In diesem Buch geht es um Gruppendynamik, um ein tieferes Verständnis dessen, was Gruppendynamik sein kann, welche Dynamiken und Phänomene in gruppendynamischen Trainingsgruppen (T-Gruppen) und in den Prozessen während eines gruppendynamischen Trainings ablaufen; ein Versuch, das Wesen gruppendynamischer Arbeit zu ergründen, in die tiefer liegenden Schichten gruppendynamischen Geschehens einzutauchen und das Jeweilige zu erfassen, mit dem Teilnehmende und Trainer:innen konfrontiert werden, sei es das Offensichtliche oder das Verborgene, das Erkundete oder das Unergründliche.

Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und analysiert, soll ein „reichhaltiges psycho-soziologisches Modell des gruppendynamischen Prozesses“ entwickelt werden (S. 191).

Die Verbindung der Psycho- und Soziodynamik verortet der Autor Andreas Amann unter anderem in dem sozial unbewussten Geschehen einer Gruppe: „Gruppen gewinnen ihre Identität, indem sie Differenzen bilden, die als Kategorien taugen und der eigenen kollektiven wie individuellen Identität einen Namen geben können, dem ich mich zugehörig fühle. Damit diese Kategorie ihre identitätsbildende Kraft, ihren Identitätsnutzen, bewahrt, muss der Akt dieser Kategorisierung selbst in seiner Motivation unbewusst bleiben. So ist im Kernprozess jeder Gruppenbildung das soziale Unbewusste eingelassen als Ideologie, die mit einer Distinktion operiert, ohne sie als kontingent und funktional kritisieren zu können“ (S. 198f).

Der formale Aufbau des Buches entspricht in groben Zügen dem Ablauf einer T‑Gruppe. Die dabei auftretenden Phänomene werden einer genauen Betrachtung unterzogen und jeweils theoretisch unterlegt sowie vor dem Hintergrund der hier postulierten gruppendynamischen Haltung argumentiert. Die Fundierung der Theorie des gruppendynamischen Raumes und der Elementardifferenzen nimmt einen zentralen Raum in dem Buch ein. Immer wieder – an entscheidenden Kernthemen (gruppendynamischer Raum, ödipale Triade, sozial Unbewusstes) – fügt der Autor Texte aus Originalschriften ein, die die Grundlagen für die Theorieentwicklung einer Gruppendynamik bilden.

In dem Buch spricht nicht nur der akademische und wissenschaftsorientierte Hintergrund des Autors, sondern auch die praktische Erfahrung als Gruppendynamiker und Trainer, die Verdichtung der dort gemachten Beobachtungen und Interpretationen aus der Praxis. Fast beiläufig wird erwähnt, dass sich die Informationen, auf die der Autor u. a. in dem Text zurückgreift, auf die Untersuchung und qualitativ empirische lückenlose Sequenzanalyse von mindestens zwei Trainingsgruppen beziehen, die jedoch im Rahmen dieser Publikation nicht näher ausgeführt werden.

In diesem Buch geht es nicht um gruppendynamischen Utilitarismus, um Gruppendynamik als Instrument in der praktischen Anwendung, sei es als Grundlage für Beratungstätigkeiten, als pädagogische Intervention, als Lernort für Demokratie, als Erfahrungsort für Diversity, als Instrument zur Verteidigung emanzipatorischen Gedankenguts. In diesem Buch wird eine Theorie der Gruppendynamik entfaltet, ein Modell, das den „puristischen“ Kosmos einer T‑Gruppe aufzuklären vermag. Die Theorie, die der Autor entwickelt, ist m. E. der zentrale Kern des Buches. Es ist der in der gruppendynamischen Praxis bekannte und in diversen Auflagen und Varianten verbreitete „Gruppendynamische Raum“, dessen Bedeutung in diesem Text theoretisch hergeleitet wird und zur Leitfigur des zentralen Prozessgeschehens erklärt wird: „Gruppendynamik ist ein Prozess der Entindividualisierung, in dessen Verlauf die Teilnehmenden auf dem Wege der Polarisierung, Entdifferenzierung, Kategorisierung und Stereotypisierung aus der durch die Gleichzeitigkeit der drei gruppendynamischen Konfliktdimensionen Zugehörigkeit, Macht und Intimität konstituierten Individualisierungslogik des Strukturproblems ausscheren“ (S. 218).

Strukturell wird der Text gerahmt durch zwei Kapitel: Eines am Beginn und eines am Ende des Buches. Zu dieser Rahmung gehört zum einen das Setting, zum anderen die Haltung. Das Rahmensetting bildet das sogenannte gruppendynamische Laboratorium, die Vorstrukturierung von Raum und Zeit. In Kapitel I/1 widmet sich der Autor dem Begriff und der wissenschaftlichen Bedeutung des Formats „Laboratorium“, das, strenggenommen, einem bestimmten Forschungsdesign und seinen Gütekriterien folgt. Gruppendynamische Labs folgen diesen Kriterien nicht. Ein T‑Gruppenprozess kann z. B. nicht wiederholt werden. In der T‑Gruppe beforscht die Gruppe sich selbst und die Prozesse, die in ihr ablaufen. Teilnehmende und Trainer:innen sind gleichzeitig Forschungsgegenstand und Forschende. Jede Aktion, einschließlich der Trainer:inneninterventionen ist Gegenstand von Reflexion und Analyse, jede Reflexion und Analyse ist selbst wiederum Gegenstand. Der Prozess bewegt sich iterativ und nicht hypothetisierend vorhersagbar. Der Widerspruch, dass es sich bei T‑Gruppen einerseits um eine „künstlich“ hergestellte Ausgangssituation handelt (vergleichbar mit einem Laborexperiment) und zum anderen die Prozesse, Kommunikationen, Emotionen, Reflexionen, u. a. m., die während einer T‑Gruppe von den Teilnehmenden hergestellt werden, real sind, formen eine Wirklichkeit, die, so die Erkenntnisse des Autors, nicht in der Welt außerhalb des Labs reproduziert werden können. Wie gruppendynamische Erlebnisse und Erfahrungen jeweils verarbeitet werden, bleibt kognitives und emotionales Eigentum der Teilnehmenden. An dieser Widerspruchslinie treffen Setting und Haltung aufeinander.

In dem Buch wird ausführlich und fundiert auf gruppendynamische Phänomene und gruppendynamisches Geschehen eingegangen. Nicht alle Aspekte der in dem Text verarbeiteten Themen können in dieser Rezension wiedergegeben werden. Der Schwerpunkt wird sich daher auf zwei zentrale Kernthemen konzentrieren: i) die Theorie zum gruppendynamischen Raum und ii) die Grundlagen eines gruppendynamischen Verständnisses und der daraus resultierenden Haltung.

Obwohl sich das Thema der gruppendynamischen Haltung und der damit verbundenen gruppendynamischen Trainer:inneninterventionen in allen Kapiteln des Buches wie ein roter Faden durchzieht, ist diesem in Teil IV ein eigenes Kapitel (10.4) gewidmet – der zweite Teil der oben genannten Rahmung. Der Autor nennt diesen Teil IV „Gruppendynamische Praxis“, wohl in Abgrenzung zur gruppendynamischen Theorie des Gruppendynamischen Raumes (Teil I, 5.4 und Teil II). Da, so eine der Kernaussagen des Buches, gruppendynamische Praxis auch immer gruppendynamische Forschung ist, so auch die Reflexion des gruppendynamischen Raums, ist die Trennung im Modus der Participatory Action Research (PAR) (z. B. Chevalier und Buckles 2013) oder der reflexiven Forschung (z. B. von Unger 2014) eben nicht trennscharf.

Die primäre Aufgabe einer T‑Gruppe besteht darin, ihre Vergemeinschaftungsprozesse zu gestalten und an ihrer Reflexionsfähigkeit zu arbeiten. Der Autor nennt diesen Prozess „reflexive Vergemeinschaftung“ (S. 162, 208 ff.): „T-Gruppen können sich einzig vergemeinschaften, indem sie den Prozess der eigenen Vergemeinschaftung zum Gegenstand der Vergemeinschaftung machen“ (S. 182).

Die Aufgabe der Trainer:innen hierbei ist es, den Gruppen mäeutisch den Weg zur Selbstbeforschung zu bahnen, das Unerwartete aufzugreifen, auf Irritationen mit unbeirrbarer Neugierde zu reagieren, Sympathien zu den eigenen Zweifeln zu entwickeln und entneurotisierend zu intervenieren, als eine angeeignete Gegenkraft gegen die affektive und kognitive Schwerkraft, der man in kritischen Momenten ausgesetzt ist, zu wirken.

Gruppendynamik ist Forschungspraxis, in ihr wird kollektives Wissen hergestellt (S. 232). Im „laboratorischen Moratorium“ (S. 233) wird der Forschungsraum gesichert. „Es gilt, Gruppendynamik als dialektische Einheit und nicht als Komplementarität von Forschung und Veränderung zu rekonstruieren“ (S. 234). Die daraus resultierende gruppendynamische Grundregel formuliert der Autor als die „unvoreingenommene Erforschung seiner selbst und der sozialen Situation“ (S. 235).

Mit der Theorie des Gruppendynamischen Raumes entwickelt der Autor quasi eine Metatheorie gruppendynamischer Phänomenologie. Hierbei greift der Autor hauptsächlich auf psychoanalytisches Gedankengut zurück und verbindet dieses mit soziologischen Erkenntnissen.

Die drei Differenzen: Macht, Intimität und Zugehörigkeit, „die den gruppendynamischen Raum in seiner Minimalstrukturiertheit auszeichnen“ (S. 76), sind Ausgangspunkt für weitere gruppenspezifische Leitdifferenzen. Um die Wirkung bzw. die Dynamik der Elementardifferenzen zu beschreiben, bezieht sich der Autor auf die Dynamik der ödipalen Triade, die ausführlich vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theorien in Kapitel II/7 argumentiert wird. Die Gleichzeitigkeit zweier Differenzen in dieser Triade: Elternpaar – Kind (Machtasymmetrie und Generationenunterschied) und Geschlecht (geschlechtlicher Beziehungswunsch: „Der Kern des Ödipuskomplexes ist die Erfahrung eines sozial induzierten Scheiterns“ (S. 135)) bestimmen die Dynamik in dieser Konstellation, die sich individualisierend auf die Teilnehmenden auswirkt. „Die vertikale Rivalität unter den Generationen wird gekreuzt mit der horizontalen Rivalität unter den Geschwistern“ (S. 143), also zwischen strukturell Differenten und strukturell Gleichen. Übertragen auf die Dynamik des gruppendynamischen Raumes würde dies nach Meinung des Autors Folgendes bedeuten: „Die Muster zur Lösung des gruppendynamischen Strukturproblems erwirbt man in der ödipalen Krise und in der präadoleszenten Peergruppe. In der ödipalen Krise bilden sich die Muster zur Gestaltung von Macht und Sexualität, während die Muster zum Erwerb von Zugehörigkeit in der präadoleszenten Peergroup entstehen“ (S. 149).

In einem späteren Kapitel III/9 geht der Autor nochmals auf diese Dynamik ein, wenn er gruppendynamische „Dramen“ (S. 212) auf die Gleichzeitigkeit der drei Dimensionen des gruppendynamischen Raumes zurückführt. Individualisierungsdynamiken des ödipalen Konfliktes und Vergemeinschaftungsdynamiken der präadoleszenten Peergroup treffen aufeinander. „Die so ausgelöste Dialektik von Vergemeinschaftung und Individualisierung ist der Motor des gruppendynamischen Prozesses“ (S. 212). Der Autor sieht in der widersprüchlichen Einheit von Vergemeinschaftung und Individualisierung den Kernprozess der Gruppendynamik (vgl. S. 219).

Mit dieser These unterscheidet sich das Theoriemodell des Autors von anderen, wenn auch ähnlichen dialektischen Aufhebungen (z. B. Pagès 1974; Lackner 2012), die den Widerspruch nicht als Einheit sehen, sondern in einer transzendentalen Synthese, wo sich die Vergemeinschaftung durch das Bewusstsein der Individualisierung (Differenzierung) aller entfaltet.

Ein weiterer Fokus des Buches führt in die ausführlich recherchierte Geschichte der Gruppendynamik und ihrer Anfänge (wobei, wenn eine diesbezügliche Anmerkung erlaubt ist, hauptsächlich amerikanische und deutsche Schriften zitiert werden; weniger Raum nehmen französische, schweizerische und österreichische Publikationen ein). Auch auf die Differenzierung in der sich aus der Gruppendynamik heraus entwickelten Formate, wie beispielsweise in I/2.3 wird eingegangen.

Die Kap. 3, 4 und 5 des Teil I beschreiben den Prozess einer T‑Gruppe. Im Vergleich zu anderen Teilen des Buches, die den Leser:innen mehr Denkleistungen abverlangen, liest sich dieser Teil entspannter, vor allem, wenn die Rezipient:innen selbst Gruppendynamiker:innen sind. Als ob man selbst dabei gewesen wäre, führt der Autor durch den T‑Gruppen-Prozess und erläutert dabei gruppendynamische Prinzipien, wie z. B. das Hier und Jetzt, die Strangergroup-Bildung, den Stuhlkreis, die Trainerpaarung, die normative Einhaltung der Struktur. Dabei geht der Autor von hauptsächlich in der deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik geltenden Normen aus, wie beispielsweise erkennbar an der Mann-Frau Konstellation bei der Trainer:innen-Besetzung oder dem Funktionsverständnis der Trainer:innen.

Der Widerspruch, dass Trainer:innen einerseits als Funktion am Gruppengeschehen teilnehmen und als solche mit ihren Interventionen die Gruppe zur Selbstbeforschung und Reflexion anregen, und dass Trainer:innen andererseits als Personen mit ihren ganz speziellen Wirkungen auf die Teilnehmenden und auf die Reflexionsprozesse Einfluss auf das Beziehungsgeflecht nehmen, wird vom Autor schwerpunktmäßig in Kapitel II/6 vor dem Hintergrund der Psychodynamik von Übertragungen aufgeklärt.

Gruppendynamik ist konservativ, sowohl was das Setting als auch was Theoriemodelle betrifft. Wenig wird an bestehenden Formaten geändert, bei erklärenden Theoriemodellen greift man auf Bewährtes zurück, ohne zu überlegen, ob diese Modelle noch zeitgemäß sind oder theoretisch falsifiziert werden müssten. Erfreulich ist, dass in diesem Buch an drei Stellen solche „Missverständnisse“ aufgeklärt werden können.

  1. 1.

    Die Rollentheorie: Im Vergemeinschaftungsprozess stellen die Teilnehmenden diffuse Beziehungen zueinander her, die erst durch den Selbstbeforschungsprozess aufgeklärt werden müssen. Die „Intimisierung der Beziehungen“ (S. 154) stellt ein emotional verdichtetes Binnenklima her. „Und es ist genau diese Nähe, die es verunmöglicht, das gruppendynamische Geschehen in seiner affektiven Intensität mit rollentheoretischen Modellen zu erklären“ (S. 154).

  2. 2.

    Phasentheorien: Phasenmodelle dienen der Komplexitätsreduktion und behindern das Soziale einer Gruppe in seiner Eigenlogik. „Das Soziale einer Gruppe in seiner Eigenlogik droht dabei zwischen den Phasen zerrieben zu werden“ (S. 96). Phasenmodelle tendieren dazu, „Gruppendynamik in Gruppenhydraulik zu verwandeln“ (S. 96). Außerdem präokupiert der Fokus auf Phasen die unvoreingenommene Sicht auf den Gruppenprozess.

  3. 3.

    Simplifizierung: Bei strukturell und/oder interventionstechnischen Versuchen, den Gruppenprozess zu vereinfachen, verliert die Gruppe die Möglichkeit, selbstforschend sowohl den fokalen als auch den Kernkonflikten auf den Grund zu gehen.

Teil IV des Buches fasst die zentralen Thesen und Gedanken des Buches noch einmal konzise zusammen. Die Bezeichnung „Praxis“ dieses Teils betrifft eigentlich nur das Unterkapitel 10.4. Für Leser:innen könnte es hilfreich sein, sich diesem Kapitel zuerst zu widmen, quasi als vorbereitende Einstimmung auf das Buch.

Wer sich durch den Titel verführen lässt und meint, ein gruppendynamisches Narrativ vorzufinden, in T‑Gruppen-Geschichten einzutauchen, wird wohl eines Besseren belehrt werden. Der Text ist komplex, theoretisch und theoriebildend. Der Autor bedient sich einer elaborierten Sprache und kreativen Ausdrucksformen. Wer nicht über eine Affinität zu Xenismus und Fremdsprachen verfügt, sollte sich vielleicht mit einem Fremdwörterbuch ausstatten.

Die variable Genderschreibweise erweist sich beim Lesen oftmals als verwirrend, da es in einzelnen Kapiteln um die genaue Geschlechtertrennung geht und die gegenderte Schreibweise nach dem Zufallsprinzip missverständlich ist (z. B. wenn von männlichen Teilnehmenden die Rede ist, die als Teilnehmerinnen benannt werden).

Zusammengefasst: Es handelt sich bei diesem Buch um ein Werk, das grundlegend für gruppendynamische Arbeit ist; sowohl in der Praxis als auch in der Theorie. Es trägt sowohl zur Akademisierung der Gruppendynamik als auch zur Klärung der gruppendynamischen Praxis bei. Es sollte verpflichtende Lektüre für all jene sein, die sich professionell mit Gruppendynamik beschäftigen und in diesem Feld arbeiten.