebene populistische Einstellungen mit der Präferenz für direktdemokratische Verfahren verknüpft sind, bleibt weiterhin unklar. Ziel des Beitrags ist es, die Debatte um das Verhältnis zwischen Populismus und Präferenzen für direktdemokratische Verfahren um eine theoretische Perspektive zu erweitern. Dabei wird die Studie von der Frage geleitet, wie Präferenzen für direktdemokratische Verfahren mit populistischen Einstellungen und nationaler Identität verknüpft sind.
Auf Einstellungsebene wird angenommen, dass eine populistische Sicht auf den politischen Raum, in dem es eine (politische) Elite gibt, die den Interessen der „einfachen“ BürgerInnen entgegen handelt, mit der Präferenz für direkte Demokratie assoziiert sein sollte. Es wird weiter argumentiert, dass aus einer Erosion kollektiver Identitäten in der Moderne besonders die Rückbesinnung auf die nationale Zugehörigkeit an Bedeutung gewinnt. Die Orientierung an der nationalen Zugehörigkeit, die einem psychologischen Bedürfnis nach Identität entspringt, beeinflusst die individuelle Wahrnehmung der Bezugsgruppe als (vermeintlich) homogen hinsichtlich geteilter Merkmale, Anliegen und Interessen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Vorstellung über Repräsentation, so das Argument, denn werden die Mitglieder der Nation als homogen verstanden und damit auch deren (politische) Interessen, dann sollten damit Präferenzen für direktdemokratische Verfahren verknüpft sein, da diesen Verfahren der Gedanken der Durchsetzung der Mehrheitsmeinung zugrunde liegt. Somit sollte die nationale Identifikation auf individueller Ebene einen eigenständigen Effekt aufweisen.
Das Kernargument geht von einem gemeinsamen Effekt der nationalen Identität und populistischen Einstellungen auf die Verfahrenspräferenz aus. Insbesondere der Rechtspopulismus greift die Identitätsfrage auf und politisiert die nationale Identität, indem die Frage, wer Teil des Volkes ist, konkretisiert wird und antagonistische Fremdgruppen rhetorisch konstruiert werden. Die Folge der politisierten nationalen Identität ist die Übernahme der politischen Forderungen, wie der nach mehr direkter Demokratie. Somit sollten insbesondere Menschen mit einer hohen nationalen Identität und populistischen Einstellungen direktdemokratischen Verfahren positiv gegenüberstehen.
Aus den empirischen Analysen lässt sich eine Verknüpfung populistischer Einstellungen mit der Präferenz für Volksabstimmungen als konkretes Instrument sowie der Zustimmung zu grundsätzlich mehr BürgerInnenbeteiligungsmöglichkeiten nachweisen. Allerdings können diese Präferenzen nicht unbedingt als Gegenentwurf zur repräsentativen Demokratie gewertet werden, denn insgesamt zeigt sich in den deskriptiven Analysen eine hohe Zustimmung unter den Befragten, welche nur bedingt auf Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber RepräsentantInnen zurückzuführen sind. Ein genauerer Blick auf die Frage, ob Personen mit populistischen Einstellungen direktdemokratische Verfahren tatsächlich als Gegenpart begreifen oder sich letztlich nur mehr Gehör im politischen Prozess wünschen, könnte hier lohnenswert sein. Vor allem aber braucht es weitere Erklärungsansätze, die über die Lesart eines Wunsches nach einer Repräsentationsalternative im Sinne des Rechtspopulismus hinausgehen. Der vorliegende Beitrag bietet hier einen Ansatz über die Identitätsfrage an, doch könnten auch weitere Faktoren, wie soziales Vertrauen, die Rolle von Emotionen oder soziale Deprivation, wichtige Erkenntnisse liefern.
Bezüglich der Relevanz von nationaler Identität lässt sich, trotz der diskutierten Einschränkungen in der Operationalisierung, entsprechend der vorgebrachten Annahme ein eigenständiger Zusammenhang mit Verfahrenspräferenzen nachweisen. Besonders Personen mit einer ausgeprägten nationalen Identität zeigten hohe Zustimmungen zu direktdemokratischen Verfahren. Damit stützen die Analysen die theoretischen Annahmen und weisen auf die Bedeutung kollektiver Identitäten im Zusammenhang mit Verfahrenspräferenzen hin. Ein gemeinsamer Effekt von populistischen Haltungen und nationaler Identifikation ließ sich hingegen aus den Analysen nicht bestätigen.
Dies könnte mehrere Gründe haben: Zum einen wird auf die eingeschränkte Operationalisierung von nationaler Identität verwiesen, die hier an Einstellungsvariablen abgebildet wurde. Eine differenzierte Messung könnte in weiteren Untersuchungen zu genaueren Aussagen über das Zusammenspiel von Populismus und Verfahrenspräferenzen führen (Huddy 2001; Gustavsson und Stendahl 2020). Der vorliegende Beitrag hat dazu theoretische Argumente über die potenzielle Wirkung populistischer Einstellungen und nationaler Identität vorgelegt. Weiterhin ist bezüglich der Frage von Identitätswandel ein kausales Zusammenspiel denkbar, weshalb sich dieser Frage mit Längsschnittdaten eventuell besser angenähert werden kann. Denkbar ist zudem, dass der deutsche Fall bezüglich nationaler Identifikation aufgrund der Geschichte ein besonderer ist und hier die nationale Identität tendenziell negativ konnotiert und besonders mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Einstellungen verbunden wird (Mader 2016). Untersuchungen in anderen Länderkontexten, in denen das Konzept der nationalen Identität unterschiedliche Konnotationen hat, könnten zu anderen Ergebnissen führen. Vorstellbar ist zudem, dass eine politisierte Identität auch soziales Vertrauen innerhalb der Gruppe erzeugt, die interne Wirksamkeitsüberzeugung beeinflusst und die wahrgenommene Mehrheitsmeinung zu einem Thema eine Rolle spielt. Dies ist insbesondere für den Rechtspopulismus und den Anspruch, den „wahren Willen des Volkes“ zu vertreten, plausibel.
Insgesamt wird im vorliegenden Beitrag eine ergänzende Perspektive auf das Verhältnis zwischen Populismus und Verfahrenspräferenzen angeboten, woraus sich Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen dieses Zusammenspiels ableiten. Zudem weisen die Ergebnisse des Beitrags für Deutschland auf ein gesellschaftspolitisches Problem hin: Vereinnahmen rechtspopulistische Akteure den Begriff der nationalen Identität für sich und deuten diese in ein „wir“ gegen „die anderen“ um, dann birgt das nicht nur insgesamt die Gefahr, dass sich gesellschaftliche Konflikte zementieren und politische Institutionen an Legitimität verlieren, sondern auch dass potenziell fruchtbare Debatten über mehr direktdemokratische Verfahren zu rein instrumentellen und inhaltsleeren Forderungen verkümmern.
Notes
Der Volksbegriff ist, nach Laclau, als ein leerer Signifikant zu verstehen – wird demnach von populistischen Akteuren in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten unterschiedlich inhaltlich definiert. Der Gemeinwille ist an die für den Populismus zentrale Kategorie des „Volkes“ geknüpft und steht politischen Eliten, aber auch Minoritäten oder „Andersdenkenden“ antagonistisch gegenüber (Landwehr 2020, S. 102).
Beispielsweise fordert die AfD in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2021 die Durchsetzung bundesweiter Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild (Alternative für Deutschland 2021).
Dzur und Hendriks (2018, S. 335) plädieren für eine differenzierte Auseinandersetzung mit populistischen Bewegungen insgesamt und der Forderung nach direkter Demokratie. Letztlich gehe es um eine Neufassung des Verständnisses von Volksbeteiligung und ihrer Beziehung zur demokratischen Praxis. Bang und Marsh (2018) hingegen kritisieren dieses breite Verständnis eines „positiven“ Populismus.
Unter kollektiver Identität wird die kognitive Bedeutung der Bezugsgruppe sowie die emotionale Bindung an eben jene verstanden (van Zomeren et al. 2008).
David und Bar-Tal (2009, S. 358) unterscheiden zwischen kollektiver Identität und der Identifikation des Einzelnen. Die individuelle Identifikation wird als das Maß einer emotionalen Bindung an ein Kollektiv beschrieben und bildet die Voraussetzung für kollektive Identitäten. Daher wird hier für die individuelle Ebene der Begriff der Identifikation verwendet.
Der Rechtspopulismus mobilisiert verstärkt durch ethno-/nationale Hierarchisierung, also die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Mehrheit, während Linkspopulismus diejenigen Individuen versucht zu mobilisieren, die sowohl ökonomisch als auch ethnisch am Rand der Gesellschaft stehen (Obradović et al. 2020, S. 127).
Als Beispiel führen die Autoren die Identität als Frau und die Beteiligungswahrscheinlichkeit an kollektiven Handlungen (Protesten beispielsweise) an. Erst die (kognitive und emotionale) Identifikation mit einer feministischen Bewegung politisiert die ursprüngliche Identität und erzeugt auch eine intrinsische Verpflichtung zur Teilnahme an Protestaktivitäten.
Blühdorn und Butzlaff (2019, S. 203) sprechen hier von einer „Emanzipation zweiter Ordnung“ und einer progressiven Identitätsbildung, die letztlich das Verständnis von Repräsentation beeinflusst und den Wunsch nach politischer Selbstbestimmung hervorruft.
„Der Brant-Test vergleicht die geschätzten Beta-Koeffizienten von m − 1 binären logistischen Regressionen. Dabei wird für jede Schwelle eine logistische Regression durchgeführt. Man prüft anschließend die Signifikanz der Abweichungen anhand eines x2-verteilten Tests“ (Windzio 2013, S. 213).
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Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Claudia Landwehr für die wertvollen Hinweise und ihre Unterstützung. Ich bedanke mich außerdem bei Martin Gross, den zwei anonymen Gutachtern und der Redaktion der PVS für den kritischen Blick und die hilfreichen Anmerkungen.
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Der ergänzende Online-Anhang zu dem Artikel umfasst die tabellarische Darstellungen der im Artikel diskutierten Berechnungen mit den entsprechenden Gütemaßen, ergänzende Grafiken, eine Übersicht zu den verwendeten Variablen und der Recodierung sowie die Stata Syntax.
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Reinhardt, P. Identität, Populismus und direkte Demokratie. Zum Einfluss der nationalen Identität auf das Verhältnis von rechtspopulistischen Einstellungen und der Präferenz für direktdemokratische Entscheidungsverfahren. Polit Vierteljahresschr 64, 293–323 (2023). https://doi.org/10.1007/s11615-022-00439-x
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